Kapitel 6 – Der kalmückischer Retter

Da war sie nun, die Revolution: Der Zar gestürzt, eine provisorische Regierung schnell aufgebaut. Aber die trieb vor sich her, hatte keine Vision und akzeptierte sogar das Verdikt, Produkt einer "bourgeoisen Revolution" zu sein, mithin Vorläufer der eigentlichen Revolution. Sozialistische Symbole, wie Hammer und Sichel tauchten auf, noch bevor sich die Bolschewiki ihrer bemächtigen konnten. Das Land lag in Scherben – wirtschaftlich, politisch, sozial. Und das russische Volk auf der Suche nach einem Erlöser. Und da bot er sich an: Nach siebzehn Jahren Exil, die günstige Situation kaum fassend, die politische Lage in Russland eigentlich überhaupt nicht begreifend – Lenin.

Kerenski, der von Bolschewiki und der sowjetischen Geschichtsschreibung immer als furchtbarer Reaktionär geschildert wurde, war eigentlich ein linker unter den Konstitutionalisten. Das Problem, vor dem er stand: Die provisorische Regierung hatte kaum Legitimation im Volk, war ein fragiler Haufen mit unterschiedlichen Zielen, der sich selbst über einfache Fragen nicht einigen konnte. Im Gegensatz zu den späteren Bolschewiki konnten sie auch kaum ihre Macht kräftig genug durchsetzen. Anstatt auf die alte Polizei zu setzen, schafften sie sie ab und bauten auf nicht anerkannte Volksmilizen, während Hunger und Plünderungen weitergingen. Sie entließ die alten Gouverneure (wieder eine Gruppe potentiell Verbündeter weniger), ohne eine geeignete Gegenmacht zu entwickeln. In Petrograd selbst übernahmen die Räte (Sowjets) eine Art Parlaments-Ersatz.
Bedroht wurde sie außerdem von den Rechtsextremen und dem sich abzeichnenden Verfall des Reichs an seinen Rändern – der Ukraine, dem Baltikum, dem Kaukausus. Und nicht zu vergessen: Russland stand im Krieg gegen Deutschland.
Während sich die Exekutive in detailversessenem Wahn über Gesetzesentwürfe beugte, fehlte ihr de facto die Macht, überhaupt etwas durchzusetzen. Da erschien ein Retter am Horizont der Geschichte: Der rechtsradikale Oberkommandierende Russlands, Lawr Kornilow, ein Halbgeorgier wie Stalin.

Währenddessen begann im Schatten des Chaos und der Unzufriedenheit der Bolschewismus in Petrograd zu wachsen. Die Zahl der Anhänger, historisch kaum genau zu bestimmen, schwoll an, während die Führer entweder noch im Exil saßen oder sich an einem Tisch treffen konnten. Ihre zwei großen Argumente waren die absolute Gegnerschaft gegen den Krieg und die Ausbeutungstheorie als Catch-all-Theorie.
Lenin stand vor dem Problem, die Situation nicht nutzen zu können. Er saß hinter den deutschen Linien gefangen und wenn er sie überqueren würde, stünde er als deutscher Agent da, ein Ruf, der ihm ohnehin vorauseilte, da er zur Vernichtung Russlands aufgerufen hatte. Um Russland zu destabilisieren, ließ das kaiserliche Deutschland tatsächlich Geld fließen. Zunächst hauptsächlich an die Sozialrevolutionäre, später auch an die Bolschewiki, namentlich Lenin. Ein Unterhändler klärte die Formalitäten, und dann kam es zur legendären Durchquerung Deutschlands im plombierten Zug mit Lenin, Radek, Krupskaja, Inessa Armand, Sinowjew und einigen anderen. Er erreichte Petrograd am 3. April 1917.

Die Bolschewiki stehen Lenins Forderungen nach sofortiger Revolution skeptisch gegenüber, sowohl Kamenew als auch Stalin. (Kamenew distanziert sich sogar in der Prawda von Lenins "Aprilhesen". Lenin staucht sie alle als Jammerlappen zusammen.

Eine Assoziation drängt sich für einen DDR-Sozialisierten geradezu auf – Egon Olsen. Der große Planer versprach seinen Anhängern stets das Paradies auf Erden, das so leicht zu erreichen wäre, wenn man nur klug und beherzt zu Werke schritte. Und wer war Lenin schon, wenn nicht eine Art grausamer Egon Olsen?

 

Swerdlow trifft ebenfalls in Petrograd ein und wird zum Parteiorganisator. Stalin als sein Assistent wird sich hier eine der wichtigsten Lektionen seiner Laufbahn holen: Eine auf eine Person ausgerichtete, absolut loyale Parteiorganisation aufzubauen.

Die Menschewiki beharrten auf dem bürgerlichen Charakter der Revolution und  beteiligten sich sogar an der provisorischen Regierung, was den Bolschewiki natürlich weiter Futter gab. Kerenski warnte indessen vor der Wiederholung der Fehler der französischen Revolution: Dem umgreifenden Terror Robbespierres und dem Alleinherrscher Napoleon.

Und dann versetzte die Wahl im Juni 1917 den Bolschewiki einen ordentlichen Dämpfer. Wenn auch die Mehrheit links wählte, so waren doch die "Mehrheitler" in der Minderheit (105 von 777 Delegierten). Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gewannen dagegen 248 bzw. 285 Sitze.

Perhaps the central riddle of 1917 is why the Provisional Government decided in June to attack the Central Powers.

Russland war kriegsmüde, und die provisorische Regierung verspielte sich mit ihrer Entscheidung für eine Offensive die allerletzten Sympathien.

Die Finanzierung der Bolschewiki durch die Deutschen erwies sich als zweischneidiges Schwert: Einerseits druckten sie die Prawda in Auflagen, die in keinem Verhältnis zur Größe der Partei standen, andererseits wurden Lenin und Trotzki als deutsche Spione dargestellt und ihr Leben war somit in Gefahr. Lenin floh im Juli 1917 nach Russisch-Finnland, wo er "Staat und Revolution" schrieb, ein Werk, das die Demokratie nur als Mittel zum Zweck verniedlicht und behauptet, die Revolution müsse in jedem Falle mit Gewalt errungen werden, bis der Staat eines Tages absterbe.

Ob der Machtmensch Lenin tatsächlich daran geglaubt hat? Wahrscheinlich schon. Zynisch war er zwar, wenn es um Menschenleben ging. Aber er muss von seiner Vision überzeugt gewesen sein, sonst wäre er all diese Risiken, um als Erlöser nicht nur Russlands, sondern der Menschheit aufzutreten, kaum eingegangen. Er sah sich zwar auch als Theoretiker, aber vielmehr noch als Vollstrecker der alten Marxschen Lehre. Plechanow und Kautsky galten von nun an als Renegaten.

In Abwesenheit von Lenin, Sinowjew, Trotzki, und Kamenew (die ersten zwei im Exil, die anderen in Haft) fand der erste Parteitag seit 10 Jahren statt, geleitet von Swerdlow und Stalin. Stalin mahnt dazu, Augenmaß zu halten und nicht gleich die Weltrevolution auszurufen, sondern die einmalige Chance zu nutzen, die sich hier und jetzt in Russland bietet.

Erstmals tritt Stalin hier vor einer großen Gruppe von Bolschewiki auf. Er argumentiert mäßigend. Und der Autor meint, hier einen Beleg für Stalins Scharfsinnigkeit zu finden, die ihm für gewöhnlich abgesprochen wird.

Nur wenige Tage später findet in Moskau (!) eine Staatskoferenz mit 2.500 Delegierten der politischen, militärischen, ökonomischen und Bildungselite statt. General Kornilow präsentiert sich als der kalmückische Retter, aber letztlich scheitert die Konferenz daran, dass Kerenski weder Plan, noch Strategie, noch Ziel hat. Statt die gemäßigten Linken, die Liberalen, die Konstitutionalisten und die Nationalisten auf einen Weg zu bringen, erscheint das Ganze wie eine Parade der Zwietracht.

Three days of speechifying. Nothing institutional endured.

Zwischen Kerenski und Kornilow kommt es zum Zusammenstoß In Petrograd, wobei sich beide Putschabsichten unterstellen. Kornilow gelingt es nicht, eine anti-bolschewistische Militärdiktatur zu etablieren. Kerenski wird immer mehr erdrückt zwischen den Fronten. Denn das Militär, d.h. die Soldaten, die ihm helfen den Kornilowputsch niederzuschlagen, sind immer mehr bolschewistisch geprägt. Der als Hochverräter bezeichnete Kornilow bleibt ironischerweise Oberkommandierender des Heeres.

Nach dem Rückschlag der Bolschewiki im Juli sind sie nun wieder obenauf: Tausende werden aus der Haft entlassen, unter ihnen Trotzki. Und sie erhalten Zulauf, da die Provisorische Regierung die Nöte der Bauern und Arbeiter nicht nur nicht zu lösen vermag, sondern auch keine Vision hat, wie diese zu lösen seien. Stalin analysiert indessen, die Bourgeoisie habe ihre Funktion, die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen, nicht erfüllt, und nun sei es Zeit für die sozialistische. So sieht das auch Lenin, und drängt das Zentralkomitee zu sofortiger Revolution. Kamenew und Sinowjew stimmen dagegen, Lenin kehrt (wieder einmal verkleidet) zurück nach Petrograd, und Kamenew tritt zurück.

Als großes Glück erweist sich, dass ausgerechnet im Oktober der Allrussische Rätekongress (Sowjetkongress) stattfinden soll, so dass die Bolschewiki genügend Zeit zur Putschvorbereitung haben und den Kongress als Legitimierung ausnutzen können.

Der Akt der Revolution widerspricht so ziemlich allen Vorstellungen, die man sich von Revolutionen macht.

Red Guards – described as a huddled group of boys in workmen’s clothes, carrying guns with bayonets – met zero resistance and by nightfall on October 24 controlled most of the capital’s strategic points.

 

Die für die Verteidigung eingesetzten Offiziere waren betrunken, die Kadetten und das nur aus Frauen bestehende "Todesbataillon" flohen. Die Petrograder Garnison verhielt sich neutral – ein Vorteil für die Bolschewiki. Die Roten Garden "stürmten" nicht das Winterpalais, sondern kletterten über unbewachte Tore, knackten Schlösser, schlugen Fenster ein und betranken sich im wertvollsten Weinkeller der Welt.
Aber natürlich wollte man im Nachhinein mithalten mit dem großen französischen Vorbild – dem Sturm auf die Bastille.

Die Bolschewiki stellten mit der Verhaftung der Provisorischen Regierung den Sowjetkongress vor vollendete Tatsachen. Die relativ (!) gemäßigten Menschewiki und Sozialrevolutionäre waren entsetzt. Der Vorsitzende der Menschewiki sagte prophetisch:

"Eines Tages werdet ihr das Verbrechen verstehen, in das ihr euch habt verwickeln lassen."

Protestierend verließen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre den Kongress und halfen dadurch letztlich den Bolschewiki, denn in diesem Moment war der Kongress das Zentrum der Macht. Wenn es noch eine Möglichkeit gegeben hätte, die Bolschewiki halbwegs zu bändigen, dann hier und jetzt.

Kalmückischer Retter? Nicht Kornilow, sondern Lenin, dessen asiatische Gesichtszüge nun tausende Delegierte erstmals sahen, inszenierte sich als solcher.

Kamenew, der Vorsitzende des Sowjet-Exekutivkomitees, versuchte, die Schäden zu minimieren: Er erklärte die bolschewistische Regierung für vorübergehend und rief die Sozialrevolutionäre auf, in den Sowjet zurückzukehren. Trotzki hingegen frohlockte triumphierend.

Lenin, so beschreibt es der Autor Kotkin, agierte aus einer Mischung aus Genialität, Glück und Ignoranz. Kaum aus dem Exil zurückgekehrt, musste er schon wieder abtauchen und war kaum in Kontakt mit seinen Revolutionskollegen. Statt Verbündete zu suchen, schaffte er sich Feinde. Und dennoch liefen die Dinge, wie er sie haben wollte und so konnte er sich als der Denker und Vollstrecker der Revolution inszenieren. Seine rechte Hand war Trotzki. Der eine hätte ohne den anderen nichts erreicht. Stalin, der harte propagandistische Arbeiter in der Vorbereitung der Revolution, hielt auf dem historischen Sowjetkongress keine einzige Rede.

The Bolshevik putsch could have been prevented by a pair of bullets.

Im Nachhinein erscheint der Putsch vielmehr als ein Putsch gegen den Sowjet als einer gegen die Provisorische Regierung, die zu dem Zeitpunkt ohnehin kaum mehr handlungsfähig war.

Stalin blieb der Propagandist.

His publications explained the revolution in simple, accesible terms.

Und kurz nach der Revolution war er neben Trotzki der Einzige, dem Lenin Zutritt zu seiner Privatwohnung im Bolschewistischen Hauptquartier im Smolny gewährte.

Stalin und ich VI – Der Egon Olsen Russlands
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