Individualität

Ihr Augenglanz, das helle Strahlen ihrer Zähne,
sie gleicht der Birke, die im Winde biegsam steht.
Kein Gott könnt schaffen, was sich dort im Tanze dreht.
Für solche Schönheit gibt es keine Musterpläne.

Ich hielt im Arm sie, schau, da rollte eine Träne.
War sie von mir? Von ihr? Ich fragte nicht. ’s war spät.
Ich sog an ihrer Individualität,
am Duft der ungeheuer schwarzen, weichen Mähne.

                                   *

Dank ich dem Zufall? Deinen Eltern? Deinen Genen?
Muss evolutionäre Sprünge ich erwähnen?
Doch soll ich dich auf deine Gene reduzieren?

Ich hört’, dass man zu dem wird, was man denkt und tut.
Und wenn das wahr ist, tut das, was du tust, mir gut.
Denn auch das Lächeln muss man jeden Tag trainieren.

Das Helfer-Paar

Ohne jede Klag
ertrugen sie die Klagen dessen, dem sie halfen.
Nichts konnt sie stoppen, nichts,
wenn wer sie brauchte.
Obschon die zwei von fern betrachtet,
oft Hilfe nötiger hatten als jene.
Es ruhten nicht die Hände noch die Herzen.
Nur selten leiser Zweifel: „Schaffen wir’s auch diesmal?“
Ein Blick zum Andern:
Gewiss. Gewiss.

Bitte

Nur noch einmal dreh das Rad, Fortuna, mir!
Und gib ihm Schwung, dass es nicht stehenbleibe.
Denn geplagt hab ich mich lange schon.
Jetzt mag irres Spiel für mich entscheiden.

Und sollt dabei ich stürzen, ganz zerbrechen,
statt zu wachsen und zu strahlen, wie’s geplant,
So werd ich dir nicht zürnen, Wilde.
Ich nehm’s, wie auch die Münze fallen mag.

Spätsommergewitter

Die Luft riecht elektrisch.
Man spürt den Staub auf der Zunge.
Zwei dicke Tropfen klatschen ins Haar.
Sekunden später fliehen wir nass.

Und sicher aus dem vierten Stock
schreien wir gegen den Wind vom Balkon.
Wir sehen die Blitze, bevor wir sie hörn.
Sie markieren die Stadt als ihr Revier.
Am ächzenden Kran schwingt drohend der Haken.

Unterm geparkten Ford ein Kätzchen,
geflohen vorm Krachen, vorm Wasser.
Zwei durchklitschte Mädchen versuchen vergeblich, es zu locken,.
Sie sind tätowiert bis zum Hals.

Die Ursache

Es war natürlich allen klar,
dass ihr Fremdgehen die Ursache war
für all das Leid, das dann folgte.
Seine Reaktion – verständlich.

Was hat sie gelitten, geweint und gehofft,
als alles noch heil war, ab seine Tür geklopft.
Doch er gab ihr kein Lächeln und sich keine Müh.
Und sie zusammen mit ihm – allein.

Für die Richterin war’s einfach:
Wie löblich, dass sich ein Mann auch um die Kinder kümmert.
Sie hat’s schließlich durchs Fremdgehn verschlimmert.
Er die Kinder. Er das Haus.
Sie zahlt den Unterhalt. Und aus.

Konstantin Simonow – Man wird nicht als Soldat geboren

Der zweite Teil der Trilogie umreißt die letzten Wochen des Kampfes um Stalingrad. Drei Hauptfiguren: General Serpilin, der inzwischen zum Bataillonskommandeur aufgestiegene Sinzow und die ehemalige Partisanin und Ärztin Tanja. Wie in „Die Lebenden und die Toten“ kreist Simonow auch hier um das Dilemma der Kämpfenden: Einerseits wollen sie die Heimat von den mörderischen Deutschen befreien, andererseits lauert eine ähnlich tödliche Gefahr im Rücken – die Gnadenlosigkeit des stalinistischen Systems, das zu bezeichnen für den Autor selbst heikel ist.
Und so ist der eigentliche Held des Romans für mich der Autor selbst, den man praktisch beim Schreiben beobachten kann, wie er sich dem schwierigen Thema des Stalinismus nähert. Sicherlich, der Roman wurde in der Tauwetterzeit veröffentlicht, aber auch wenn der Großteil der politischen Gefangenen entlassen wurde, so gab es die Lager ja immer noch. In „Die Lebenden und die Toten“ muss sich Sinzow dafür rechtfertigen, ohne Parteibuch aus dem Kessel gekommen zu sein, man hält ihn für einen Spion. Nun legt Simonow noch eine Kohle drauf:
Das Gulagsystem wird angesprochen: Kolyma. Zwanzig Jahre Haft für Fleischdiebstahl. Serpilin, der wegen einer Denunziation verhaftet wurde.
Stalins Mitschuld am Krieg durch den Kuschelkurs mit Hitler.
Stalins Paranoia
Das Denunziantentum, die Große Säuberung.
Der brutale Befehl 227. (Strafbataillone, Sperrfeuer, „Kein Schritt zurück“-Befehl)
Simonow sichert sich auf der anderen Seite durch absolute Sowjet-Loyalität ab. Seine Helden sind durchweg tapfer und todesmutig. Wer nicht an der Front dienen will, sondern seine Arbeit als Adjutant in Moskau liebt, ist ein Lump. Und wer an der Front ist, aber vor lauter Angst eine etwas sicherere Stelle sucht, ist es ebenso. Selbst ein Arzt, der beim Betreten eines mit Leichen und Halbtoten gefüllten Gefangenenlagers einen Schock bekommt und sich nicht erheben kann, wird als Schwächling abgekanzelt. Der Finnland-Krieg wird nicht infrage gestellt, die Funktion der Polit-Stellvertreter auch nicht. Die Teilnahme an den Kämpfen im Bürgerkrieg ist eine Auszeichnung (dass man auf bolschewistischer Seite gekämpft hat, versteht sich von selbst).
Der Roman nimmt zirkulär immer wieder einige Topoi auf, z.B.
Gewissen.
Gewissen ist einerseits Loyalität zur Sowjetunion. Andererseits heißt es auch, im richtigen Moment zur Menschlichkeit zu stehen und vor Höherstehenden nicht zu kuschen.
Schlaf.
Niemand bekommt genug Schlaf im Krieg. Und oft sind sie, wenn sie endlich dürfen, zu aufgewühlt, um zu schlafen. Vor allem für die Romanhelden ist geradezu Verachtung für den Schlaf typisch, den sie erst gegen Ende des Romans (und der Schlacht) bekommen.
Stalin wird regelrecht eingekreist: Serpilins Freund inhaftierter bzw. ermordeter Freund hat „etwas gesagt, was Stalin nicht passte“. Vorgesetzte von Serpilin kommen aus langen nächtlichen Besprechungen mit Stalin. Je weiter wir im Roman voranschreiten, umso häufiger sind Gespräche über Stalin, seinen Charakter, seine Kungelei mit Hitler, aber auch die Unfähigkeit der Personen, auszusprechen, was sie eigentlich wissen: Man kann Stalin eigentlich nur noch ertragen, weil sonst die Gefahr bestünde, dass Russland in die Hände Hitlers fällt. Und dann wird Serpilin wegen seines mutigen Bittbriefes zum Gespräch mit Stalin geladen. Dieses Kapitel ist wohl das mutigste des Buchs. Wir erleben mit Serpilin den russischen Führer mit all seiner Intelligenz, seines Charismas und seiner Menschenverachtung. Aber Simonow geht sogar noch einen Schritt weiter. Noch im selben Kapitel wechseln wir auf Stalins Perspektive, und jetzt muss jeder Leser wissen: Alles, was bisher nur Andeutung oder Vermutung über Stalin war, ist wahr. Was Serpilin herausschreien will: „Genosse Stalin, klären Sie das alles auf, geben Sie den Befehl dazu! Alles, von Anfang an!“, zeigt letztlich auf einen einzigen Mann: Stalin selbst. Zitat Stalin, als Serpilin erwähnt, dass er 1941 im Lager war: „Da hast du dir die passende Zeit zum Sitzen ausgesucht.“
Weiteres:
Die Schieber sind Gesindel, aber Simonow weiß, das Wodka als Tauschware in Ordnung ist.
Ein Leutnantsleben währt an der Front durchschnittlich neuen Tage.
Getreiderequirierungen rechtfertigt er.
Makarenko wird im Lager gerechtfertigt
Das Elend im Gefangenenlager habe er noch nicht gesehen, obwohl er im Lager war?
Halbdreckige Wodkagläser werden in Moskau mit Papier ausgewischt.
Trotz der Figurenliste am Anfang der deutschen Ausgabe des Buchs kann ich viele nicht auseinanderhalten. Iljin und Pikin und Ptizyn, Kolokolnikow und Kusmitsch, Sacharow und Sawaschilin. Das ist natürlich ein altbekanntes Problem, wenn Westeuropäer sich russischen Romanen nähern, aber Simonow macht es einem auch nicht leicht: Die positiven Figuren (und das sind die genannten alle) sprechen im Prinzip alle gleich. Tapfer, sachlich, kaum einer sagt mehr als nötig. Man macht keine unnötigen Worte. Umgekehrt sind die Schurken karikaturesker als bei Karl May angelegt. Ein komischer Typ stottert. Feige Typen sind überdies boshaft und boshafte Typen sind obendrein feige.
Für einen Kriegsroman gibt es erstaunlich wenig Kriegshandlungen. Wir sehen praktisch andauernd die unmenschlichen Konsequenzen. Und das ist Simonows Stärke.

Auf der ersten Seite des dritten Hefts

Komm, Lyrik, feinstes meiner Kunstgeschäfte!
Sollst die Gedanken durch die Formen leiten.
Wenn so die Schemen nur mein Denken weiten,
entfalten sich des Dichters pralle Kräfte.

Und wenn ich auch die alten Dichter äffte,
die das, was ich jetzt tu, getan vor Zeiten,
ich öffne gern die jungfräulichen Seiten
des dritten meiner fein linierten Hefte.

Vielleicht gelingt noch mal der große Bogen.
Vielleicht lass ich es mittendrin bewenden,
leis ahnend, dass ich nur mich selbst betrogen.

Bis dahin werd ich mich mit Lust verschwenden.
In vager Hoffnung, dass mir wer gewogen,
hier eine Warnung: Lasst euch ja nicht blenden.

Jetzt fehlte ihr ein Zahn

Er hatte es ja angekündigt.
Ich hätte besser aufpassen sollen.
Und nicht widersprechen.
Er hat auch seine guten Seiten,
zum Beispiel kann er lustig sein.
Manchmal. Wenn wir nicht streiten.
Ich provoziere ihn zu oft.
Ich muss wirklich besser aufpassen.
Er kann ja auch lieb sein.
Der Olli war ja viel schlimmer.
Eigentlich hab ich ihn nicht verdient.
Und die Küche hat er allein renoviert.
Er kann ja manchmal auch lieb sein.
Ich muss nur besser aufpassen.
Und provozieren darf ich nicht mehr.

Schmerz

Ich sink auf meine Knie nieder.
Mir ist, als ob ich heute beten müsst,
als verlör ich die Gabe zu lieben,
und nur ein Gott könnt helfen.

Ach, auch ich schrei aus tiefster Not zu dir.
Du döst gemütlich, trinkst Kakao.
Meine Stimme bleibt leer.

Mir ist, als schwebe mein Gebet
seifenblasengleich hinfort.
Und kaum begann es seine Reise,
ist es geplatzt,
als sei es nie gewesen.

Der Pessimist

Ick kann die Sonne sehen,
die unser Herz erfrischt,
und soll uff Arbeit gehen.
Dit wird doch allet nischt.

Ick gebe mir ja Mühe.
Für wen, frag ick, für wen?
Und ick muss uf die Knie,
wenn die am Zeiger drehn.

Wenn ick dann bei dir liege
und du ins Ohr mir zischt,
dann weeß ick, dit is Lüge.
Dit wird doch allet nischt.

Wahn

Halbe Freunde raunen leise,
doch mit Überzeugungsdrang:
Hinter all der schlimmen Scheise
steht doch ein Zusammenhang.

Und dann packt auch mich das Feuer,
das mir den Verstand fast raubt,
treibt mich in die Paranoia,
wenn man diesen Spuk bald glaubt,

Irre werden kann man nämlich,
wenn man ständig sucht nach Sinn.
Freu mich über jeden Tag, an dem ich
nicht verrückt geworden bin.

Ruf

Auf seinen Namen ließ er nichts kommen.
Das Wichtigste sei die Reputation.
Wem einmal der gute Ruf genommen,
sei kaum mehr wert als sein eigener Klon.
So ließ er sich von der Vorsicht führen,
um nur nicht den guten Ruf zu verlieren.
*
Er hatte noch vierzehn Tage zu leben.
Die Augen erstarrt, der Leib ein Skelett.
Was sollte ich da ihm an Hoffnung noch geben?
Ich stand am A. Er stand am Z
und quälte sich zum Chefarzt-Erbarmen
und fürchtete immer noch um seinen Namen.

Abschied von Buckow I – Die Perle

Es ruht der See, und faul sind heut die Mücken.
Die Villa duckt sich fast, sie will nicht prahlen.
Sie weiß durch ihre Schlichtheit zu verzücken.
Und könnt ich’s, würd ich dieses Bild wohl malen.

So hübsch der Ort, sie nennen ihn die Perle
in dieser sonst an Reizen armen Gegend.
Am Vormittag beharken rohe Kerle
das Unkraut zwischen Rosen. Wie bewegend!

Vier-Stern-Hotel, hier wird herumgenobelt.
„Sehr wohl, der Herr. Ein Bierschen. Mache ich.“
Doch bleibt man tief im Herzen ungehobelt.
„Salat auch ohne Schinken?“ – „Hamwa nich.“

Der Anwalt

Der Riedel holt dich da schon raus.
Du machst dir viel zu viele Sorgen.
Ein harter Hund. Der kennt sich aus.
Du siehst ihn ja am Dienstagmorgen.
Glaub an das Recht.
*
Das Raushaun hat nicht ganz geklappt.
Ich sitz hier drin schon sieben Jahre.
Den schlimmsten Anwalt wohl gehabt.
Wie ich hier rauskomm? Auf der Bahre.
Glaub an das Recht.

Balkonblick

Balkonblick Berlin. Zwei Uhr zwei.
Lebendiges Flackern und Glimmern.
In Wohnzimmern Fernseher schimmern.
Aus Angst oder Freude – ein Schrei.
Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern.
Sie lachen und gehen vorbei.

Ein Fenster, ein Schicksal, ein Glück.
Von Lichtenberg schau ich nach Westen.
Charlottenburg, da sei’s am besten.
In jeder Wohnung ein andres Geschick.
Wir leben darin wie in Kästen.
In einer von ihnen wohn ick.