499.-500. Nacht, Letzter DDR-Pfennig-Artikel, Hochzeit in Kabul

499.-500. Nacht, Letzter DDR-Pfennig-Artikel, Hochzeit in Kabul

Am Montag, dem 2. Juli 1990, dem Tag nach der Währungsunion, befand ich, dass ich für meinen kleinen Campingtrip nach Prag einen Dosenöffner bräuchte. Nach der Arbeit fuhr ich daher ins Centrum Warenhaus am Alex. (Ich hätte ihn gewiss auch in einem kleineren Laden gefunden, aber das Warenhaus lag mehr oder weniger auf dem Weg, und bei kleinen Läden wusste man nie.)
Ich wurde fündig, zahlte die 25 Pfennig und fuhr die Rolltreppe hinab. Und da standen sie schon – die Kamerateams von ARD und ZDF, die darauf aus waren, DDR-Bürger vor die Kamera zu zerren und zu fragen, was sie sich denn nun als erstes von ihrem schönen neuen Westgeld gekauft hätten. Ich war damals wirklich nicht besonders kamerageil, aber in dem Moment spazierte ich absichtlich langsam auf die Teams zu, um ihnen im Falle der Befragung diesen unansehnlichen DDR-Pfennigartikel zu präsentieren.
Ob sie schon was geahnt hatten oder ich ihnen zu unfotogen war – sie ließen mich ziehen. Und jetzt kann es jeder wissen, der lesen kann.

*

(Fortsetzung von Die Abenteuer Bulûkijas in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

499. Nacht

Die Schlangenkönigin fährt fort und berichtet, dass nachdem Bulûkija seine Erlebnisse vorgetragen hatte, der Jüngling vor den Grabmalen seine eigene Geschichte erzählt.

Die Geschichte von Dschanschâh

Wir haben nun also eine Geschichte (Dschanschâh) in einer Geschichte (Bulûkija) in einer Geschichte (Schlangenkönigin) in einer Geschichte (1001 Nacht).

Der König Tighmûs von Kabul ist ein reicher Herrscher, aber ohne Weib und Nachkommen. Seine Astrologen meinen, die einzig mögliche glückliche Heirat wäre die mit der Tochter des Königs von Chorasân. Er sendet daraufhin seinen Wesir mit einem riesigen Trupp und reichen Geschenken nach Chorasân, damit dieser um die Prinzessin wirbt, versehen mit der Drohung, sich ihn zum Feind zu machen, falls er widerstrebt.
Bahraqân, der König von Chorasân ist hoch erfreut und überbringt seiner Tochter diese Botschaft. Diese antwortet nur:

“Tu, was du willst.”

Die Beschreibung legt nahe, dass der Wesir mehrere Wochen unterwegs ist. Allerdings darf man nicht die heutige Distanz von zirka 1.500 km annehmen. Denn das alte Chorasân reichte zeitweise weit bis in das heutige Afghanistan hinein.

500. Nacht

Die Prinzessin wird ohne Anwesenheit des Bräutigams vermählt.

Man kann annehmen, dass ihr der kirchliche Segen gegeben wird, denn es es ist von christlichen Mönchen und Priestern die Rede.

Nach zwei Gastmonaten reist die Prinzessin mit dem Wesir zurück. Auch in Kabul findet eine Hochzeit statt.

Dann ging er zu der Prinzessin ein und nahm ihr das Mädchentum.

Sie empfängt auch sofort, und der Held unserer Geschichte (und Erzähler) Dschanschâh wird geboren, dem man die beste Erziehung angedeihen lässt, unter anderem begann er,

dass Evangelium zu lesen,

was nicht heißt, dass er christlich ist wie seine Mutter, sondern das Evangelium (Indschîl), hat eine spezielle Bedeutung im Islam.

Als er groß wird, jagt er eines Tages eine Gazelle, die ihm entkommt und sich ins Meer stürzt.

Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.

346. – 356. Nacht

Nestbau nennt man das jetzt wohl. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr immer aus Kompromissen zwischen Geldbeutel, Ererbtem und Ansätzen eigenen Geschmacks lebend. Die Wohnung ist ja groß genug, aber das Verrücken der tatsächlichen Möbel ist doch etwas anderes als das Hin und Herschieben von Schnipseln auf Millimeterpapier. Umso schlimmer, wenn man sich andauernd sorgen muss, dass etwas kaputtgeht, wovon man bei den schwedischen Möbeln ja ohnehin schon ausgeht, aber dass der in der Annahme, Altes sei stabiler, gekaufte Antikschrank das labilste aller Gegenstände ist, kann einen schon zum Weinen bringen. Im Moment besteht der einzige Grund, dass ich ihn nicht weiterverkaufe, darin, dass Uli für mich bis tief ins Brandenburgische mit mir und einer Robbe gefahren ist. Nachts.
Wie machen das eigentlich die Vögel bei ihren Nestern? Das hat denen doch auch keiner gezeigt.

**

Ähnlich wie der Hauptmann von Bulak stellt sich nun auch bei Hauptmann von Kûs heraus, dass er mit Zinn, Kupfer und Glaswaren betrogen wurde.

Mit dieser Pointe erscheint die Erzählung eigentlich nur als Variation der anderen.

***

Die Geschichte von Ibrahim ibn el-Mahdi und dem Kaufmanne

Der Kalif el-Mamûn bittet seinen OnkelIbrahim ibn el-Mahdi:

"Erzähle uns das Wunderbarste, das du je erlebt hast."

Es folgt die Geschichte. Ibrahim geht eines Tages spazieren und gelangt an einen Ort, wo es nach Speisen riecht,.

Wie ich nun zufällig den Blick hob, entdeckte ich ein Gitterfenster und hinter ihm eine Hand und ein Handgelenk, wie ich es noch nie gesehen hatte.

Einen zufällig vorbeikommenden Schneider fragt er nach dem Eigentümer des Hauses.

Er heißt Soundso, Sohn des Soundso, und er verkehrt nur mit Kaufherren.

Und als auch noch zwei hohe Gäste im Begriffe, sind heranzureiten, fragt er den Schneider auch nach deren Namen. Mit diesen Informationen behauptet er gegenüber den beiden Kaufleuten, den Hauseigentümer zu kennen. Zu dritt gehen sie ins Haus, und der Hausherr glaubt wiederum, Ibrahim sei ein Freund der beiden Kaufleute. Die vier beginnen ein Wetttrinken. Schließlich tritt eine schöne Sklavin ein.

Und sie griff zur Laute, begann zu singen und ließ dies Lied erklingen:

Ist’s denn nicht wunderbar, dass ein Haus uns umschließet,
Und dass du mir nicht nahst, dein Mund kein Wörtlein sagt?
Die Augen melden nur der Seelen heimlich Sehnen;
Sie künden, wie die heiße Glut an Herzen nagt.
Und blicke geben Zeichen, Augenbrauen nicken,
Und Lider brechen, während Hände Grüße schicken.

Dies kann unser Gast natürlich nur als Zeichen verstehen. Er provoziert sie:

"Dir fehlt noch etwas, Mädchen!"

Sie wirft die Laute fort, und er singt, als eine neue Laute gebracht wird, ein Lied, das ihr sein Erkennen signalisiert. Dem Hausherrn wird nun klar, dass er es mit einem höheren Herrn zu tun hat und fragt nach seinem Namen.

Wegen der Fähigkeit zum Saitenspiel?

Sowie er meinen Namen erfuhr, sprang er auf.

*

347. Nacht

Die Sängerin ist aber noch nicht die Sklavin "mit dem Handgelenk". Man lässt alle Sklavinnen kommen, aber die, welche Ibrahim sucht, ist nicht darunter. Jetzt wird’s heikel; denn die einzigen verbliebenen Frauen sind Schwester und Weib des Kaufmanns. Die Schwester ist’s.

Zum Glück, muss man wohl sagen…

Die Hochzeit wird mit zwanzigtausend Goldstücken Morgengabe und den Kaufleuten als Trauzeugen geschlossen.

Und bei deinem Leben, o Beherrscher der Gläubigen, er sandte sie mir mit einer so großen Ausstattung, dass unser Haus trotz seiner Größe sie kaum fassen konnte.

***

Die Geschichte von der Frau, die dem Armen den Almosen gab

Ein König verbietet in seinem Reich das Almosengeben bei der Strafandrohung des Handabschlagens.

Er kann wohl kaum muslimisch sein, da hier das Almosengeben eine derfünf Säulen des gottgefälligen Lebens ist.

An das Haus einer Frau kommt ein Bettler und bittet um Almosen.

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348. Nacht

Wie es so kommt: Sie gibt ihm zwei Brote, der König erfährt davon und lässt ihr die Hände abschlagen.
Als sich der König nach einer Weile vermählen will, berichtet ihm seine Mutter:

"Unter meinen Sklavinnen ist ein Weib wie kein schöneres gefunden werden kann; doch sie hat einen großen Fehler." – "Als er fragte: "Was ist denn das?", erwiderte sie: "Ihr sind die Hände abgeschlagen."

Tatsächlich heiratet er sie, doch die anderen Frauen des Königs werden neidisch auf sie und verleumden sie als Ehebrecherin, woraufhin er das arme Weib von seiner Mutter in die Wüste schicken lässt. Sie wandert

mit dem Knäblein auf der Schulter.

Von dem zuvor keine Rede ist.

Als sie sich beim Trinken am Bach überbeugt, fällt das Kind hinein.

Da kamen plötzlich zwei Männer vorbei, die angesichts ihres Kummers für sie beten. Und ruckizucki hat sie sowohl Hände als auch Knäblein wieder.

"Wir sind deine beiden Brote, die du dem Bettler geschenkt hast. Das Almosen war ja der Grund, dass deine Hände abgeschlagen wurden. Doch nun lobe Allah den Erhabenen, der dir deine Hände und dein Kind zurückgegeben hat!"

In ihrer Botschaft: Vertraue auf Gott! erinnert die Geschichte an eine Mischung aus Allerleirauh und Hiob.

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Die Geschichte von dem frommen Israeliten

Unter den Kindern Israels lebte einmal ein frommer Mann.

Ein bemerkenswerter Anfang. Bislang war in den 1001 Nächten nur wenig Gutes über Juden zu lesen.

Dieser Mann ist Baumwollspinner und seine Erlöse aus dem Verkauf des Garn genügen irgendwann nicht mehr.

Nun besaßen sie noch einen geborstenen Holznapf und einen Krug.

Diese hofft er, verkaufen zu können.

Während er so im Basar dastand, kam zufällig ein Mann an ihm vorbei, der einen Fisch trug.

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349. Nacht

Der Fisch stinkt und ist aufgedunsen, aber sie gehen trotzdem den Handel ein. Angewidert macht sich die Familie daran, den Fisch aufzuschneiden. Darin aber finden sie eine Perle.

Das meldeten sie dem Ältesten, und der sprach: "Schaut nach! Wenn sie durchbohrt ist, so gehört sie einem anderen Menschen; ist sie aber noch undurchbohrt, so ist sie eine Gnadengabe, die euch Gott der Erhabene schenkt."

Tatsächlich ist sie undurchbohrt. Der Baumwollspinner erhält dafür siebzigtausend Dirhems und gibt einem Bettler die Hälfte davon. Dieser erwidert:

"Behalte dein Geld, nimm es wieder. Gott gesegne es dir. Wisse, ich bin ein Bote Gottes, er hat mich zu dir gesandt, um dich zu prüfen!" Nun rief der Israelit: "Gott sei Lob und Preis!" Und er lebte immerdar mit den Seinen in aller Lebensfreude, bis er starb.

Anscheinend kommen wir nun von der Hauptmann-Schelmen-Reihe zu den Almosen-Anekdoten.

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Die Geschichte von Abu Hassan ez-Zijâdi und dem Manne aus Chorasân

Abu Hassan ez-Zijâdi berichtet.

Ob dieser Abu Hassan ez-Zijâdi eine historisch reale Person ist, erfahren wir nicht.

Als er in Not gerät und Bäcker und Krämer bereits bei ihm seine Schulden eintreiben wollen, kehrt ein Pilger aus Chorasân bei ihm ein, der zehntausend Dirhems bei ihm lagern will. Kehre er nicht mit der Karawane zurück, so möge er das Geld behalten.

Ich aber ließ die Geschäftsleute kommen und bezahlte alle meine Schulden.

Die Geschichte wird ihr von Schehrezâd unterbrochen, und nach meinen bisherigen Erfahrungen ist alles möglich: Die Veruntreuung wird bestraft oder verziehen oder gar noch durch das Schicksal belohnt.

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350. Nacht

Tatsächlich gibt Abu Hassan ez-Zijâdi das Geld aus:

"Bis er zurückkehrt, wird Allah uns schon etwas von seiner Gnade zuteil werden lassen." Aber kaum war ein Tag verronnen, da kam der Diener wieder zu mir herein und meldete: "Dein Freund aus Chorasân steht an der Tür."

Eine kurze Pilgerfahrt war das wohl.

Grund: Der Vater ist gestorben. Er vertröstet den Pilger, er müsse das Geld erst holen, verschwindet aber nachts auf seinem Maultier und reitet ziellos durch Bagdad. Eine Menge fragt ihn, ob er Abu Hassan ez-Zijâdi kenne.

"Der bin ich", antwortete ich ihnen.

Man bringt ihn zum Kalifen el-Mamûn, und jetzt erfahren wir, dass er

einer von den Rechtsgelehrten und von den Kennern der Überlieferungen

ist. El-Mamûn gesteht, in der Nacht von einer Traumstimme geplagt worden zu sein, die ihm sagte:

"Hilf Abu Hassan ez-Zijâdi!"

Der Kalif schenkt ihm dreißigtausend Dirhems. Abu Hassan ez-Zijâdi will nun die zehntausend an den Chorasânier zurückgeben, doch dieser erlässt ihm die Summe, als er die Geschichte vernommen hat.

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351. Nacht

Am nächsten Tag erhält er

Die Urkunde der Bestallung als Kadi für den Westbezirk der heiligen Stadt Medina vom Tor des Friedens.

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Die Geschichte vom Armen und seinen Freunden in der Not

Ein Mann gerät in Bedrängnis, leiht sich von seinen Freunden fünfhundert Dinare und beginnt Handel als Juwelier.

Wie er dort in dem Laden saß, kamen drei Männer zu ihm und fragten ihn nach seinem Vater. (…) "Hat er denn keine Nachkommen hinterlassen?"

Klingt fast wie die drei Weisen aus dem Morgenlande.

Sie sagen, sie hätten den Vater gekannt und von ihm Geld geliehen, dass sie ihm nun zurückgeben wollten. Er will seine Schuld, doch der Freund erlässt ihm die Schuld und gibt ihm einen Brief mit auf den Weg, den er aber erst zuhause öffnen soll.

Die Männer, die dir nahten, die waren von den Meinen:
Mein Vater, Vetter, Oheim, er Salih Alis Sohn.
Und was du bar verkauftest, das kaufte meine Mutter;
Das Geld und die Juwelen sandt ich dir all zum Lohn.
Nicht um dich zu verletzen, bin ich so verfahren:
Ich wollte die Gefahr der Schande dir ersparen.

***

Die Geschichte von dem reichen Manne, der verarmte und dann wieder reich wurde

Ein reicher Mann aus Bagdad verliert sein Geld,

und er konnte sein Dasein nur durch schwere Arbeit fristen.

In der aktuellen Ausgabe des Philosophie Magazin wird ausgiebig diskutiert "Macht Arbeit glücklich"? Darin finde ich eine Stelle von Aristoteles, in der es heißt: "Als eine banausische Arbeit… hat man jene aufzufassen, die den Körper oder die Seele oder den Intellekt der Freigeborenen zum Umgang mit der Tugend und deren Ausübung untauglich macht. Darum nennen wir alle Handwerke banausisch, die den Körper in eine schlechte Verfassung bringen, und ebenso die Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig." Dies ist ein Gedanke, den der 2007 verstorbeneMichael Stein in seinem Gebet gegen die Arbeit so formuliert hat:

Arbeit, Geissel der Menschheit.
Verflucht seist du bis ans Ende aller Tage.
Du, die du uns Elend bringst und Not.
Uns zu Krüppeln machst und zu Idioten.
Und schlechte Laune schaffst und unnütz Zwietracht säst.
Uns den Tag raubst und die Nacht.
Verflucht seist du!
Verflucht!
In Ewigkeit.
Amen.

**

Im Traum weist ihm eine Stimme, sein Glück läge in Kairo. Er reist tatsächlich dorthin und legt sich in der Nähe einer Moschee schlafen. Im Haus nebenan wird eingebrochen, man verhaftet ihn als vermeintlichen Dieb, prügelt ihn und wirft ihn ins Gefängnis. Dem Wachhauptmann, der ihn befragt, erzählt er die Geschichte seines Traums. Der Hauptmann lacht ihn daraufhin aus,

so dass man seine Backenzähne sehen konnte,

das wäre ja ein schönes Glück gewesen. Er selber habe dreimal im Traum ein Haus in Bagdad gesehen, in der und der Straße, wo ein Schatz vergraben sei, aber sei klug und würde nie auf solche Träume etwas geben. Er entlässt ihn.

Und dies ist vielleicht eine der fiesesten Unterbrechungen Schehrezâds.

*

352. Nacht

Natürlich findet er den Schatz und ist ein gemachter Mann.

Ein starker Mythos mit einer guten Klammer, was ja sonst nicht so sehr die Stärke dieser Erzählungen ausmacht.

 

***

Die Geschichte von dem Kalifen El-Mutawakkil und der Sklavin Mahbuba

Unter den Hunderten Sklavinnen des KalifenEl-Mutawakkil ala-llâh befindet sich eine Mulattin aus Basra;

die übertraf alle an Schönheit und Lieblichkeit, Anmut und Zierlichkeit.

Eines Tages überwirft er sich mit ihr und verbietet allen, mit ihr zu sprechen. Doch schon bald träumt er, sich mit ihr versöhnt zu haben, und eine Dienerin flüstert ihm zu, Gesang aus ihrem Zimmer vernommen zu haben. Durch ihr Lied wird ihm klar, dass sie denselben Traum wie er gehabt haben muss.

Von den Armuts- und Almosenanekdoten also zu den Traumgeschichten.

Die beiden versöhnen sich.

Versöhnung in Leibeigenschaft!

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353. Nacht

Als El-Mutawakkil stirbt, ist die Sklavin Mahbûba die einzige, die ihn nicht vergisst. Als sie schließlich auch stirbt, wird sie neben ihm begraben.

Und seine Frau?

***

Die Geschichte von Wardân dem Fleischer mit der Frau und dem Bären

Bei Wardân, einem Kairoer Fleischer kauft eine Frau jeden Tag ein Schaf für zweieinhalb Dinare und lässt es von seinem Diener forttragen, der ihm berichtet, sie würde außerdem auch bei anderen Händlern

Zukost zum Fleisch, ferner Früchte und Kerzen, und (…) bei einem Christenkerl zwei Flaschen Wein.

Dies alles müsse er zum Garten des Wesirs tragen, woraufhin ihm die Augen verbunden würden, man ihn weiter führe und er alles abstelle, bis man ihn zurück führe. Am nächsten Tag folgt der der Fleischer Wardân dem Träger und der Dame.

354. Nacht

Wardân sieht, dass Träger und Dame keinesfalls, wie man annehmen könnte, in den Garten des Wesirs gehen, sondern in eine Steinwüste, dort in eine Höhle, die unter einer Falltür aus Messing versteckt ist. Die Dame entlässt den Träger, während sich Wardân hinter einem Fenster versteckt. Er sieht, dass sie all das Essen für einen Bären zubereitet, dem sie sich schließlich hingibt:

Sie gewährte ihm das Beste, was den Menschenkindern gehört.

So kann man es natürlich auch ausdrücken.

Als die beiden

es zehnmal getan hatten,

legen sie sich zum Schlafen nieder und Wardân schlachtet den Bären.

Interessantes Detail: In Ägyptengibt es überhaupt keine Bären.

Als sie erwacht, ist sie erbost und macht ihm ein Angebot.

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355. Nacht

"Willst du auf das hören, was ich dir sage und dadurch gerettet werden und bis zum Ende deiner Tage in Reichtum leben? Oder willst du mir zuwiderhandeln und dadurch dich ins Verderben stürzen?"

Die Bedingung lautet:

"Töte mich!"

Nach einigem Hin und Her willigt er ein

und sie fuhr hinab zum Fluche Allahs und der Engel und aller Menschen.

Noch in der Wüste wird er von zehn Männern überrascht, die sich als Gesandte des Kalifenel-Hâkim bi-amri-llâh erweisen.

Eine seltsame Begegnung, den gerade dieser Kalif (den die Drusen später als Gott verehrten) führte ein striktes Alkoholverbot auch gegen die Christen ein. Und wie wir oben erfahren haben, kaufte der Träger Wein bei einem "Christenkerl". Was weiß ich sonst ohne Wikipedia von den Drusen? Dass sie im Libanon leben und ihre Milizen von einem Mann mit dem schönen Namen Dschumblat geführt wurden. Nachschlagen zeigt, dass in ihrer Religion das Konzept von Parallelwelten eine große Rolle spielt.

Man kehrt samt Kalif zurück zur Höhle und Wardân darf so viel vom Schatz behalten, wie er mitnehmen kann. Er eröffnet einen neuen Laden im Basar.

Dieser Basar aber ist noch bis auf diesen Tag vorhanden, und er ist bekannt als Wardâns Basar.

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Die Geschichte von der Prinzessin und dem Affen

Die Tochter eines Sultans ist in einen Schwarzen verliebt, der ihr das Mädchentum nimmt.

Und sie entbrannte in solcher Lust, dass sie die Trennung von ihm nicht eine Stunde ertragen konnte.

Wieder eine schöne Rassismusspielart. Der Schwarze ist bedrohlich, weil er die Lust im Mädchen weckt. Aber es kommt noch besser:

Ein Affenführer kommt am Palast vorbei. Sie zwinkert diesem zu, er befreit sich und klettert zu ihr empor. Fortan lebt er in ihrem Zimmer, trinkt, isst und schläft mit ihr.

*

356. Nacht

Die Tochter erfährt von den Mordplänen ihres Vaters, verkleidet sich als Mamluk und flieht nach Kairo, wo sie täglich bei einem Fleischer Fleisch kauft, was diesem seltsam vorkommt.

Dem Leser auch. Es wirkt wie eine Variation der vorigen Geschichte.

Auch dieser Fleischer tötet das Tier. Aber diesmal nicht die Frau, sondern nimmt sie mit zu einem alten Weib. Diese bereitet ein Gebräu aus Essig undSpeichelwurz, dessen Dampf der Frau in den Unterleib steigt, woraufhin ein schwarzer und ein gelber Wurm herausfallen.

Die Alte sprach aber: "Der eine ist durch die Lust mit dem Neger entstanden, der andere durch die Lust mit dem Affen."

Schlimmer geht’s wohl kaum.

 

326. Nacht

Denkt man heute an Zivilcourage, rücken meistens besonders heroische Taten ins Visier: Sich brutalen Schlägern entgegenzustellen etwa.
Wieviel häufiger fehlt es aber an Mut im Kleinen? Vor allem in der Großstadt. Ein Mann liegt hilflos auf der Treppe, ruft nach Hilfe. Je mehr Menschen anwesen sind, umso unwahrscheinlicher ist es, dass ihm geholfen wird.

 

In der Psychologie wird dies als Bystander-Effekt bezeichnet.

Als soziale Wesen haben wir einen gewissen Hang zum Übereinstimmen. Es fühlt sich für die meisten unangenehm an, Außenseiter zu sein.

 

In seiner extremen Form führt der Mitläufer-Effekt zu Auswüchsen wie in Abu Ghraib (um ein Beispiel nach 1945 zu nennen). Vorweggenommen vom Milgram Experiment und dem Stanford Prison Experiment von Philip Zimbardo, der später einem der Angeklagten von Abu Ghraib als psychologischer Berater zur Seite stand.

Wenn wir nicht erkennen, dass das Böse in uns allen steckt, wird es uns schwer fallen, die Situationen zu erkennen, die es hervorbringen. Dann fahren wir fort, es zu essentialisieren, zu hospitalisieren, zu externalisieren.

Gut sein muss trainiert werden. Zimbardo plädiert dafür, Zivilcourage schon bei Kindern zu trainieren und ihr Heldenbild zu verändern: Weg von Superhelden, hin zu Helden des Alltags. Wir müssen den Fokus weglenken von den traditionellen Helden, die ihr Leben um ihr Heldentum herum organisiert haben, so wie Gandhi, Mandela, Martin Luther King. Wir brauchen Helden auf Abruf. Menschen, die bereit sind, abzuweichen, wenn es darauf ankommt. Menschen, die auf die Gemeinschaft statt auf ihr Ego fokussieren.

 

***

Man führt Alî Schâr zu Zumurrud, der sie natürlich nicht erkennt (sie ihn schon). Er berichtet seine Geschichte und sie führt wieder den Hokuspokus mit geomantischer Tafel und Messingstift auf, wobei sie zu dem Ergebnis kommt, er sage die Wahrheit.

Man könnte die Passagen der geschummelten Nutzung der geomantischen Tafel auch als ironischen Seitenhieb auf derartige Praktiken verstehen.

Sie lässt ihn fürstlich ein kleiden, worüber das Volk erstaunt ist. Am Abend lässt sie ihn ihr Schlafgemach, in dem außer ihr nur zwei kleine Eunuchen sind, führen und stellt sich schlafend.

Wie die Leute hörten, dass sie nach ihm gesandt hatten, wunderten sie sich darüber.

Woher erfuhren "die Leute" davon?

Alî erkennt seine Frau immer noch nicht. Und sie denkt bei sich:

"Ich muss doch noch eine Weile Scherz mit ihm treiben, ohne dass ich mich zu erkennen gebe."

Sie teilt das Essen mit ihm und befiehlt ihm dann:

"Komm zu mir auf das Lager und knete mich!" Er begann, ihr die Füße und Schenkel zu kneten und fand, dass sie weicher als Seide waren. Nun befahl sie: "Geh höher hinauf mit dem Kneten"

325. Nacht

Ich bin der Auserwählte. Oder einer der Auserwählten. Gehöre zu den 3% Berlinern, die für den Zensus interviewt werden. Instinktiv fühle ich mich ja immer noch mit der Volkszählungs-Boykott-Bewegung von 1983 verbunden, obwohl ich nicht einmal volljährig oder auch nur Bundesbürger war. Womöglich faszinierte mich schon allein der Ungehorsam gegen den Staat. Immerhin hörte man ja viel von jenem 1948 geschriebenen Roman 1984, der auch prompt 1983 verfilmt wurde und von dem man nur Schnipsel zu sehen bekam – immerhin in einem Video meiner damaligen Lieblingsband.

Nun kann ich schon verstehen, dass geplant werden muss: Wieviele sind wir eigentlich? Oder muss man das wirklich? Was wird nach der Volkszählung besser? Sachsen-Anhalt würde dann weniger aus dem Länderfinanzausgleich bekommen. Na, da freuen die sich wohl jetzt schon drauf.

Man ist ja gesetzlich dazu verpflichtet, die Fragen zu beantworten. Aber steht irgendwo geschrieben, in welcher Zeit? Vielleicht sollte ich die Dame einfach sitzen lassen, nebenbei kochen und telefonieren. Und wenn sie nachhakt, darauf beharren, über die Antwort nachdenken zu müssen. Aber vielleicht wird sie ja nicht pro Interview, sondern nach Zeit bezahlt, und es wäre ihr egal. In diesem Fall könnte ich während des Interviews ohrenbetäubenden Death Metal auflegen. Ist ja nicht mein Problem, wenn sie die Antworten nicht versteht. Oder mit Gegenfragen antworten. Stephan Serin wird wohl in den nächsten Wochen noch ein paar Optionen zur Zensus-Beantwortung bei der Chaussee der Enthusiasten präsentieren.

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Alî Schâr ist vom Trennungsschmerz so ergriffen, dass er von der Alten ein Jahr lang gepflegt werden muss. Als er sich jedoch anschickt, ein zweites Jahr zu trauern, ordnet sie an, er möge sich zusammenreißen und die Geliebte suchen Sie gibt ihm

Wein zu trinken und Küken zu essen.

Hühnerbrühe am Tag und Wick Medinait für die Nacht.

Und tatsächlich gelangt er bei seiner Suche in die Stadt Zumurruds, wo er sich prompt an die Stelle des Tischs mit der Reisschüssel setzt und davon isst. Zumurrud lässt ihn zunächst gewähren und ihn dann vor sich führen.

Könnte eine solche Geschichte nicht auch mal tragisch enden und sie lässt ihren eigenen Lover kreuzigen? Wir werden sehen.

324. Nacht

Nach über zwanzig Jahren ist nur wenig von den Gerüchen geblieben im ehemaligen Pionierhaus "German Titow": Im Erdgeschoss schwebte eine Wolke von Kinder-Klo-Geruch und dem Jugendschweiß der Rhönradfahrer und Tänzer. Im ersten Geschoss, wo man die Schreibzirkel, den Russisch-Club und lange Zeit auch die Kinderbibliothek fand, roch es nach altem Papier und Büchern. Näherte man sich dem Kinosaal roch es nach den gepolsterten Holzsitzen, die einem schon die Filmaufregung vorab ins Hirn trieben, inklusive Streit mit den vor einem Sitzenden, die ihre Köpfe immer viel zu hoch reckten. Bei den Bastlern roch es nach Kolophonium, gebranntem Holz und Leim. Die Elektro-Techniker unter ihnen hängten ihre zusammengeschraubten Geräte an die Wände – zum Spielen für einfache, von Elektronik unbeleckte Kinder, darunter Knobel-Rechner mit Lämpchen, ein 60×60 Zentimeter großer Taschenrechner, und ein Fernseher, auf dem man Pong spielen konnte, wobei ich vermute, dass die Kunst hier darin bestand, die geklaute Software ohne Probleme auf einen DDR-Steinzeit-Rechner zu übertragen. Im obersten Geschoss übte das Orchester. Und ganz oben, unterm Dach – viele ahnten wahrscheinlich nicht einmal, dass es dort weiterging, wurden die Instrumental-Schüler einzeln in Rhythmus, Kinn- und Fingerhaltung gedrillt. Es roch nach Dachboden, Taubenschiss und Klarinettenspucke. Letzteres bildete ich mir zumindest ein. Denn ich selber kam jede Woche donnerstags mit einem Klarinettenköfferchen und dem schlechten Gewissen, nicht genug geübt zu haben, ins Pionierhaus. Westler glauben ja oft, man hätte in solchen Häusern nur Zutritt mit Halstuch gehabt. Das Politische war dabei völlig nebensächlich oder, wie im Fall des Orchesters, praktisch gar nicht vorhanden.
Und nun sitzen dort die Puppenspieler der Schauspielschule Ernst Busch. Sicher nicht die schlechteste Verwendung für solch ein Haus. Man hätte es Berlin auch zugetraut, dass sie dort eine Unterabteilung der Senatsverwaltung für Verkehr plazieren. Und doch – mir wird mulmig, als ich durch die Gänge schlendere, kribbelig auf der Suche erhaltener Spuren – eine einzige unrenovierte Tür, ein ungestrichenes Geländer oder eine kleine Skulptur. Kaum etwas finde ich wieder: die Schaukästen am ehemaligen Kino gibt es noch. Und eine leichte Ahnung des Geruchs von früher. Aber vielleicht bilde ich mir den auch nur ein.

*

Zumurrud ist weiterhin bekümmert über das Fehlen von Alî Schâr und sie spricht sich durch Gedichte Mut zu, etwa:

Bezähme deinen Sinn, wenn dich der Zorn ergreifet;
Und sei geduldig, wenn ein Unglück dich befällt.
Denn siehe da, die Nächte sind vom Schicksal schwanger,
Sie lasten schwer und bringen manch Wunderding zur Welt.

Als sie dem noch ein langes Gebet anfügt, tritt ein Jüngling zum Tor herein;

dessen Wuchs glich dem eines Weidenzweiges, doch sein Leib war abgezehrt, und Blässe lag auf seinem Antlitz.

Und ausgerechnet vor der unglückbringenden Reisschüssel setzt er sich nieder, doch Zumurrud darf nicht zeigen, dass sie ihn kennt.
Flashback: Als er aus seinem Schlaf erwacht war und sich beraubt fand, kehrte er zur Alten zurück, der er sein Leid klagte.

Sie schalt ihn so lange, bis ihm das Blut aus der Nase strömte.

323. Nacht

Raschîd ed-Dîn ergeht es wie den drei Schurken zuvor: Er setzt sich auf den falschen Platz, wird von Zumurrud erkannt und von den Wächtern geschunden, seine Haut mit Werg ausgestopft und aufgehängt. Als sie nach der Volks-Speisung wieder in ihre Kammer geht, spricht sie:

"Allah sei gepriesen, dass er meinem Herzen Ruhe geschaffen hat vor denen, die mir Übles taten. (…) Allah, der mir Gewalt gab über meinen Feind wird mich auch gnädiug wieder vereinen mit meinem Freund!"

Alles eine Frage der Zeit und nicht der Heldenentwicklung?

322. Nacht

Dem Kurden Dschawân wird das gleiche Schicksal zuteil: Häuten und Aufhängen. Einen Monat später wieder Volksküche.

Und man fragt sich, wie wohl dem Volk dabei ist, wenn jedes Mal ein Fremder gemeuchelt wird.

Inzwischen sind vor der Schüssel schon vier Plätze frei. Und tatsächlich setzt sich wieder ein Fremder hin. Diesmal der dritte Widersacher Zumurruds – der Christ Raschîd ed-Dîn.

321. Nacht.

Die Entlarvung des Christen erhöht Zumurruds Ansehen beim Volk:

"Dieser König ist ein Seher, der in der Welt nicht seinesgleichen hat." Darauf gab die Königin den Befehl, der Nazarener solle geschunden werden, seine Haut solle mit Häcksel ausgestopft und über dem Tor zu dem Platze aufgehängt werden; ferner solle man eine Grube draußen vor der Stadt graben und darin sein Fleisch und seine Knochen verbrennen, und dann solle man Schmutz und Unrat auf ihn werfen. "Wir hören und gehorchen!", sprachen ihre Mannen, und sie taten mit dem Christen alles, was sie ihnen befohlen hatte.

Auch diese Lektion aus dem Politikerhandbuch scheint sie gelernt zu haben: Irgendwann dem Volk zeigen, dass man in der Lage ist, hart durchzugreifen und das Exempel am besten an einem Außenseiter statuieren.

Als sie zum dritten Mal die Tafel richtet, erkennt sie in der Menge den Kurden Dschawân, der sich genau an den von allen gemiedenen Platz des Christen setzt und obendrein auch die Hand nach der Schüssel süßen Reis ausstreckt.

Der Haschischkerl, von dem wir auch schon erzählt haben, saß neben ihm; und als er sah, dass der Kurde die Schüssel an sich heranzog, lief er von seinem Platze fort, der Haschischrauch entwich aus seinem Kopfe, und er setzte sich weit weg, indem er rief: "Nach dieser Schüssel gelüstet mich nicht mehr!" Doch der Kurde Dschawân streckte die Hand nach der Schüssel aus in Gestalt einer Rabenklaue, schöpfte mit ihr und zog sie geballt zurück, so dass sie einem Kamelshufe glich.

320. Nacht

Zumurrud beschließt, die Volksküchentradition beizubehalten, und beim nächsten Neumond hält sie wieder eine Massenbeköstigung ab und erkennt dabei in der Menge Barsûm, den Christen, der sie damals raubte:

"Dies ist das erste Vorzeichen des Trostes und der Erfüllung meiner Wünsche!"

Barsûm greift nach einer etwas entfernt von ihm stehenden Schüssel mit süßem Reis, wofür man ihn tadelt:

"Wie kannst du deine Hände nach etwas ausstrecken, das fern von dir steht!"

Ausgerechnet ein Haschischesser nimmt ihn in Schutz. Es kommt zum Handgemenge, und die Zumurrud lässt ihn vor sich führen:

"Du da, Blauauge, wie heißt du? Und weshalb kommst du in unser Land?"

Sie betreibt etwas Schmu mit einer geomantischen Tafel und spricht:

"O du Hund, wie kannst du es wagen, Könige zu belügen? Bist du nicht ein Christ? Heißt du nicht Barsûm? Bist du nicht gekommen, um etwas zu suchen?"

Barsûm gesteht.

319. Nacht

Neulich vor der Lesung: Wir drehen wegen eines Soundchecks die Hintergrundmusik runter. Als wir fertig sind, gehen wir an die Bar. Die bedienenden Mädchen: "Diese Stille ist so unheimlich." Tatsächlich kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, wie dieselbe Situation vor 40 Jahren ausgesehen hätte. Vielleicht hätte da irgendwo ein Radio gedudelt. Ohne Band keine Beschallung. Hier und da eine Jukebox, ein Plattenspieler mit lächerlicher Verstärkung.
Warum hieß Ilja Richters Show eigentlich "disco", wo doch die Bands live auftraten?

*

 

In allen Ehren auf den Thron geführt, lässt Zumurrud die Schatzkammern öffnen und verteilt Geschenke an die Krieger.

Alter politischer Trick der neu zur Macht Gekommenen: Sich die Gunst derer sichern, die man braucht, um einen zu stürzen. Zufriedene Krieger putschen nicht. Oder wie Samuel Huntington sagte: "Give them toys." Und er fügte hinzu, dass man sich um die Marine weniger Sorgen zu machen brauche. Admirale putschen nicht.

Aber auch das Volk macht sie sich gewogen:

denn sie hob Steuern auf und ließ den Gefangenen freien Lauf, und sie schaffte die Bedrückungen ab, so dass alles Volk sie liebgewann.

Aber sie hat ihren Mann, Alî Schâr, nicht vergessen

Dir gilt, trotz all der Zeit, mein Sehnen stets aufs neue;
Des wunden Auges Tränen werden immer mehr.
Und weine ich, so wein ich um Liebesleides willen;
Denn ach, die Trennung wird dem Herzen schwer.

Angesichts der möglichen Entdeckung ihrer Weiblichkeit schickt sie Sklavinnen und Nebenfrauen in getrennte Räume:

sie wolle für sich allein leben, ganz der Frömmigkeit ergeben.

Nach einem Jahr lässt sie Bauherren und Zimmerleute einen Platz von der Länge und Breite einer Parasange (ca. 6 km) herrichten. Nachdem das geschehen ist, lädt sie das gesamte Volk ein, am Tisch des Königs zu speisen.

Und wer nicht gehorche, der solle über der Tür seines Hauses aufgehängt werden.

Daraus spricht wohl die Angst, bei der Party allein zu bleiben. Man kennt ja die Ausreden: Ich habe gerade einen Auftritt in Karlsruhe, meine Tochter hat Halsschmerzen, mein Onkel ist zu Besuch. Gut, wenn einem dann solches Drohpotential zur Verfügung steht.

Bei der Feier essen alle bis auf Zumurrud, die sich auf den Thron setzt.

Und jeder, der am Tische saß, sagte sich: "Der König sieht mich allein an."

318. Nacht

In der Höhle mit des Räubers Mutter allein gelassen, greift Zumurrud zu einer List:

"Soll ich denn warten, bis jene vierzig Kerle kommen und mich abwechselnd schänden und mich einem Schiffe gleich machen, das im Meere untergeht?" Darauf wandte sie sich zu der Alten, der Mutter des Kurden Dschawân, und sprach zu ihr: "Liebe Muhme, willst du nicht mit mir aus der Höhle hinausgehen, damit ich dich lausen kann."

Während sie die Alte laust, schläft diese vor Wohlbehagen ein.

Sofort sprang Zumurrud auf, zog die Kleider des Kriegers an, den der Kurde Dschawân ermordet hatte, gürtete sich sein Schwert um die Hüften und band sich seinen Turban ums Haupt, so dass sie wie ein Mann aussah. Dann bestieg sie das Ross, nachdem sie die Satteltaschen mit Gold aufgeladen hatte.

Warum sie nicht in Frauenkleidern zurückreitet und Alî Schâr sucht, bleibt unklar. Ist sie als Frau leichte Beute?

Um nicht den Männern des getöteten Kriegers zu begegnen, wendet sie sich von der Stadt ab und reitet durch die Steppe und ernährt sich zehn Tage von Kräutern. Als sie eine Stadt erblickt, reitet sie darauf zu und wird von den Bewohnern freudig begrüßt:

"Allah gebe dir Heil und Sieg, o unser Herr und Sultan!"

Auf ihre Irritation hin, erklärt ihr der Kammerherr den seltsamen Brauch,

"dass die Krieger, wenn ein König stirbt, ohne einen Sohn zu hinterlassen, vor die Stadt ausziehen und dort drei Tage lagern. Und wer immer auf dem Wege naht, auf dem du gekommen bist, den machen sie zum Sultan über sich."

Was geschieht, wenn die drei Tage um sind und keiner vorbeigekommen ist, sagt der Kammerherr nicht.

Zumurrud erkennt schnell die Lage:

"Glaubet nicht, ich sei vom gemeinen Volk der Türken! Nein, ich bin einer von den Söhnen der Vornehmen."

Und von dem Gold der Satteltaschen spendiert sie Almosen.

317. Nacht

Während ich dies schreibe, wurschteln die Müllmänner auf dem Hof herum. Heute sind die Papier-Container dran. Bekommen die Papier-Müllmänner weniger Lohn, weil ihnen die Geruchsbelästigungszulage nicht zusteht? Und bekommen die Bio-Müllmänner einen Extra-Bonus für ihre besonders eklige Tätigkeit? Gibt es eine Hierarchie unter den Müllmännern, die sich nach Stinkigkeit richtet – wer lange genug dabei war, darf sich hochdienen: Vom Bio-Müll über Hausmüll, Glasmüll und Grüner-Punkt-Müll bis zum Papiermüll? Oder ist die Hierarchie genau umgekehrt – wer am meisten stinkt, hat am meisten zu sagen? Schließlich haben sie sich diesen Beruf ja ausgesucht, die Jungs, die früher immer schon mit Pampe gespielt, alte Milchtüten untersucht und dem Vergammlungsprozess von Gurken zugeschaut haben. Jene Teenager, bei deren Betreten des Büros die Berufsberaterin schon das Formular zur Anmeldung in den Städtischen Müllwerken zückte, da sie ihre Pappenheimer am Geruch erkannte.

*

Alî Schâr schläft weiter, und ein Räuber nähert sich dem Haus, der Alîs Turban stiehlt, um einzubrechen. Zumurrud hält ihn für Alî, pfeift ihn zu sich und lässt sich selbst mit einer Satteltasche Gold an einem Strick herab. Der Räuber wirft sie sich über die Schulter und eilt fort. Verwundert über die plötzliche Kraft spricht Zumurrud den vermeintlichen Geliebten an.

Als er ihr keine Antwort gab, tastete sie nach seinem Gesicht und fühlte  seinen Bart den Palmbesen gleich, den man im Badehause benutzt, als wäre er ein Schwein, das Federn verschluckt hat, deren Enden ihm wieder zum Halse herausgekommen sind. Erschrocken rief sie aus: "Was bist du denn?" "Du Metze", antwortete er, "ich bin der Kurde Dschawân 317, der Schelm, von der Bande des Ahmed el-Danaf! Wir sind vierzig Räuber, und alle werden heute nacht Freude an dir haben, vom Abend bis zum Morgen!"

Wieder vierzig Räuber! Ob nicht vierzig auch einfach ein Synonym für "viel" gewesen sein mag?

Es wird kurz die Hintergrundgeschichte des Räubers erzählt, der für die Bande die Höhle vor der Stadt ausfindig gemacht hat, dort zunächst seine Mutter untergebracht hat, dann einen schlafenden Krieger vor der Höhle erschlagen und sich dessen Kleider bemächtigt hat.

317 Dschawân = Jüngling

316. Nacht

Die Alte betritt das Haus und bietet den Sklavinnen den Schmuck an.

Eine jede kaufte ihr etwas ab.

Das heißt, sie sind versklavt, verfügen aber dennoch über Geld (und wahrscheinlich über ein regelmäßiges Einkommen).

Die Sklavinnen gewähren ihr Eintritt zum Gemach der seufzenden Zumurrud, die gefesselt auf dem Boden liegt. Sie bittet die Sklavinnen, Zumurrud solange von den Fesseln zu befreien, wie der Herr nicht zuhause ist und flüstert ihr ins Ohr, sie möge sich für die kommende Nacht bereithalten, da Alî Schâr unter ihrem Fenster auf sie wartet. Auf sein Pfeifsignal hin, möge sie sich an einem Seil herablassen.
Die Alte kehrt zu Alî Schâr zurück und berichtet ihm von ihrer Entdeckung. Er wird nicht müde, lange Gedichte zu improvisieren. Doch als es Abend wird, schläft er auf der Bank vor ihrem Fenster ein.

"Denn er hatte seit langer Zeit in seinem Liebesleid nicht mehr geschlafen, und er ward wie ein Trunkener."

Ein ähnliches Motiv findet sich auch in einem meiner Lieblings-Grimms-Märchen "Die Rabe".

315. Nacht

Meine Zigaretten

– Semper: Die ersten Zigaretten, die ich bewusst roch, da meine Eltern sie rauchten. Eines Tages gab es sie nicht mehr und meine Eltern steigen auf Cabinet um.
Image: Hatten sie eins?

– Karo: Meine erste durchgerauchte Zigarette war eine Karo. Keine bewusste Wahl. Ich rauchte sie einfach, weil Robert, unser Gitarrist, sie bei mir im November 1989 liegengelassen hatte. Damals probten wir in meiner Wohnung. Wie meine Nachbarinnen das aushielten, weiß ich nicht. Schlimm, dass es Karo war, denn je ekliger die Zigarette ist, umso eher geht man der von Allen Carr beschriebenen Selbstüberlistung auf den Leim: Das schmeckt so furchtbar, davon kann ich nicht süchtig werden.
Image: filterlose Hausmeister- und Blueser-Zigarette – nur für harte Jungs

– Orient: Die ersten Zigaretten, die ich annahm, nachdem sie mir angeboten wurden. Auch eine Filterlose.
Image: Ein ebenso furchtbares Kraut wie Karo. Wenn ich mich richtig erinnere, kostete sie aber 2 Mark statt 1,60. Und durch ihre Seltenheit zog man praktisch automatisch die Aufmerksamkeit auf sich, wenn man sie rauchte.

– Marlboro: Die erste Zigarettenpackung, die ich mir selber kaufte. In einem Film im Kino International sagte jemand, nachdem er auf den vollen Aschenbecher angesprochen wurde: "Jetzt ist’s auch egal, jetzt rauch ich mich zu Tode." Ich ging rüber ins Café Moskau, um mir Zigaretten zu kaufen. Die einzige Sorte, die hatten, war Marlboro. Noch vor der Währungsunion kostete die Packung sagenhafte 7 Mark, die ich nach kurzem Zögern zahlte.
Image: Marlboro ging eigentlich gar nicht. Auch wenn ich die Ku-Klux-Klan-Legende nicht glaubte, so wollte man sich an den Untaten von Philipp Morris nicht beteiligen, vom lächerlichen Cowboy Image ganz zu schweigen. Marlboro also nur, wenn nichts anderes in der Nähe war.

– Cabinet. Billig. Angeblich unparfümiert.
Image: Osten, Osten, Osten. Meine Eltern hatten sie geraucht, eigentlich hätte ich aus Abgrenzungsgründen Club vorziehen müssen, aber Club war eine Angestelltenzigarette. F6 und Juwel schmeckten ekelhaft.

– Pall Mall: In den nächsten zehn Jahren griff ich immer wieder zu Pall Mall. Anfänglich zu den filterlosen, später zu den normalen. Und schließlich zu den leichten.
Image: Haben die überhaupt eins? Wenn ja, ist es mir nicht bekannt. Und gerade das machte sie sympathisch. Rauchte man Camel, Marlboro, Lucky Strike oder gar HB, Benson & Hedgess, wurde man sofort in eine Image-Ecke gestellt, die man entweder verteidigen oder cool zur Schau stellen musste. Beides war mir fremd.

– Lexington: Von 1992 bis 1993 rauchte ich fast ausschließlich die in 25er Packungen von Vietnamesen verkauften Lexington.
Image: Ich glaube, Lexington war unbekannt und imagelos. Fast ausschließlich von Vietnamesen verkauft, aber nicht so ossi-mäßig daherkommend wie Golden American, die mich irgendwie an Billigparfüm, Billigschnaps usw. erinnerten.

– R1: Ab Mitte der 90er – ich war schon auf dem Absprung – rauchte ich nur noch Light-Zigaretten. Und die Zahlen 0,1 mg (oder waren es 0,0001? – jedenfalls Nullen und Einsen) suggerierten zehnmal weniger Vergiftung als bei Normalqualm. Im finanziellen Notfall waren’s dann wieder Cabinet Light oder wenn es keine anderen mehr gab, sogar Marlboro Light.
Image: R1 hatten ein seltsames "Ich-rauche-und-bin-trotzdem-gesundheitsbewusst"-Image, von dem es sich zu distanzieren galt. Für so blöde wollte man nun doch nicht gehalten werden. Aber sich mit dickem ungefiltertem Ruß zudröhnen ging eigentlich auch nicht mehr – da gaben Lunge und Kondition deutliche Signale.

– Samson Light Tabak. Zwischendurch natürlich auch immer wieder Tabak, der Samson Light schmeckte (so bildete ich mir wenigstens ein) etwas süßlich, anders als Drum oder Javaanse Jongens. Ich drehte aus Not.
Image???

Und das ist doch der größte Mist: Dass man zusätzlich zu all der Vergifterei sich auch noch diese Gedanken übers Image gemacht hat. Selbst wenn man, wie ich, nicht ans Image glaubte und sich vom Image distanzieren wollte, verbrachte man ja auch in der Hinsicht Zeit mit Selbst-Image-Gestaltung zu.

 

**

Alî Schâr springt auf, sieht, dass Zumurrud verschwunden ist und läuft nun tagelang klagend und Liebes- und Leidensgedichte improvisierend durch die Stadt, währenddessen er sich mit zwei Steinen auf die Brust schlägt. Er schläft in den Gassen, und eines Tages entdeckt er neben seiner Wohnung

seine Nachbarin, eine alte vortreffliche Frau, die sprach zu ihm: "Mein Sohn, Gott gebe dir Genesung! Seit wann bist du irre?"

In der Tat: Vortrefflich!,

Er erwiderte ihr mit diesen beiden Versen:

Sie sprachen: Du rasest in Liebe. Da gab ich ihnen zur Antwort:
Ja nur die Rasenden kennen des Lebens Süßigkeit.
Lasst mich nur immer rasen! Bringt sie, die mich berückte;
Und tadelt mich nicht mehr, wenn sie mich vom Wahnsinn befreit!

Nachdem er ihr die Geschichte erzählt hat, rät sie ihm, einen Juwelierkorb zu kaufen und diesen mit Geschmeide zu füllen.

"ich will ihn auf den Kopf nehmen, wie eine Hökerin, und umherziehen, indem ich in den Häusern nach ihr suche."

Als nun alles bei ihr war, zog sie ein geflicktes Kleid über den Kopf, nahm einen Stab in die Hand und lud den Korb auf.

Sie läuft von Ort zu Ort, bis sie das Haus des Nazareners erreicht, aus dem sie ein Stöhnen vernimmt.

314. Nacht

Alî Schâr lässt sich nun überreden zu essen. Und der Christ holt eine Banane hervor, die er in zwei Hälften teilt.

In die eine tat er gesättigtes Bendsch, das mit Opium vermischt war und von dem ein Quentchen einen Elefanten hätte umwerfen können.

Schneewittchen?

Diese Hälfte gibt er Alî Schâr mit den Worten:

"Mein Gebieter, bei der Wahrheit deines Glaubens, nimm dies!"

Alî Schâr fällt sofort in Ohnmacht.

Sobald der Nazarener das sah, sprang er auf seine Füße so schnell, wie ein grindiger Wolf aufspringt oder wie ein plötzlicher Spruch aus dem Richtersmund erklingt.

Er läuft nach Hause zu seinem Bruder, der der erfolglose Bieter auf die Sklavin Zumurrud gewesen war. Dieser hatte sich nur nach außen als rechtgläubiger Muslim ausgegeben ("Raschîd ed-Dîn"). Und sein jüngerer Bruder hatte ihm nun versprochen, diese zu rauben.

Sein Name aber war Barsûm.

Er lässt sie entführen und beschimpft sie zu Hause:

"Du Metze, du schamloses Geschöpf, du wirst schon sehen, wie ich dich strafe! Beim Messias, bei der Jungfrau, wenn du mir nicht gehorchst und meinen Glauben nicht annimmst, so werde ich dich wahrlich mit allen Folterqualen strafen."

Sie jedoch ruft, bei allen Foltern das islamische Glaubensbekenntnis.

Interessant wäre, aus welcher Zeit diese Geschichte nun stammt bzw. entsprechend religiös eingefärbt wurde.
Bemerkenswert: Der Christ wird "Nazarener" genannt.

313. Nacht

Das Weib von Alî Schâr ahnt Böses, als dieser den Wasserkrug holt und sie belügt, er habe den Vorhang einem Kaufmann verkauft:

"Mein Herz ahnt Trennung."

und rezitiert die Verse

Der du die Trennung suchst, gemach!
Lass die Umarmung dich nicht trügen!
Gemach! Des Schicksals Art ist Trug;
Das Glück muss sich der Trennung fügen.

Alî kehrt mit dem Wasserkrug zum Christen zurück, da sitzt dieser schon in der Eingangshalle des Hauses und erbittet außerdem noch etwas zu essen:

"Sei nicht einer von denen, die erst eine Wohltat erweisen und sie dann widerrufen."

Alî schickt ihn mit der Ausrede fort, er habe nichts zu essen im Hause. Darauf gibt ihm dieser hundert Dinare, damit Alî etwas vom Markt besorge.

Nun sagte sich Alî Schâr: "Dieser Christ ist von Sinnen! Ich will ihm die hundert Dinare abnehmen und ihm etwas bringen, das zwei Dirhems wert ist und ihn so zum besten haben."

Die Tür verschließt er mit einem Vorhängeschloss, eilt zum Markt und kehrt zurück mit geröstetem Käse, weißem Honig, Bananen und Brot. Doch der Christ besteht darauf, dass Alî mit ihm isst:

"Mein Gebieter, die Weisen sagen: Wer nicht mit seinem Gaste isst, der ist ein Bastard."

312. Nacht

Außerdem besorgt er, auf ihren Auftrag hin,

Speisen und Trank für drei Dinare

sowie Seide, Silber-, Gold und Seidenfäden, denn wie schon auf dem Marktplatz verkündet, ist sie eine geschickte Stickerin.
Doch zunächst wird gegessen, getrunken und

Darauf gingen sie zum Ruhelager und genossen einander; und sie verbrachten die Nacht eng umschlungen hinter dem Vorhange.

Am nächsten Tag macht sie sich ans Werk und bestickt die Seide mit Tierbildern,

es blieb kein einziges Tier der ganzen Welt übrig, das sie nicht darauf abgebildet hätte.

Alî Schâr möge dieses Tuch verkaufen, aber nicht an einen Vorübergehenden,

denn das würde zur Folge haben, dass wir voneinander getrennt werden.

Doch auf dem Markt wird er von einem Christen mit immer höheren Preisen gedrängt, so dass er es ihm schließlich verkauft. Nach dem Deal verfolgt der Christ ihn auch noch:

"Du Nazarener, was ist’s mit dir, dass du hinter mir hergehst?"

Wird "Nazarener" eigentlich als Schimpfwort gebraucht?

Seine Ausrede, er habe am Ende der Straße zu tun, scheint durchsichtig, als er ihm bis zur Wohnung folgt und Alî um ein Glas Wasser bittet.

311. Nacht

Da Alî Schâr nun aber überhaupt kein Geld besitzt, lässt sich die Sklavin, unter dem Vorwand genauer beäugt zu werden, in eine Nebenstraße führen, wo sie Alî neunhundert Dinare als Kaufpreis und weitere einhundert Dinare für Etwaigkeiten gibt.
Der Handel wird vollzogen. Und zuhause bei Alî angekommen, fordert sie ihn auf, Haushaltsgeräte, Teppiche, Speis und Trank zu besorgen.

310. Nacht

Nun hat SAM geschlossen, das "Salads and More" in der Plesserstraße. Ein Reszaurant, dass einen Tick zu teuer war, um dort wöchentlich essen zu gehen, aber einmal im Monat habe ich mir dort einen sehr schmackhaften Tagliatelle-Teller gegönnt. Gratis als Vorspeislein gab#s meist noch solche Häppchen wie Entenleber an Erdbeer-Mousse. Gute Weine. Kleine aber feine Auswahl. In Mitte würde man dafür mindestens das Doppelte zahlen. Aber ich hatte im letzten Jahr immer wieder Schlimmes befürchtet, wenn ich da abends manchmal alleine oder zu zweit saß und das Personal beflissen das Besteck drapierte, höflich, aber mit routiniert, als wäre ich einer von fünfzig, die hier gerade säßen. Gestern Abend noch versuchte ich die Gespielin einzuladen (sie hatte bereits gegessen). Heute früh nun Laufschrift im Fenster: Neueröffnung Indisches Restaurant. Und die Geschmacklosigkeit der hingeworfenen Laufschrift sagt schon viel über die Sorgfalt, die die Indisch-Köche in der Küche walten lassen werden. Nachdem drei Freunde zu drei verschiedenen Zeitpunkten in drei verschiedenen Restaurants eine Lebensmittelvergiftung bekamen, stehe ich dieser Nationalküche etwas skeptisch gegenüber. Hähnchen-, Lamm oder Veggie-Gulasch in mehr oder minder variierten Curry-Soßen. Dazu eine Mikro-Salat-Imitation, die die Inder wahrscheinlich als Garnitur: Vierteltomätchen, ein Scheibchen blasse Gurke, drei Streifchen Möhre, ein vertrocknetes Salatblatt und ein schöner Klecks Joghurt obendrauf. Ach, meine Trauer über die SAM-Schließung ventiliert sich nun in Inder-Bashing. Ausländerfeindlichkeit unsubtil. Ach was: In der Plesserstraße gibt’s schon einen Billig-Inder. Ich frage mich, was sie mit dem Klavier machen werden.

*

Auf dem Basar drängen sich die Kaufleute. Und Alî Schâr bemerkt, dass eine Sklavin verkauft wird;

die war fünf Fuß hoch, ihr Wuchs von ebenmäßiger Art, ihre Wangen waren rosig zart und ihre Brüste waren rund gepaart. (…) Der Name jenes Mädchens aber war Zumurrud.

Beim Bieten tut sich besonders ein hässlicher Alter namens Raschîd ed-Dîn hervor, dessen Hässlichkeit durch seine teuflisch blauen Augen noch unterstrichen wird. Er gewinnt die Auktion, aber der Eigentümer meint zum Makler:

"Ich habe geschworen, sie nur einem Manne zu verkaufen, den sie selber auswählt. Frage sie also um ihre Meinung."

Warum lässt er sie dann nicht einfach frei?

Angesichts des Alten rezitiert sie:

Ich bat sie einst um einen Kuss; doch sie erblickte
Mein Weißhaar, das mir Gut und Wohlstand nicht erspart.
da wandte sie sich eilends ab und sprach die Worte:
Bei Ihm, durch den der Mensch aus nichts geschaffen ward,
Mit grauem Barte schließe ich wahrlich keinen Bund!
Stopft man mir denn im Leben schon Watte in den Mund?

So werben verschiedene Alte um sie, und jeden verspottet sie durch ein Gedicht, bis ihr Blick auf Alî Schâr fällt.

309. Nacht

7 Uhr. Ich werde vorm Weckerklingeln wach. Stehe besorgt auf und prüfe den Himmel auf dem Balkon: Kein Wetterumschwung. Regen und keine Ende in Sicht. Soll ich’s vielleicht doch wagen? Keine Frage – irgendwie würde ich durchkommen. Aber dann, auf den letzten 10 Kilometern das Geacker, ohne noch genügend innere Wärme zu haben. Und dann liege ich womöglich eine Woche flach. Ich entscheide mich dagegen. Beim Frühstück kommen wir Zweifel. In meinem Kopf sehe ich die Läufer bei ihren Vorbereitungen. Im Tiergarten riecht es jetzt nach Franzbranntwein und Pisse, aus den Lautsprechern die peinliche Bumsmusik, freundliche Jugendliche auf den Kleidungscontainern, die das alles auf sich nehmen und eigentlich kaum etwas vom Geschehen mitbekommen. Die ohnehin stets matschigen Wiesen werden jetzt versumpft sein. Die Läufer kleben sich ab, machen sich warm, betreiben ihre persönlichen Rituale, ziehen sich die Mülltüten über, um warm zu bleiben. Ob ich vielleicht doch noch losgehe. Ich könnte es noch schaffen. Schließlich habe ich fast 100 Euro für die Anmeldung bezahlt. Ein dummer Gedanke. Als ob der Betrag etwas daran ändert, wenn ich nachher im Bett meine Grippe auskuriere.
Setze mich zum Trost ans Klavier. Meine neue Aufgabe: Mozarts Es-Dur-Sonate 1. Satz, KV 282. Perlende Dreiklänge in die linke Hand bekommen.

*

Desweiteren lehrt der sterbende Vater den Wert des Reichtums, die Notwendigkeit der Barmherzigkeit, die Ehrfurcht vor Älteren, sich vor Weingenuss in Acht zu nehmen.

Dan schwanden ihm die Sinne, und er schwieg eine Weile; als er wieder zu sich gekommen war, bat er Gott um Verzeihung für seine Sünden, sprach das Glaubensbekenntnis und ging ein in die Barmherzigkeit.

Einen Atheisten müssen doch derartige Parallelen zwischen Christentum und Islam erstaunen.

Dem Verstorbenen schreiben sie aufs Grab:

Aus Staub geschaffen tratest du ins leben
Und hast der Sprache edle Kunst erlernt;
Du kehrtest heim zum Staube jetzt als Toter,
Als hättest du dich nie vom Staub entfernt.

Kurze Zeit darauf verstirbt auch die Mutter. Alî Schâr versucht, Handel zu treiben, jedoch ohne Glück. Da

schlichen sich die Bastarde mit List bei ihm ein und gesellten sich zu ihm, bis er mit ihnen schlechte Dinge trieb und abseits vom rechten Wege blieb; und er schlürfte dein Wein aus Bechern ein, und zu den Mägdelein ging er früh und spät zum Stelldichein.

Hast du dein ganzes Leben lang
Für dich gesammelt und gerafft –
Wie hast du dann Genuss an dem,
Was du gesammelt und geschafft?

Bald hat er sein ganzes Geld verprasst, und seine Bastard-Freunde, an die er sich nun wendet, verleugnen ihn.

Dann ging er zum Basar der Kaufleute.

308. Nacht

Null Uhr, es ist ziemlich frisch. Radle durch Mitte. Seit langem mal wieder durch die Oranienburger Straße. Kaum noch etwas wiederzuerkennen. Die letzten 10 Jahre haben so viel verändert wie die 10 Jahre zuvor. In den Räumen der Assel ein Luxus-Schuh-Geschäft. Selbst wenn es 50 Jahre besteht, wird es nie ein Tausendstel an Menschen glücklich machen, wie die Assel früher in einem Monat.

Vor der Synagoge stehen nie Nutten, auch nicht auf der gegenüberliegenden Seite. An wen muss man sich da als Synagogen-Verantwortlicher wenden?
Auf der Brücke Bodestraße die russische Akkordeonistin, der ich schon vor 15 Jahren dort immer auf dem Weg zur Uni begegnet bin. Gebe ihr 50 Cent und spreche sie zum ersten Mal an, nur kurzer Wortwechsel; erfahre, dass sie aus Moskau stammt und in der Nähe wohnt. Aber eigentlich wollen wir beide nicht reden. Fahre weiter. Die historische Mitte fast ausgestorben, und ich bin erschüttert wie schon früher, wenn man sich der Einmaligkeit dieses einsamen Moments bewusst wird. Ich stehe am Berliner Dom, der angemessen beleuchtet ist und bin jetzt der Einzige, der das sieht. Was für ein Luxus!

*

Am Tisch des Kalifen el-Mamûn gibt es eine Sitzordnung. Und mit jeder weisen Antwort, die der Fremde dem Kalifen gibt, rückt er eine Stufe höher, d.h. näher an den Kalifen.

Dann rüstete man zum Trinkgelage; die heiteren Tischgenossen kamen zuhauf, und der Wein begann seinen kreisenden Lauf.

Der Weise aber verweigert sich und erwidert auf die verwunderte Nachfrage des Kalifen:

"Wenn dein Knecht Wein tränke, so würde der Verstand weichen und die Torheit ihn erreichen."

El-Mamûn belohnt ihn für diese Weisheit mit hunderttausend Dirhems, einem Ross und prächtigen Gewändern.

Ob er zu saufen aufhört, wird hingegen nicht berichtet.

*

Die Geschichte von Alî Schâr und Zumurrud

In Chorasân lebte ein Kaufmann, der, als er merkt, dass er stirbt, seinen Sohn zu sich ruft, und ihn zu Misstrauen ermahnt:

"Werde mit keinem Menschen vertrauter, als es sich gebührt."

In deiner Zeit lebt keiner, des Freundschaft man erstrebet,
Kein Freund, der Treue wahrt, wenn das Geschick betrügt.
Drum leb für dich allein, verlasse dich auf niemand!
Mein Wort ist guter Rat für dich, und das genügt.

Soziologisch gesehen, sind Vertrauen und Misstrauen zwei Seiten einer Medaille. Die Medaille heißt Reduktion von Komplexität: Angesichts der Unfähigkeit, genügend Informationen zu haben, entschließt man sich, zur Erwartung, dass Alter im Sinne von Ego handelt. Oder (im Falle von Misstrauen), dass er das nicht tut. Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen befähigen zu auf Intuition beruhenden Entscheidungen.
Psychologisch hingegen sind weniger misstrauische Menschen meist im Vorteil. So konnten in einer Studie die misstrauischen Probanden weniger gut Lügner am Gesicht erkennen.

Doch auch folgendes gibt der Vater mit auf den Weg:

Es bietet nicht zu jeder Zeit und Stunde
Sich uns Gelegenheit zu guter Tat.
Wenn sie dir möglich ist, so tu sie eilends,
Eh sich die Möglichkeit entzogen hat.