(Teil 2) – Durnovos Revolutionskrieg

Die russischen Sozialisten landeten immer wieder in der Verbannung. Dschugaschwili gelang es mehrmals zu fliehen. 1912 gelang ihm die Reise bis nach Krakau, wo er Lenin traf und sich diesem erfolgreich als Experte für Nationalitätenfragen empfahl. Seitdem nannte er sich Stalin, was nicht nur seine Spitznamen eliminierte, sondern ihn auch russifizierte.
Pjotr Durnowo, der nach Stolypins Tod wieder in den Staatsrat übernommen wird, warnt eindringlich vor einem zu engen, gegen Deutschland gerichteten Bündnis mit England und Frankreich, dessen Folge ein Krieg gegen Deutschland sein könnte, der überhaupt nicht in Russlands Interesse läge. Er begriff das grundlegende Dilemma des Regimes:

The government needed repression to endure, yet repression alienated ever more people, further narrowing the social base of the regime, thereby requiring still more repression.

Kotkin unterstreicht, dass Stalin selbst zu den Ereignissen, die das Zarenreich zum Einsturz brachten und einen georgischen Kleinstädter wie ihn überhaupt nur in die Nähe der Macht bringen könnten, wenig bis gar nichts beigetragen hat. Und dennoch ist eine Analyse dieser Ereignisse vonnöten, um seine spätere Rolle zu begreifen.

Russia’s revolution became inseperable from long-standing dilemmas and new visions of the country as a great power in the world. That too, would bring out Stalin’s qualities.

Stalin und ich – II
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6 Kommentare zu „Stalin und ich – II

  • 2015-08-15 um 11:03 Uhr
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    Was hällst Du von der Theorie, dass der ganze Terror und Verlust der persönlichen Freiheit ("TOTALITARISMUS") unvermeidbar waren, um das damals rückständige Russland zu modernisieren ??? Da ich wahrscheinlich ein abgrundtiefer Positivist bin versuche ich immer, selbst in den grössten historischen Schweinereien einen Sinn zu sehen (solange sie nicht so absurd sind wie die islamische Revolution im Iran oder der deutsche Faschismus).
    Aber im Falle Russlands spricht doch einiges dafür, dass das Land ohne Okotberrevolution, Kriegskommunismus und forcierter Industrialisierung heute schlechter dastehen würde, vielleicht so aussähe wie die Ukraine oder irgendein 3.Welt-Land ?

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  • 2015-08-15 um 20:33 Uhr
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    Nehmen wir an, du hättest Recht, dass man den Entwicklungsprozess Russlands als "Modernisierung" bezeichnen soll, wem nützt eine solche Modernisierung bei dem Terror?
    Tatsächlich hatte Russland um 1900 einen ungeheuren Modernisierungsrückstand, wenn man es mit anderen europäischen Mächten vergleicht, sowohl politisch als auch ökonomisch. Aber warum den totalitären Weg gehen? Was wäre, wenn die bürgerliche Februarrevolution von 1917 gesiegt hätte, oder, wie Kotkin in einem späteren Kapitel schreibt, sich jemand gefunden hätte, der zwei Kugeln übrig gehabt hätte – eine für Lenin, eine für Trotzki. Die Oktoberrevolution wäre zusammengebrochen.
    Meines Erachtens spricht überhaupt nichts dafür, dass Russland dann heute schlechter dastehen würde. Im Gegenteil. Andere Länder haben es aus ungünstigeren Verhältnissen geschafft, sich zu Industriestaaten zu entwickeln.
    Die Ukraine, von der du sprichst, war übrigens Teil des Sowjet-Imperiums.
    Und was Iran betrifft, so denke ich, dass die beiden Revolutionen durchaus vergleichbar sind. Auch die Kommunisten glaubten, die Wahrheit gepachtet zu haben, die jegliche Untat, jede Lüge, jeden Mord rechtfertigte. Natürlich gibt es auch zahlreiche Unterschiede. Iran war viel weiter entwickelt als Russland 1917. Aber die iranische Revolution wurde zunächst von einer viel größeren Massenbewegung getragen, während sich die Kommunisten in Russland durch die Partei erst ihre Massenbasis schaffen mussten.
    Zu deinem Hauptargument: Die Industrialisierung (wenn man die jetzt mal um des Arguments willen für einen Wert an sich hält) wurde ja nur teilweise durch die Sklavenarbeit in Sibirien vorangetrieben. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde ja durch den von den Bolschewiki angezettelten Bürgerkrieg aufgehalten. Danach hätten sie mit dem Westen durchaus zusammenarbeiten können. Aber sie brachen Verträge, erkannten Russlands Schulden aus der Vorkriegszeit nicht an und verprellten so immer wieder potentielle Wirtschaftspartner. Eine bürgerliche Regierung wäre sicherlich nicht so irre gewesen.

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  • 2015-08-17 um 18:15 Uhr
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    Die russische Revolution und ~ 70 Jahre Sowjetmacht waren sicherlich ein Umweg, wenn man als Ziel eine technologisch, kulturell und politisch entwickeltes europäisches Land des 21. Jahrhunderts sieht. Aber es war keine Sackgasse in dem Sinne, dass man 1990 wieder dort hätte anknüpfen müssen, wo man 1918 aufgehört hatte.
    Nach dem Ende des 3. Reiches war es aber so, und nach dem Ende des Mullah-Regimes im Iran wird es genauso sein, dass man glücklich sein wird den Zustand von 1979 (als die Herrschaft des letzten Schah beendet wurde) wieder herstellen zu können.
    Ich weiss nicht, ob man sich die 70 Jahren Sowjetherrschaft auch vorstellen kann ohne den ganzen Terror, die Millionen Opfern und die geistige Bevormundung der Massen. Aber ich befürchte, dass die Russen ohne die staatlichen Repressionen den technologischen Fortschritt und damit den ökonomischen Wettbewerb mit dem Westen noch weniger hätten meistern können.
    Ich sehe irgendwie die ganze menschliche Geschichte am ehesten noch als eine ganz klare Entwicklung von Technologien und von Wissenschaft, was unbestreitbar ist. Bei der Frage, ob es auch eine Höher-Entwicklung von politischen, philosophischen oder ethischen Ideen gegeben hat (im Vergleich zum antiken Griechenland oder den Archemeniden oder den Sumerern) gehen die Meinungen sicherlich viel mehr auseinander. Das ist ja alles subjektiv und abhängig von Wertungen.
    Deshalb vermute ich, dass alle menschlichen Opfer, die hingenommen oder bewusst verursacht wurden um irgendwie dem "Grössenwahn" menschlicher Naturbeherrschung zu dienen, langfristig in der Geschichtsschreibung relativiert werden. Z.B. die Opfer des Pyramidenbaus, oder der Industriealisierung Russlands, oder des Panama-Kanales oder der Raumfahrt oder der Eroberung des amerikanischen Westens durch den Eisenbahnbau. Die Menchenmassen, die dagegen ideologischen Fanatikern zum Opfer gefallen sind (der nazistischen Rassenlehre, dem islamistischen oder anderen religiösen Extremismen, der Paranoia von vermeindlichen Staatsfeinden in der SU) werden immer als Opfer von Verbrechen angesehen werden.

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  • 2015-08-17 um 18:58 Uhr
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    Du widersprichst dir selbst, wenn du einerseits sagst, die Geschichte sei nur als technologische Entwicklung zu sehen, andererseits die Beispiele 3. Reich und Mullah-Regime bringst. Geschichte ist offenbar mehr als das. Und natürlich ist Geschichte auch immer eine Story, die im Nachhinein aus einer bestimmten Perspektive erzählt wird.
    Die Sklavenwirtschaft in Sowjetrussland ist eine komplexe Angelegenheit. Sie war von Anfang an verbunden mit der system-immanenten Paranoia. Denn wer wurde zum Bau von Kanälen und in den Bergbau geschickt? Die Volksfeinde. Lenin ließ schon um die Jahreswende 1917/18 das erste Konzentrationslager errichten. Die Arbeit war nicht nur primitiv, sondern sie war darauf angelegt, die Arbeiter umzubringen oder wenigstens ihren Tod billigend in Kauf zu nehmen. Vereinzelte Gegenbeispiele sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch außerhalb zeigen, dass die Industrialisierung selbst unter sozialistischen Bedingungen auch anders zu haben gewesen wäre.
    Wenn wir uns aber z.B. den Bau des Weißmeerkanals ansehen, so müssen wir feststellen, dass die Industrialisierung hier nicht alleine der Zweck war, sondern das gezielte Mittel, um die Bevölkerung zu terrorisieren.

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  • 2015-08-19 um 17:39 Uhr
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    Aber gerade 3. Reich, Mullah-Regime im Iran oder die Roten Khmer (alles eigentlich in kulturell und zivilisatorisch hoch entwickelten Gesellschaften) zeigt doch, dass die Geschichte der Ideen nicht nur stagnieren, sondern in totale, desaströse Sackgassen geraten kann.
    Im Allgemeinen werden aber die menschlichen Leiden bzw. Opfer von technologischen Entwicklungen (1000de beim Bau des Panama-Kanales oder der Pyramiden) immer als irgendwie konsensfähig dargestellt. Heute würde doch niemand sagen, dass der Panama-Kanal geschlossen werden soll, weil bei seinem Bau so viele Arbeiter umgekommen sind. Oder dass man an den Pyramiden von Gizeh Schilder anbringt, die an die Opfer des Baus erinnern. Mit den Industrialisierungs-Projekten in Russland (Eisenbahnlinien in den hohen Norden oder die Bergwerke dort) würde ich nicht sagen, dass es der Versuch einer Eliminierung von politisch andersgläubigen war (wie bei den Nazis). Primär ging es immer um bestimmte (zugegebenermassen oft irrsinnige) ökonomische Ziele, die man unbedingt erfüllen wollte. Und Zwangsarbeit kam da wie gerufen, genauso wie Sklavenarbeit im antiken Rom oder Griechenland. Natürlich hat man in Kauf genommen, dass die extrem schwere Arbeit viele Opfer fordern würde, und dafür hätte man wahrscheinlich niemanden freiwillig gewinnen können (ausser Pawel Kortschagin).

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  • 2015-08-19 um 18:23 Uhr
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    Den Bolschewiki ging es primär um die Macht. Lenin, Stalin, Trotzki. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die "Volksfeinde" wurden umgebracht oder in Lager gesteckt.
    Dazu kam aber, dass Russland vor dem Problem der krassen Rückständigkeit stand.
    Dass Russland auch ohne Zwangsarbeit zu großen Leistungen in der Lage war, zeigt das Beispiel Magnitogorsk – was zwar auch mit viel Propaganda und gesundheitlichen Gefährdungen einherging, aber nicht mit diesem Terror.
    Die Sowjetunion hat nicht durch die Zwangsarbeit die Modernisierung erreicht, sondern trotz Zwangsarbeit.
    Und die Zwangsarbeit war ja nur Teil des Terrors. Glaubst du im Ernst, man musste Millionen Ukrainer und Russen im Zuge der "Entkulakisierung" verhungern lassen, um den Anschluss an den Westen nicht zu verpassen? Anderen Agrar-Ländern ist der Weg in die Industrialisierung auch erst spät gelungen – ohne Millionen zu töten.

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