Di, 26.12.06

Der 76jährige H. tut sich schwer damit, überhaupt noch ab und zu aus dem Haus zu gehen, alles ist anstrengend und er wägt ab, ob die Mühe lohnt. Aber jedes Jahr im Juni macht er sich auf den Weg zu seinem alten Stamm-Restaurant und reserviert einen großen Tisch für die Familienfeier. Man traut sich nicht, ihm zu sagen, dass er das auch telefonisch erledigen könnte.
Ich verschiebe Schränke, sortiere Bücher, schaffe Platz, so dass ich wenigstens ein bisschen tippen kann.

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Jochens weihnachtliche Gedanken zum Alleinsein: "alle Vorteile [bei den Eltern ausgezogen zu sein] haben sich verflüchtigt, es bleibt nur die hohe Miete und die abendliche Einsamkeit. Der Wechsel zwischen Gesellschaft und Alleinsein fällt schwer…"
Sich beim Zusammenleben das Alleinsein wiederzuerkämpfen, ohne asozial zu wirken, kann aber auch ein Kampf sein.
Erinnerungen an die traurige Geschichte von Bertrand Cantat und Marie Trintignant, die einem Roman zu entstammen scheint: Das Düsterste des Menschen schlägt ein, wo man Hoffnung, Schönheit, Liebe erwartete. Wer wird das erklären können? Wer kann da getröstet werden? Das Dunkle, das sich nicht externalisieren lässt, das sich nicht abstreiten lässt. Wer kann hier noch Demut vor dem Schicksal haben?

M.P.: "Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart durcheinandergewirrt, daß die Sache, die man im Sinne hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überallhin hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer Seifenreklame machen."
J.S. dazu mit einem Satz, der sich nicht im Blog findet: "Es gibt also keinen würdigeren Gegenstand für einen Künstler, es kommt allein auf seinen inneren Reichtum an."
Und dieser Reichtum ist nicht eine Frage der Menge, sondern der Fähigkeit zu verknüpfen.

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Mi, 27.12.06

Völlig übermüdet weckt mich meine biologische Uhr schon wieder um 7 Uhr morgens. Eine Stunde später sagt mir die mechanische, dass es Zeit sei, aufzustehen. Wie immer, wenn ich so früh raus muss (was eigentlich nur noch der Fall ist, wenn ich verreise), bin ich fast unfähig, meine Bewegungen zu koordinieren. Jeder Gang zwei Mal. Heute alles noch schlimmer wegen der ungewohnten Umgebung.
Lese im Bus das amnesty-Journal und werde nach einer Weile von zwei Leuten angepflaumt, ich solle anders sitzen. Nicht, dass ich nicht trotz meiner überaus langen Beine dazu bereit wäre, aber die Unfähigkeit der Mitreisenden, so etwas freundlich zu formulieren, ist frappant. Diesen Bus, so weiß ich jetzt schon, werde ich noch oft benutzen müssen. Meine Beine werden im Übrigen nicht kürzer, aber die Hoffnung, dass sich öffentliche Verkehrmittel, insbesondere Flugzeuge da etwas anderes einfallen lassen werden, ist beschränkt. Sitze in Flugzeugen werden für 90% der Menschen gebaut: 5% der Frauen sind kleiner als 1,58m und 5% der Männer sind größer als 1,89m. Ich bin aber nicht nur größer als 1,89, sondern ich habe eben auch noch lange Beine. Ich bin eigentlich ein Sitz-Zwerg. Von meinen 1,90 Metern Körpergröße sind anderthalb Meter Bein. Der einzige Mensch auf der Welt, dem das ähnlich ging wie mir, war John Wayne, für dessen Malaise die legendäre Band Haysi Fantayzee extra ein Lied schrieb, das mir seit vielen Jahren als Trost dient.

Nach fünf Minuten ist der Ärger vorbei. Acht Umzugshelfer bei Steffi, von denen aber nur drei Leute Dinge schleppen können, die schwerer sind als ein Kissen. Auch eine Version umzuziehen. Bei mir stand der praktische Uli auf der Laderampe der Robbe und ärgerte sich über die unpraktisch hochgereichten Möbelstücke. Hier ist es die ungeschickte T., die alles nach Mädchenästhetik-Prinzipien zu verteilen scheint.
Am Ende ist die Wohnung vollständig zugestellt. Ich weihe die Badewanne ein.
Am Abend auch noch Impro-Auftritt. Aus einem Harold zum Thema "Weltrettung" machen wir Weltuntergangs-Szenen. Wer will es uns nach diesem physisch und nervlich erschöpfenden Tag verübeln?

Im wöchentlichen Newsletter empfehlenswerter und kurioser Veranstaltungen wird für die Silvester-Show der Reformbühne Ebony Browne angekündigt, die schwerkrank nach Oregon abgereist ist. [Nachtrag 2008: Einen Monat später ist Ebony Browne verstorben.]

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Nun wurde Jochen also vom Goethe-Institut nach Sofia eingeladen, wohin er 1999 das erste Mal reiste, als ich die auslotete, ob man eine Lesebühne im Friedrichshain gründen könnte.
Und nun? "Wollte ich Steffka oder ihr Land? Was macht man, wenn man das Land weiterliebt, aber mit der Frau nicht auskommt? Ich hatte auch immer Angst, in Wirklichkeit dieser Piroschka-Romantik anzuhängen."
Piroschka? War das nicht Ungarn? Oder spielt er auf den Inhalt an – der ältere Schriftsteller denkt an die Jugendromanze?

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J.S./M.P.: "Was eine neue Frau ihm alles bieten müßte! Nämlich genau dasselbe wie Albertine: einen trauten Schwesterkuß am Abend, ein zu starkes Parfüm, sie müßte im Spiel ihre Wimpern mit seinen vermischen, ihm Musik von Vinteuil vorspielen und mit ihm über Elstir und die Memoiren Saint-Simons reden. Denn die Erinnerung ist ohnmächtig, ‘etwas anderes, sogar Besseres zu verlangen als das, was wir besessen haben…’"
Natürlich geht es wieder ums Besitzen. Dabei hat er sie ja nie "besessen". Und Erlösung fände er ohnehin erst, wenn er sich in eine Frau verliebte, die Albertine überhaupt nicht gliche, abgesehen davon, dass wir uns ja immer noch fragen müssen, ob er zu Liebe überhaupt fähig ist.

26.-27.12.06
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2 Kommentare zu „26.-27.12.06

  • 2008-12-26 um 21:47 Uhr
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    Mal eine Verständnisfrage. Hab ja auch den ersten Eintrag gelesen, aber hast du damals, 2006, weitsichtigerweise gleich etwas akribischer Tagebuch geführt, sodass du heute noch so lebendig davon erzählen kannst, was du an diesen Tagen getan/erlebt hast?

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