Charna Halpern: Art by Committee. "A Guide to Advanced Improvisation"

Charna Halpern, die Partnerin des legendären Impro-Guru Del Close und selber eine vielgerühmte Lehrerin des Improvisationstheaters verfasste bereits – gemeinsam mit Howard Johnson – "Truth in Comedy", die praktischen Grundlagen des Impro-Collage-Formats Harold.

Del Close auf dem Sterbebett zu seiner Frau: "… und sag ihnen, dass wir erreicht haben, woran anderen scheiterten. Wir haben ein "Theater des Herzens" geschaffen – ein Theater, wo die Menschen einander wertschätzen, um auf der Bühne erfolgreich zu sein. Sag es den Schülern: Theater des Herzens.

Einführung

Del Close verließ das traditionsreiche, berühmte Second City Theater, um Improvisationstheater zu einer neuen Stufe der Kunst zu führen.
Auf der Suche nach einer Form, in der eine größere Gruppe einerseits als Gruppe funktioniert, andererseits die individuellen Fähigkeiten nicht verlorengehen, wurde das freie Format Harold erschaffen. Umgekehrt gesprochen: Es lebt vom Einsatz des Einzelnen und dem Zusammenspiel der gesamten Gruppe.
Auf Schauspiel im Sinne von Figuren wird weniger wert gelegt als auf Authentizität.
Die Spieler lernen voneinander wie gute Musiker.

1. Der neue Harold

Dels Prinzipien Allgemeine Prinzipien des Harolds
1. Jeder Schauspieler unterstützt die anderen.
2. Nimm deine Impulse wahr.
3. Betritt nie eine Szene, wenn du nicht gebraucht wirst.
4. Rette deine Mitspieler, kümmere dich nicht ums Stück.
5. Deine oberste Verantwortlichkeit ist Unterstützung.
6. Nutze deinen Verstand. Immer.
7. Du sollst dein Publikum nie unterschätzen oder verachten.
8. Keine Witze.
9. Hab Vertrauen.
– Vertraue deinen Mitspielern, dass sie dich unterstützen.
– Vertraue dir selbst.
10. Bewerte nichts, außer, wann deine Unterstützung gebraucht wird (als Schauspieler oder als Cutter).
11. Hör zu!

3. Monologe

Wahre Monologe eröffnen uns ein großes Feld für wahrhaftige Szenen, wobei es natürlich nicht darum geht, den Monolog nachzuspielen, sondern die Bedeutungsebene zu nutzen und die Gedanken szenisch zu bestätigen, zu widerlegen oder zu transzendieren.

4. Was macht einen Improvisierer gut

Gute Improvisierer hören nie auf zu lernen. Jedes Wissen ist brauchbar, sei es Mathematik, Politik oder ein Kochrezept.
(Schön, diesen Gedanken aus berufenem Munde zu hören. Ich sagte es meinen Schülern immer wieder: Nutzt euer Wissen. Eine Spielerin war so von einem Komplex geprägt, ungebildet zu sein, dass sie übersah, dass sie selbst ein abgeschlossenes Universitäts-Studium hinter sich hatte, einen ungeheuren Lebenserfahrungsschatz, eine ausgebildete Handwerkerin war, und als Sportlerin nicht nur erfolgreich war, sondern auch Jugendliche trainierte. All das schien nicht zu zählen. Wenn sie mit dem Wissen anderer konfrontiert wurde, hielt sie sich wieder für dumm. Der Trick ist jedoch, Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit zu behalten und sich letztlich für alles zu interessieren.
Sage auf der Bühne irgendetwas, das du weißt oder diese Woche gelernt hast. Das Publikum wird es schätzen. – DR)

Lies täglich die Zeitung. Bleib auf dem Laufenden. Lies Klassiker.
Wenn du nichts zu sagen hast, worüber kann man dann noch lustiges Theater machen?
Halpern lobt ausführlich auch die von mir geschätzten TJ & Dave: "In ihrer Show haben sie alles thematisiert, von Politik über Philosophie bis zu Geometrie. Sie bringen eine Intelligenz in die Show, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert. Wir müssen auf der Bühne mehr zu sagen haben als ‘Du hast mir meine Freundin ausgespannt.’ oder "Sie haben die letzte Miete nicht bezahlt.’ Del lehrte uns, Gemeinplätze und Allerweltskommentare zu meiden und interessant zu werden.
Höre also nie auf zu lernen.
Sei in deiner Impro urteilslos. (Wisse aber über das Für und Wider von Themen bescheid. – DR)
Wenn du eine Fähigkeit an anderen bewunderst, kopiere sie, trainiere sie.
Gute Improvisierer geben sich nicht mit ihren Talenten und Fähigkeiten zufrieden. Sie lernen, was ihnen fehlt.
Stelle hohe Ziele an deine Arbeit.

5. Folge deiner Furcht

Improvisierer gehen Risiken ein. Darum geht’s in guter Impro. "Es ist gut, sich unbequem zu fühlen, sonst gibt es keine Gefahr, keine Aufregung, kein Wachstum."
Außerdem ist es unglaublich unterhaltsam anzusehen, wie ein Team kämpft, Hindernisse zu überwinden. (Darum sind engagierte Anfängergruppen oft unterhaltsamer als routinierte Profis.)
Charna Halpern berichtet von Kim Howard Johnson, der im Impro-Team "Baron’s Barracudas" für Unbequemlichkeit sorgte, in dem er seinen Mitspielern Hürden setzte, live Games erfand und ihnen die Arbeit erschwerte. Das Team war großartig und das Publikum liebte sie, aber es war ihnen zu anstrengend mit Johnson und sie warfen ihn raus. Sofort wurden die Shows langweilig, und die Spieler selbst strahlten nicht mehr die frühere Freude aus, was sich änderte, als sie sich bei Johnson entschuldigten und ihn wieder aufnahmen.
Die Frisbee-Sphäre: Del Close verglich gute Angebote mit dem Frisbee-Spiel. Es sei interessant, wenn die Scheibe ein wenig außerhalb der Reichweite des anderen Spielers geworfen würde, so dass sich dieser strecken müsse, um sie zu erreichen, aber es würde uninteressant, wenn sie einfach unerreichbar nach rechts statt geradeaus geworfen würde.

6. Küchenregeln

Sag ja.

Der erste Gedanke. Es gibt die bekannte Regel, nach der erste Gedanke einfach rausgeschleudert werden soll. Aber manchmal ist dieser Gedanke einfach nur eine reflexhafte Antwort. Von Zeit zu Zeit ist es gut, einen Moment zu warten und dem zweiten Gedanken eine Chance zu geben.

Unterstütze deinen Partner. Es ist gut, sich um sich selbst und die eigene Figur zu kümmern, aber wenn man in dieser Figur eingeschlossen ist, nimmt man nichts anderes mehr wahr und die Mitspieler müssen deine seltsame Suppe auslöffeln. (Offenbar gegen Mick Napiers Konzept gerichtet, wonach die beste Unterstützung darin besteht, sich um die eigene Figur zu kümmern und starke Angebote zu machen. – DR)

7. Frauen

Frauen sollten, so Charna Halpern, nicht in die Falle geraten, sich zum Opfer der Situation machen zu lassen. Nur "Ja Schatz" zu hauchen und dann den männlichen Kollegen vorwerfen, sie dominierten die Bühne. Trefft selbst klare Entscheidungen, spielt starke Charaktere. Spielt auch schwache, wenn es nötig ist. Spielt das, was die Szene braucht. Geht nicht mit einem Ich-bin-das-Opfer-Denken auf die Bühne.
Wenn ihr körperlich klein seid, nutzt das aus.
Kleidet euch bühnentauglich – Schuhe mit weichen Sohlen, keine zu engen Klamotten. Zeigt nicht zuviel Fleisch. Tragt Shirts, bei denen ihr euch nicht sorgen müsst, dass bei der nächsten Bewegung die Brüste rausploppen.
Ein weiterer Punkt zum Thema Integrität bewahren: Man kann politisch unkorrektes spielen, wenn es durch die Figur rolleninteger motiviert ist. Alles andere ist schal.

8. Figuren durch Raum und Bewegung

Peter Hulne berichtet davon, dass er vor einer Vorstellung genau die Bühne inspiziert – wo kann man springen, wo kann man die Bühne betreten, gibt es Türen, Vorhänge usw. – Was davon kann man wie nutzen.
Benenne den Ort, an dem du dich befindest, vor allem, wenn dieser vorher noch nicht etabliert wurde. Anders gesagt: "Wenn du nicht weißt, wo du bist, sag, wo du bist."
Nutze deine eigenen Erfahrungen mit bestimmten Orten – Flughäfen, Taxis, Büros usw.

(Es folgt ein großartiger Abschnitt, den ich hier nur kurz zusammenfassen kann/will.)
Susan Messing beschreibt, wie sie in ihrer Anfängerzeit einen Impro-Profi sah, der in seiner Garderobe eine Liste mit 15 Charakteren zu hängen hatte: "Sogar in meiner damaligen Anfänger-Hölle wusste ich, da stimmt etwas nicht. Wenn der Himmel die Grenze ist, warum sollte ich mich auf 15 Figuren beschränken? Die einzigen Grenzen, die es für mich gibt sind meine Phantasie und die Angst, blöd zu wirken."
Wenn du eine Szene beginnst, lass ein Körperteil dich dominieren. Deine Stimme wird schon folgen.
In Bezug auf deine Figur besteht das "Game" in ihren charakteristischen Eigenschaften.
Mein Partner kann mir einen Namen geben oder den Plot starten, aber niemand wird meine Wirbelsäule manipulieren können außer ich selbst.
Wenn ich bei einer Show nicht ganz da bin, versuche ich zu mir zu kommen, sonst werden die Figuren cartoonesk.
David Down lehrt Tier-Inspiration allein anhand ihrer Wirbelsäulen.
Wenn du zeigst, wie lustig irgendetwas ist, dann ist es nicht lustig! Nutze deinen Verstand! D.h. hier: Bewege dich so gut du kannst. Wenn du dann scheiterst und blöd wirkst, ist das immer noch gute Komödie. (Statt andersrum: Sich absichtlich doof anstellen und hoffen, dass das jemand lustig findet – DR).
Es gibt zwei Typen von Impro-Spielern –
1) die glauben ihre Energie verpuffen zu sehen: Entspannt euch und geht mit der Welle.
2) die ihre Energie aufraffen müssen: Nehmt euch zusammen und geht mit der Welle.
Bei La Ola ist immer derjenige der Arsch, der die Welle abbrechen lässt.

9. Charnas Lieblingsärgernisse

Moderationsbohei. Moderiert mit Würde. Zuviel Applaus wird schon von vornherein eingefordert. Charna Halpern nennt als Gegenbeispiel die auch von mir so geschätzten TJ & Dave, die ihre Show mit dem einfachen Satz beginnen: "Vertraut uns, es ist alles improvisiert." (Man muss allerdings der Fairness halber hinzufügen, dass die beiden vor ausverkauftem Haus spielen und das Publikum zu jubeln beginnt, sobald die beiden die Bühne betreten. Ob sie nicht auch ein bisschen Bohei machen würden, wenn sie vor 20 Leuten spielten, die mit verschränkten Armen abwartend dasitzen? Auf jeden Fall stimme ich Charna zu, dass auf Improbühnen eher zu viel als zu wenig Stimmung gemacht wird. Wir sind nicht im Zirkus.
Du machst ja immer dies! Du sagst ja immer das! Ein Angebot wird verwässert, wenn wir es nicht als die eine große Sache nehmen.
Das ist mein erster Tag. Wenn ein Spieler sagt: "Das ist mein erster Tag hier im XY", ist ziemlich schnell klar, dass er Angst hat, Kompetenz zu zeigen. Er verringert die Hürden, und "mein erster Tag" gibt ihm die Rechtfertigung, doof zu spielen.
Spiel kein Klischee. "Del Close hasste Fernseh- und Parodiesachen. Er bevorzugte frische Beobachtungen, die nicht kulturell vorgefiltert waren. Er war der Meinung, dass "im Allgemeinen" der Feind der Kunst ist. Und dass Gott im Detail steckt."
Redet nicht, wenn ihr nicht auf der Bühne seid. Ihr könntet wichtige Informationen, die gerade geschehen, versäumen.
Versaute Sprache. Werde nicht obszön, um des Lachers willen.

10. Vom Impro zum Schreiben

Schreiben ist Impro mit einer Schreibmaschine. Sag Ja zu deinen eigenen Ideen.

11. Rat an künftige Improspieler

– Haltet euch von Alk und Drogen fern. Charna nennt das typische Beispiel von Chrs Farley und Andy Dick: "Sie spielten großartige Shows und waren hinterher in einem natürlichen High. Später tranken sie vor der Show, um sich zu beruhigen und nach der Show, um zu feiern." Farley starb später an Drogenmissbrauch. Ebenso John Belushi. Und auch Del Close selber hätte es wahrscheinlich ohne Drogen etwas länger geschafft.
– Hört nicht auf, kreativ zu sein. Das Aufregende liegt in der Arbeit.
– Höre nicht auf die Neinsager. "Glück ist Vorbereitung, die auf Gelegenheit trifft."

12. Die Geschichte von Charna und Del

Charna betreibt das ImprovOlympic und ist gelangweilt von den immergleichen Impro-Spielchen. Del Close ist müde vom sketch- und gag-orientierten Second City. Die beiden finden zueinander. Del arbeitet seit den 60ern an einem "unlehrbaren und unaufführbaren" Format, dem Harold. Die beiden einigen sich auf ein Meta-Game, und erfanden so Lagform-Impro.(Letztlich muss man sagen, dass das jeder Langform zugrunde liegt oder: Das ist es, worum’s geht.)

13.-18. Anekdoten über Del Close

Unter den hier erzählten Geschichten gefällt mir die erste besonders: Charna Halpern überzeugte Del Close, sich ein Bankkonto zuzulegen. Und das trotz seiner Angst, er könne in einen See fallen und das Sparbuch würde nass werden, so dass er nie wieder an sein Geld käme. Diese Mischung der Ängste – Hypochondrie, Angst vor Scheinwelten und Verweigerung des Ökonomischen lässt Del Close wie eine Mischung aus Karl Valentin und Michael Stein erscheinen.
Interessant, wie Del Close unterrichtete. Er war äußerst streng und verschwendete keine Zeit mit Galanterien. Zu Beginn eines Workshops referierte er manchmal eine halbe Stunde über seine neuste Lektüre. Wenn er einen Schüler nicht mehr ertragen konnte, gab er ihm das Workshopgeld zurück und schickte ihn fort, manchmal sogar Schülern, die noch nicht bezahlt hatten. Der entsetzten Charna erklärte er: "Das war es wert, um ihn loszuwerden."
Chris Farley, ein Schüler von Close und Halpern wurde für Saturday Night Life gebucht. Als er in New York ankam, rief er Close an und berichtete unter Tränen, man wolle ihn ohne T-Shirt gegen Patrick Swayzee tanzen lassen: "Die machen sich lustig über den neuen Dicken." Del sagte ihm: "Tanz so gut du kannst. Sei leichter als Luft, lass es nicht zu, dass sie dich zum Klischee machen."

19. Das Leben ist ein langsamer Harold.

Zusammenfassung Charna Halpern: “Art by Committee. An Guide to Advanced Improvisation”
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