Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân ihre Weisheit unter Beweis stellen.

Die erste Jungfrau tritt zurück, die zweite tritt  vor und gibt anekdotenhaft Lebensweisheiten zum Besten:

Der weise Lokmân 80 sprach zu seinem Sohne: "Drei Menschen gibt es, die sich nur in drei verschiedenen Lagen erkennen lassen: den Gütigen erkennst du nur im Zorne, den Tapfern nur in der Schlacht und deinen Freund nur in der Not."

Dies ist natürlich doppelt zu verstehen: Als Hinweis auf Menschenkenntnis, aber auch als Aufforderung zur Tugend. Und dies in mehrfacher Hinsicht:

  • Lokmân an seinen Sohn

  • die zweite hochbrüstige Jungfrau an König Omar ibn en-Nu’mân

  • Wesir Dandân an Dau el-Makân (warum sonst sollte er all dies so detailliert erzählen?)

  • Schehrezâd an König Schehrijâr

  • der durch die Erzählform versteckte Erzähler an den Leser oder Zuhörer

  • Dan Richter an den Leser dieses Blogs

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Sie zitiert Kais 80a

Ich bin von allen Menschen am fernsten doch dem Heuchler,
der andere irren sieht und kennt doch den Weg selber nicht.
Reichtum und Geistesgaben sind ja nur ein Darlehn:
Was jeder im Herzen verbirgt, stehet ihm im Gesicht.
Gehst du in eine Sache von falscher Seite hinein,
so irrst du. Doch gehst du recht, trittst du zur rechten Türe ein.

Die letzten beiden Zeilen wieder ein Beispiel für die enge Tautologie, in der sich die primitive Ethik bewegt: Das falsche ist falsch, das richtige ist richtig.

Thâbit el-Bunani 80b weinte, bis er fast das Augenlicht verlor. Man brachte ihn aber zu einem Manne, der ihn heilen sollte, und der sprach: "Ich werde dich heilen unter der Bedingung, dass du mir gehorchst." Da fragte Thâbit: "Worin?" Der Arzt erwiderte: "Darin, dass du nicht mehr weinst!" "Was soll ich mit meinen Augen", antwortete Thâbit, "wenn sie nicht weinen?"

Gut 1.200 Jahre später baut ein Herr de Saint Exupery einen ähnlichen Gedanken in seine Geschichte "Der kleine Prinz" ein: "Man sieht nur mit dem Herzen gut."

 

80 Leben und Wirken von Lokmân gelten als umstritten. Beansprucht wird er in türkischen und arabischen Traditionen, und es ranken sich eine Reihe Legenden um ihn. Die ihm zugeschriebenen Fabeln sind offenbar eine Abwandlung der Fabeln von Äsop. Ob diese Bearbeitung aber von ihm stammen, durch mündliche Überlieferung oder durch christliche Bearbeitung, ist unklar.

80a Ich vermute, gemeint ist der vor-islamische arabische Dichter Amru al-Kais (6. Jh. n.Chr.).

80b Nach islamischer Tradition: Ein Weiser und Frommer, der 748 n.Chr. starb.

80. Nacht
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