Mo, 14.8.06

Jochen versucht, Kathrin Passig als Gast in die Chaussee zu lotsen, was sich schwierig gestaltet, da wir einerseits immer nur Gäste haben, wenn sie einen von uns vertreten, andererseits will jeder Kathrin Passig erleben.

Schwanke, ob ich aus der BÖ austreten soll oder häufigere Proben vorschlage. Entscheide ich (noch) für Zweiteres. Skizziere ein Format für eine improvisierte Musik-Show. Das Problem bei so etwas ist, dass die große Strukturalisierung und Formalisierung solcher Shows und Formate den Improgedanken etwas in den Hintergrund treten lassen.
Abends 9 km Tempolauf.

*

Jochen notiert Familiengeschichten über die Flucht (mütterlicher- oder väterlicherseits?). Davon gibt es bei uns keine. Mein Vater floh als Dreijähriger aus dem östlichen Teil Görlitz’. Da lebte seine Mutter schon nicht mehr. Er selbst hat nur vage Erinnerungen an eine Explosion auf einem Bahnhof.

Man erinnert sich besser an Gesichter aus der Kindheit als an das der Geliebten, und zwar je mehr man sich auf sie zu konzentrieren versucht. Der Mona-Lisa-Effekt: Man sieht das Lächeln nur, wenn man nicht darauf fokussiert. Betrachtet man den und genauer, wirkt er nicht gerade lächelnd.

J.S.: Unsere Defizite sind unsere größte Ressource.

***

Di, 15.8.06

Bestellungen bei Amazon:

  • Kari Hotakainen: "Buster Keaton. Leben und Werke." – Etikettenschwindel, wie sich später zeigt.

  • Alan Wykes: "Reichsführer SS Himmler." – Etwas zu locker-flockig für meinen Geschmack.

  • Sanford Meisner: "Sanford Meisner on Acting" – Ich vertiefe mich.

  • Edward Dwight Easty: "On Method Acting" – Schöne Einblicke und Details

  • Anne Bogart: "The Viewpoints Book: A Practical Guide to Viewpoints and Composition" – Öffnet Türen und Welten.

Lauf 9km
Verkaufe  Fernseher und den Videorekorder – beides vor fünf Jahren bei Ebay gekauft und so gut wie nie verwendet – bei Ebay.
M. ist es seltsamerweise nicht peinlich, mir Werbe-Mail für ihr Buch zu schicken.

*

Jochen in der Bahn nach "Alt-Lipchen". Wenn einem, wie zu Prousts Zeiten die Stellung ansehbar wäre, würde es genügen, ein Passfoto einzureichen.
Vielleicht liegen deshalb die typischen Hochstaplerromane und -streiche in jener Zeit: Kellers "Kleider machen Leute" bis Hauptmann von Köpenick. Manns "Krull" wirkt schon etwas antiquiert. Und dass jemand wie Gert Postel es in den 90ern noch schaffte, lag sicherlich vor allem an dem verstaubten Hierarchieverhalten in Krankenhäusern.
Jochen meint, man könne sich nur durch verschiedene Arten, die Zigarette zu halten, distinguieren. Ich sollte ein Video drehen: "Hundertzweiundzwanzig Arten, eine Zigarette zu halten." Leider bin trockener Raucher.
So konsequent naiv liest er Proust denn doch nicht. Albertine würde "ganz am Rande" eingeführt. Woher weiß er, dass sie noch eine wichtige Rolle spielen wird? Aus Proust-Essays? Es entmutigt: Was muss man über Proust wissen, wenn man "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lesen will?

***

Mi, 16.8.06

Improtheater, sagt Randy Dixon, ist wie Rückwärtsgehen, man ist im Moment und behält dennoch alles im Blick, was geschehen ist. Die Aymara in den Anden deuten, wenn sie von der Vergangenheit sprechen, nach vorn. Die Zukunft liegt für sie im Rücken. Man kann die Zukunft nicht kennen.
Mail von K., dessen seltenen Familiennamen ich in einer fiktiven im Salbader online veröffentlichten Kurzgeschichte verwendet habe. Er bittet mich, das zu ändern. Ich halte den Wunsch für absurd, aber warum soll man nicht jemandem einen Gefallen tun? Bitte den Redakteur und den Administrator um eine kleine Änderung, die dies zum Anlass nehmen, dem armen Teenager Grundsatzreferate zu schreiben.
Ersteigere bei Ebay von Robert Butler "Die Gestapo". Noch ein Nazibuch. Steffi findet es abtörnend, wenn mich morgens der Postbote klingelt, um ein Buchpäckchen abzugeben, und uns nach dem Öffnen des Päckchens Gestapofressen vom Cover anglotzen.
Am Nachmittag klingelt Frau G. an der Tür, ich überreiche ihr ihr Paket. Sie fragt mich, ob ich noch lange hier wohnen bleibe. Es entspinnt sich ein 20minütiges Gespräch. Ich stehe ihr mit meinem stinkenden Lauf-T-Shirt gegenüber, dass ich mir in der Eile übergeworfen hatte. Sie sagt, dass sie wegen der guten Verkehrsanbindung nicht wegziehen wolle. Im Osten wäre alles noch einfacher gewesen, da habe man kurz vor den Wahlen eine Eingabe geschrieben, das habe dann meistens geholfen. Heute brauche man Geld.

*

Jochen kann es nicht ertragen, dass seine Tochter "Die Raupe Nimmersatt" dem "Angsthasen" vorzieht. "Wie der Erbe eines Firmenimperiums, der die Tradition des Hauses aufgibt, um stattdessen Tanzkritiker zu werden." Meint der Autor Jochen Schmidt hier den Tanzkritiker Jochen Schmidt?

M.P.: "Man muss zu dem Schluss kommen, dass eine solche Unterwerfung (gemeint ist die intellektuelle Unterwerfung Swanns unter Odettes Ignoranz) der Elite unter die Gewöhnlichkeit in vielen Ehen die Regel ist.

***

Do, 17.8.06

10km-Lauf.
Rekordverdächtige Besucherzahlen bei Chaussee. Eine so gute Show, dass niemand von den Zuschauern das interne Knistern bemerkt.

*

J.S.: "Der männliche Körper lässt sich zum Glück durch Sport beliebig verschönern."

M.P.: "Wenn die Wirklichkeit sich genau nach dem formt, was wir so lange geträumt haben und sich vollkommen damit deckt, ergibt sich zweifellos, daß sie uns die Formen ebenjenes Traums verbirgt und sich mit ihnen verbindet wie zwei ganz gleiche aufeinandergelegte Figuren, die nur noch eine bilden, während wir, damit unsere Freude ihren vollen Sinn bekäme, gern sähen, daß unser Wunschbild an allen Punkten in dem Augenblick, so wir daran rühren wollen – um ganz sicher zu sein, daß es das richtige ist -, die Eigenschaft des Ungreifbaren behält."

***

Fr, 18.8.06

Ich schicke einen Text an den Salbader. Vorerst zum letzten Mal.
Der Tag wird aufgefressen von der Dispo fürs Kantinenlesen.

*

Jochen schummelt neuere Gedanken ins Buch, die im Blog nicht vorkamen: Die Missverständnisse zu "Kings of Queens" und "Königs WURSTERhausen". Das Buch wird dadurch nicht schlechter.

Über Journalisten, die das Wahre, Authentische des Autors hervorzerren wollen.
Ich breche inzwischen Interviews so schnell und höflich wie möglich ab, wenn eine der Fragen lautet: "Kann man sagen, Sie sind ein …?" Billiger Journalismus will andauernd etikettieren. Die Ekligsten unter den Billigjournalisten wollen auch noch, dass man sich deren klebrige, selbstgebastelten Etiketten selber anpappt.
Das Interview von Gottschalk mit Kinski bei "Na sowas!" wurde berühmt, weil Kinski mal nicht ausgerastet ist. Wenn ich Kinskis Ausbrüche oft nicht verstanden habe, hier hätte ich es ihm verziehen. Gottschalk schon damals schmierig antatschend und tarnt Belanglosigkeiten als Fragen, auf die es keine Antworten gibt: "Sie sind also kein von sich aus stressiger Mensch?" Oder komplette Doofheiten: "Wir Deutschen sind ja auf unsere paar internationalen Stars stolz."

 

Sa, 19.8.06

Kann mich nicht zum Laufen überwinden.
Entdecke Brookers bei Youtube. Meine Befürchtung, dass sie ihr verrücktes Charisma eines Tages amerikanisch eindampfen lässt, soll sich noch bestätigen, aber sie kehrt zurück zu den Wurzeln.
Wenn ich schon unmotiviert bin, will ich doch wenigstens verstehen, was man an Ballerspielen wie Unreal Tournament gutfinden kann. Lade eine Demoversion runter und komme damit nicht klar.
Beim Kantinenlesen singe ich Mozart – ein kleines Sakrileg, etwas Fremdes vorzutragen. Aber einmal pro Jahr darf man es sich herausnehmen, vor allem im Mozartjahr, besonders wenn es mit meinen Mozartanekdoten verknüpft ist.
Gespräch im "Schusterjungen": Thomas Mann schrieb jeden Morgen 1,5 Stunden. Am Nachmittag nahm er sich dieselbe Zeit, um das Geschriebene zu korrigieren. Allgemeine Faszination, vermutlich weil es so plausibel und gleichzeitig unaufwendig klingt – das gigantische Werk Manns haben alle im Hinterkopf. S. meint, ab September täte er das auch. Bin skeptisch: S. ist ein Wenigschreiber.

*

Jochen joggt 2 Stunden in "Alt-Lipchen".
Auch er unmotiviert, aber eher was Proust betrifft, da er einen negativen Kommentar im Blog erhalten hat.
Marcel dramaturgisiert Dialoge, "die den Swanns hätten gefallen können." Vielleicht eine Phase, durch die jeder Jugendliche durch muss, bevor er in der Lage ist, sich in Gesprächen zu öffnen?

***

20.8.06

Joggen nach Mariendorf. Auf der Hälfte der Strecke ein dringendes Bedürfnis. Kein Restaurant o.ä. in der Nähe, wo ich auf die Toilette könnte. Schlage mich ins Gebüsch und behelfe mir mit einem Teil des kopierten Stadtplans, den ich dabeihabe, um mir den Weg durch die unbekannten Teile Westberlins zu bahnen.
Am Abend Improshow von Kollegen. Ich versuche, nicht mit Lob zu geizen.

*

Untersuchung von Details des Hauses in "Alt-Lipchen": "Jedes Detail am Haus ist eine Lösung für ein Wohnproblem, das sich früher einmal gestellt hat, und auch, wenn man es nicht mehr kennt, weil die Erbauer des Hauses nicht mehr leben, muss man die Lösung respektieren.

"Jeder Besuch, den ich Madame Swann machte, ohne Gilberte zu sehen, war grausam für mich, aber ich fühlte, dass er um ebensoviel das Bild verschönte, dass Gilberte von mir in ihrer Vorstellung trug."

***

Mo, 21.8.06

Frühstück in Steffis WG besteht immer aus Toast, was mich unbefriedigt lässt.
Mein PC hat einen Virus. Alle Versuche, das Problem zu lösen, scheinen es zu verschlimmern.
Mail von Jochen, er wolle unter den schwierigen Umständen, die die Radio-Eins-Party bereitet, nicht auftreten, bereitet mir physische Schmerzen. Warum, weiß ich heute nicht mehr.
Abends sehe ich, nachdem ich mir nun jeden Tag eine halbe Stunde davon angetan habe, den Rest des langweiligen "Signs" von Shyamalan. Frage mich, wie es sein kann, dass jemand einerseits so eine Grütze, dann aber wiederum Meiserwerke wie "Sixth Sense" und "Village" erschafft. Am Ende tauchen auch noch die Außerirdischen auf, und die sehen aus, als hätte man ihr Design einem polnischen Karnevalsverein überlassen.

*

J.S.: "Wie Thomas Mann mit sechs Kindern so dicke Bücher schreiben konnte, ist mir ein Rätsel." Er laboriert also an derselben Frage wie wir vor zwei Tagen im Schusterjungen. Aber bei ihm bin ich optimistisch – er könnte auch schreiben, wenn er als Kindergärtner arbeiten müsste.

***

Di, 22.8.06

Bei den Surfpoeten wird Rauchverbot eingeführt. (Ein halbes Jahr später wird bei Stein Lungenkrebs diagnostiziert.)
Magazin Neon. Ein Ableger vom Stern über einige meiner aktuellen Themen: Paarurlaub und Kritikfähigkeit. Über beides nur Binsenweisheiten. Häppchenjournalismus für BWL-Erstsemestermädchen.

*

J.S.: Almodovar muss sich nicht von Franco distanzieren, wenn seine Filme in der spanischen Provinz der 70er Jahre spielen. Aber uns haut man jede Kindheitsgeschichte als DDR-Nostalgie um die Ohren.

An etwas anderes als an die Geliebte zu denken, sind für Marcel: "Terraingewinne der Liebe gegenüber."

14.8.-22.8.06
Markiert in:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert