Storytelling Plot oder Nicht-Plot

Über Jim Jarmuschs Filme:
“Man kriegt diese Filme nicht zu fassen, indem man ihre Handlung nacherzählt. Was etwa weiß man über Down by Law, wenn man erfährt, dies sei ein Film über drei Männer, die aus unterschiedlichen Gründen im Knast landen, zusammen ausbrechen, abhauen und sich schließlich wieder trennen? Zumal, wenn man bedenkt, dass der dramatischste Teil dieser Zusammenfassung – der Ausbruch – nicht einmal gezeigt wird.”
Die Episoden sind einfach gestrickt. Die Dialoge hervorragend. Die Schauspieler genial. Das Spiel dieses Filmes ist über die Handlung gar nicht zu begreifen: Zwei rauhe Typen landen im Knast – beiden unschuldig und nerven sich die ganze Zeit gegenseitig. Ausgerechnet der kindliche Italiener hat jemanden umgebracht. Er ist es auch, der den Ausbruch plant. Sein Englisch ist haarsträubend, sein Lieblingsdichter ist Walt Whitman, den er natürlich nur auf Italienisch kennt. Verzweifelt schreibt er jede neue Vokabel in ein Notizbuch. Und gerade er, mit dem jede Kommunikation zu scheitern droht, schafft es, die anderen beiden zur Verständigung zu bewegen.
Der Handlungs-Plot ist nebensächlich. Entwicklung findet woanders statt.

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18.-19. April 2009

Samstag, 18.4.09

Kein Wecker, es ist 11 Uhr. Der Workshop, so bete ich, fängt bestimmt 14 Uhr an, nicht 12 Uhr. Ganz bestimmt 14 Uhr. Ich habe Kopfschmerzen. Da kann der Workshop nicht schon um 12 Uhr anfangen! Wunschdenken funktioniert auch dann nicht, wenn man es braucht. Aufs Nötigste beschränken. “Steffi, machst du mir eine Stulle?” Ich putze mir die Zähne. Da wir heute Abend auftreten und ich zwischendurch nicht mehr zurückkomme, muss ich mich auch rasieren. Eine ASS schlucke ich, und drei weitere stecke ich mir zur Sicherheit ein.
Das Chemically Imbalanced Theater ist weiter entfernt als ich geglaubt hatte. Die Straßennamen nutzen einem ja nicht viel, wenn die Straßen länger als 10 Meilen sind. 1420 W. Irvin Park Avenue. Zum Glück gibt es Google Maps, und wir dürfen Davids Laptop benutzen. Inzwischen ist es heiß geworden. Eiskaltes Wasser, das man kaum trinken kann, hilft nicht wirklich gegen diesen Durst. Das wussten die Araber schon.
Andy Eninger leitet den Workshop “Solo Improvisation”. Ich hatte lange überlegt, ob ich lieber zu Mick Napier gehe, der Storytelling lehrt, oder Susan Messings Workshop zu Spezifizität. In Berlin wird es für mich immer schwieriger, passende Workshops zu finden, die einen nicht unterfordern. Entweder man ist in einer Gruppe mit Teilnehmern, die gravierende Schwierigkeiten in den Grundlagen haben oder man muss auf spezielle Themengebiete, wie etwa Action Theater, ausweichen. Und die Lehrer, die mich in Berlin noch interessieren, kann man an zwei Fingern abzählen.
Ich bin natürlich zu spät. An der Eingangstür ein großes Hinweisschild, dass alle Autos, die auf dem riesigen Parkplatz gegenüber geparkt werden, abgeschleppt werden. Man ist gerade bei der Vorstellungsrunde und soll sagen, warum man ausgerechnet diesen Kurs gewählt hat. Diese letzte Frage blende ich bei meinen Workshops immer aus. Ich denke immer, dass die Motivation gern auch diffus oder banal sein oder sich sogar im Laufe des Workshops verändern kann. Wer mehr erzählen will, kann das in der Pause tun. Obwohl ich Andys Impro-Nummern gar nicht für besonders witzig halte, lerne ich doch viel. Es hat sich gelohnt. Sag Ja-Und zu den eigenen Ideen, physisch werden, präzise sein. Und dass man sich überhaupt mal wieder asprobieren kann, hilft viel. Verbal stehe ich allerdings mit meinem Kater ganz schön auf dem Schlauch. Zwischendurch muss ich mich setzen.
16 Uhr. Vor der Tür kriegt einer der Schüler einen Schreianfall. Wo denn sein Auto sei, er habe es doch auf dem riesigen Parkplatz gegenüber geparkt. Tja, das sei nun abgeschleppt. Warum muss ich einen Siehste-Reflex unterdrücken?
Burger King. Whopper Menü. Im Fernsehen wird Baseball übertragen. Wenn ich’s sehe, verstehe ich es dann doch nicht mehr. Vor allem: Warum treffen die den Ball nicht?
Ein riesiger Friedhof auf dem Weg zur U-Bahn-Station. Ein Teil davon nennt sich “Wunders Cemetery”, deutsche Protestanten, teilweise Gräber aus dem 19. Jahrhundert, deutsche Inschriften. Es berührt einen dann doch.
Überbrücke Zeit in einem Buchladen, diesmal aber widerstehe ich.
Show im Playground. Kurz zuvor schlucke ich die letzte der vier ASS. Ein kleines Theater, und tatsächlich hätten wir das Format, das wir vorhatten – nämlich Fotos der Stadt als Bühnenbild zu projizieren – hier wunderbar aufführen können. Nun haben wir uns aber schon auf etwas anderes geeinigt. Eine Lovestory, jeder spielt zwei Figuren mit besonderem Feature. Ich spiele zusätzlich mit Gerda den uralten Großvater der Protagonistin. Steffi spielt zusätzlich die alte Freundin des Protagonistin, die aber auf Deutsch spricht. So gelingt es ns fast, die Nebenfiguren durch die stärkere Charakterisierung noch mehr ins Rampenlicht zu stellen. Steffi spielt hervorragend mit dem Verständnis/Nichtverständnis der Amis für bestimmte deutsche Wörter – manchmal bleibt sie supereinfach: “Ja, das ist gut.” Und dann, wenn sich die Zuschauer zu sicher fühlen, haut sie ihnen einen Kettensatz in Berliner Akzent an den Kopf. Mit 20 Zuschauern etwas mau besucht, aber es macht Spaß.
Wir schauen uns im Anschluss noch drei weitere Gruppen an, darunter geradezu herausragend Dominizuelean, ebenfalls ein Duo, die eine aus Venezuela, die andere aus der Dominikanischen Republik, die beide große weibliche Komikerinnen sind, wunderbar in ihre Figuren eintauchen. Leider zu schnell vorbei. Wir müssen uns noch eine etwas überladene Show der Monkey 13 anschauen, dann wieder ein Highlight. Parallelogramophonograph (ein schöner Name, den allerdings fast jeder falsch schreibt). Die Gruppe wagt sich in Kostüme und Schminke und führt eine “französische Farce” auf. Gute Typen, sicherlich viele klare Muster, aber dennoch witzig und frei. Aus Austin, Texas.


Parallelogramophonograph


Dominizuelean

Es ist 0.30 Uhr, als wir müde nach Hause fahren. Ob das auf den noch immer anhaltenden leichten Jetlag oder die lange Nacht zuvor zurückzuführen ist, bleibt unklar.

**

Sonntag, 19. April 2009

Was man nicht in amerikanischen Filmen sieht:

  1. Alles ist mindestens 3°C kälter. Die Räume sowieso, aber auch die Kühlschränke. Steffi erklärt sich das so, dass die Einführung des Gefrierschranks und der Klimaanlage in den 50ern eine Art Statussymbol waren. Ein Haufen Eis = ein Haufen Kohle = ein Haufen Status.

  2. Die große aufwärts führende Sexte in unsicheren Statements bzw. wenn man unsicher ist, dass einen der andere versteht. Beispiel: Wenn ich sage “I live in Baltimore Street”, könnte es sein, dass der andere nicht weiß, wo die Baltimore Street liegt. Und so schraube ich meine Stimme zwischen “Bal” und “ti” eine große Sexte nach oben. “I live in Bal ö timore Street.” Hinzuzufügen wäre noch, dass dieses stimmrhetorische Mittel fast ausschließlich bei Intellektuellen angewendet wird. Bei unsicheren Intellektuellen noch mehr. In einem Barnes & Noble Bookstore traf ich einen studentischen Mitarbeiter, der jeden Satz auf diese Weise formulierte. (Wenn ich es mir recht überlege, müsste diese Form in einigen Woody-Allen-Filmen zu finden sein.)

  3. Für eine Industrienation gibt es auffällig viele wacklige Konstruktionen, die fast ein bisschen an Russland erinnern. Obamas Refrain im Wahlkampf, lieber in Brücken und Straßen zu investieren als in den Krieg, wird nun augenfällig.

  4. Dass die Dollarscheine alle gleich groß sind und im Grunde auch gleich aussehen, fällt einem erst vor Ort wieder ein. Geld wird ja im Film nur kurz in der Transaktion gezeigt, wenn es einem jemand in die Hand drückt. Oder als gigantischer Haufen. Man sieht nie, was da eigentlich für Banknoten im Koffer sind.

  5. Müll, Müll, Müll. Immerhin gibt es ein paar Ansätze von Mülltrennung. Aber, ähnlich wie nach der Wende, als man überrascht davon war, dass man in jedem Laden eine Tüte gratis hinterhergeworfen bekam, erstaunt auch hier, dass jedes Lebensmittel ca. fünf Mal eingepackt ist – (1) in die eigentliche Verpackung, (2)in die Umverpackung, (3) dann eine kleine Tüte, (4) diese kommt dann in die große Tüte, welche wiederum mit (5) einer weiteren Tüte stabilisiert wird.

  6. Die Freundlichkeit der Chicagoer. Sechs Jahre war ich nicht da, und die Freundlichkeit der Chicagoer war mir eigentlich nur noch als Abstraktum in Erinnerung. Auch in Filmen sieht man das nicht, da die Interaktionen gegenüber Fremden schwer einzufangen sind. Es wirkt hier, als habe jeder vor jedem Respekt. Und das ist für eine Millionenstadt ungewöhnlich. (Zur Freundlichkeit gegenüber Fremden: Diese wird ja von Deutschen oft als “oberflächlich” beschrieben. Ein typisches Phänomen von Askription: Wenn jemand zu uns dermaßen freundlich ist, glauben wir, er sende kommunikative Freundschafts-Signale aus. Man erwartet dann eine intimere Form von Vertrauen und ist dann erstaunt, wenn der Fremde sich verabschiedet und nie wieder von sich hörn lässt. Dabei war er einfach bloß netter als der Durchschnittsberliner.

  7. Chlorgetränke. Wer würde denken, dass im Grunde jedes Getränk, das ein Film-Ami trinkt, nach Chlor schmeckt? Und das liegt daran, dass der Ami, wenn er Cola zu sich nimmt, eigentlich geschmolzene Eiswürfel trinkt, die vor ihrem Schmelzen von einem Schuss Cola umgeben waren und vor ihrem Erstarren fies chloriertes Wasser.

Besonderheiten, die keine sind:

  1. Nutrition Facts: Auf jedem Lebensmittel sieht man nicht nur die Zutatenliste, sondern auch die Angaben über Kohlenhydrate, Fett, Eiweiß usw. (In der DDR gab es nur diese Angaben.) Erst nach unserer Rückkehr entdecke ich, dass das bei uns auch üblich ist.

  2. Da überall Fernseher rumhängen, sieht man ständig Sportnachrichten: Baseball, Football, Basketball, Eishockey, manchmal sogar Fußball. Nur Männersport, denke ich. Warum werden hier keine Frauen gezeigt. Wie bei uns, denke ich. Es dauert ein paar Sekunden, bis bei mir klickert, dass Frauensport auch bei uns eine Seltenheit in den Sportnachrichten ist. Ab und zu Tennis, bei olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften auch mal Lauf- und Schwimmdisziplinen. Alles andere ist Fußnote.

Steffi hat sich entschieden, im Second City an einer Podiumsdiskussion über Frauen und Improtheater teilzunehmen.

Trotz spärlichen Besuchs der Diskussion, müssen die fünf Männer hinter der Barriere Platz nehmen und während der Veranstaltung ihre Klappe halten. Wie in guten alten Zeiten. Bemerkenswerte Ausnahme der japanische Dolmetscher von Naomi. Steffi wird in den Ankündigungen als “Steffi Foxi” angekündigt. Die Amis sind seltsame Namen gewöhnt, und Winny klingt für sie sicherlich genauso albern.
Die große Genderdebatte entfällt. Wir erfahren, dass es Frauen im japanischen Improtheater schwerer haben. Ansonsten glauben die meisten Frauen, dass Improtheater eine Atmosphäre der Freiheit bietet – du musst a) akzeptieren (YES) und b) dich einbringen (AND). Kulturwissenschaftler könnten natürlich daraus ein weibliches (Akzeptanz) und ein männliches Prinzip (Engagement) konstruieren, das bleibt aber aus. Männliche Seilschaften seien im Improtheater eher selten. Ich erinnere mich an Ramona Krönke, die vor Jahren einmal sagte, dass es in den Workshops viel mehr Frauen gäbe als in den Gruppen und dass die Gruppen dann auch eher von Männern geleitet würden. Ob sich das, wenn es denn je zugetroffen haben sollte, geändert hat – ich weiß es nicht. Meine Beobachtung ist, dass es zumindest keinen auffälligen männlichen Überhang im deutschen Improtheater gibt.
Schattendiskussion über die Frage, ob die Männer es in den Gruppen akzeptieren würden, wenn die Frauen eine männliche Rolle spielten. Das einzige Mal, dass ein Hauch weiblicher Empörung zu spüren ist. Ich frage mich aber, ob das nicht auch eine Frage ist, wie die Figur angelegt ist. Wenn eine Frau einen Pizzalieferanten spielt, der mit tiefer Stimme “Ich bringe Ihnen die Pizza” sagt, könnte das genauso gut eine Pizzalieferantin sein, die eben eine tiefe Stimme hat. Außerdem ist es natürlich eine Geschmacksfrage. Ich denke, wenn man genügend männliche und weibliche Spieler auf der Bühne hat, lenkt Überkreuzgegendere eher ab. Wenn dann auch noch Männer Frauen spielen, gerät es dann zur Travestie-Farce, was mal als Schmankerl OK ist, aber auf Dauer eher nervt.

Manchen Leuten begegnet man ständig – dem Fotografen Jerry Schulman, Joe Bill, der immerhin auch das Ende unserer Show gesehen hat und immer eine Mail-Adresse von mir wollte, Jeff Wirth, der Erfinder der Storybox, der überall auftauchte, wo wir waren, und dessen freundlich-ruhige Art mir die eigene Unruhe ins Bewusstsein rückt. Andere wie Matthew Krevat, den ich auch als inspirierenden Schreiber vom YesAnd-Forum kenne, sehe ich gar nicht.

Die Abschluss-Show beginnt mit einer Anfängergruppe, die aus lauter Frauen besteht, was sie aber trotzdem nicht davor bewahrt, sich in Obszönitätskaskaden zu ergehen, Schwanz, Hure, Vagina, Stripper, und selbst das Thema Brautjungfer will man in diesem Kontext gar nicht mehr sehen.
Aber es ist schnell vorbei, und wir werden getröstet mit einem wirklichen Highlight: Die im Improv Olympic beheimatete ” The Improv Shakespeare Co.” Dagegen wirkt unser Shakespeare-Imitat eher mau. Klare Figuren, einfache Story, Gefühl für Poesie und Symbole. Das Stück “Three kitten from hell” löst Begeisterungsstürme im Lakeshore Theater aus.
Eine Reihe vor uns sitzen die Spieler von “Parallelogramophonograph”, die auch ein jährliches Festival organisieren, in Austin Texas. Wir meinen, sie wären in Berlin mit ihrer Art von Impro eine Sensation. Sie scheinen skeptisch. Höflicherweise laden sie uns auch nach Texas ein. Unbezahlt, versteht sich.
Bassprov als dritter Act des Abends. Auf der Bühne Marc Sutton, ehrenhalber auch Joe Flaherty und, ich traue meinen Augen kaum, der allgegenwärtige Joe Bill, von dem ich wegen seines unschuldig begeisterten, unarroganten und offenen Verhaltens geglaubt hatte, er sei eher Anfänger. So ertappt man sich selbst beim Denken in Oben/Unten-Kategorien. Die legendäre Bassprov ist im Grunde ein rein verbales Format. Zwei Rednecks (in diesem Fall mit Joe Flaherty drei) sitzen im Boot, angeln, trinken Bier und unterhalten sich über die Lage der Welt. Requisiten: zwei Hocker, zwei Angeln (gemimte Leine), eine riesige Kiste Dosenbier, die im Laufe des Abends tatsächlich getrunken wird. Das Ganze ist flink, anspruchsvoll, witzig, philosophisch, und erinnert in seiner Coolness sehr an die Lesebühnen. Ich bin sofort angeregt, die Dialoge der Chaussee zu erweitern. Vielleicht in anderem Rahmen. Man müsste allerdings ein wenig fokussierter arbeiten. Bei den Chaussee-Dialogen, so witzig sie oft auch sind, ist eben oft noch eine ganze Menge Schlacke dabei.


So sieht Bassprov aus, allerdings ein paar Monate vor dem CIF

Wir gehen heim. Wir müssen früh raus. David bietet uns an, früh aufzustehen und uns zur passenden U-Bahn-Station zu fahren.

Kreativitätsimpulse

Als Künstler ist man verleitet, sich neue Impulse vor allem im eigenen Bereich zu suchen, was ja auch notwendig ist. Der Musiker möge Musik hören, der Theaterautor Stücke fremder Autoren sehen, der Architekt beachte Gebäude anderer Kollegen und Kulturen.
Aber wir brauchen als Künstler genauso die Impulse aus anderen Bereichen. Als Schauspieler sollte ich mich auch mit Malerei befassen. Als Autor mit Musik. Als Bildhauer auch mit Lyrik. All dies beeinflusst nämlich auf unerwartete Weise das eigene Schaffen.
Aber es geht nicht allein um die Kunst. Wir brauchen auch Einflüsse von völlig anderen Systemen – der Politik, der Wissenschaft, der Erziehung, der Wirtschaft usw.
Damit meine ich nicht, dass die Kunst sich zum Vehikel der anderen Systeme machen sollte, etwa “politische Kunst”, “Kunst für die Wirtschaft” usw., sondern dass der Künstler nicht die Augen vor fremden Themen verschließt. All zu oft wird das einfach abgetan als irrelevant oder als etwas, von dem man nichts verstehe. Man kann das alles ruhig egoistisch sehen: Als Künstler kan man von allem profitieren, und je breiter das Blickfeld, umso besser. Aber am Ende nützt der wissende Künstler der Kunst. Ein doofer schadet ihr.

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16.-17. April 2009

Donnerstag, 16. April 2009

Schwermütig wache ich auf, alles bedrückt mich. Ich weiß, dass es nur ein Mittel gibt, was mir jetzt einigermaßen helfen kann, auch wenn ich darauf am wenigsten Lust habe – Joggen. In diesen Momenten kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass das hilft, und ich verstehe jeden Depressiven, der eine Pille bevorzugt, denn Motivation fehlt einem am meisten. Das Einzige, worauf ich mich stütze, ist die Erfahrung, dass Laufen zumindest ein bisschen hilft. Ich kleide mich um und verbringe schon damit unglaublich viel Zeit.
Immerhin scheint die Sonne (ich hasse es, im Regen zu joggen), und ich wähle eine andere Strecke – South Plymouth, wesentlich ruhiger als South Clarke. Lande in einem Barnes and Noble. Wie passend – gute Buchgeschäfte sind immer ein Trost. Verbringe darin verschwitzt eine knappe halbe Stunde, damit müssen sie halt klarkommen. Denn auch die Penner werden geduldet, aber sie müssen offenbar einen gewissen Schein waren. In den Buchhandlungen setzen sie sich in die Lese-Ecke und halten sich großformatige Bücher oder Zeitungen vor die Nase, um ihre müden Augen und manchmal eben auch das Einschlafen zu verdecken. Starbucks verkauft zwar teuren Kaffee, ist aber im Vergleich zu anderen Cafés tolerant in Bezug auf den Aufenthalt. Zeitungen liegen aus, manchmal auch Schachspiele. Mit dem billigsten Kaffee von $ 2,20 erwirbt man eben auch ein Aufenthaltsrecht von zwei bis drei Stunden in einem angenehmen, warmen Raum. Ich suche ja immer noch die hübschen Notizbücher, die einen eingebauten Gummi für einen schmalen Bleistift haben, aber auch Barnes & Noble hat, wie alle anderen Buchläden offensichtlich auch, einen Exklusivvertrag mit Moleskine, die zugegebenermaßen angenehme Notizbücher basteln, aber mit ihrer Legende, wer damit schon alles geschrieben haben soll und wie sehr diese Dinger angeblich die Kreativität anregen, den Preis pushen.
Auch ich bin nicht davor gefeit zu glauben, ich könne mir Glück kaufen: Patrick Lindsays "Now is the Time. 170 Ways To Seize The Moment" scheint mir das richtige Vademecum in meiner Bedrückung. Aber als ich wieder in Davids Haus angelangt bin, kann ich mir schon sicher sein, dass es das Laufen war, dass mir den Kick versetzt hat.

David empfiehlt uns ein Cajun Restaurant " Heaven on Seven". Wir gehen zu Fuß. Dumm nur, dass wir North und South Wabash verwechseln. Zwischendurch geraten wir kurz in Versuchung, doch auf McDonalds zurückzugreifen. In einem noblen Business Gebäude dann ein doch etwas billig wirkendes Restaurant, das eher einer Kantine gleicht, an den Wänden neben New-Orleans-Bildern, auch vielfältiges Lob der Chicagoer Journalisten. Eine leise Erinnerung an 1997, als ich mich in die Stadt New Orleans verliebte – die Musik, das seltsame Leben, der Fluss, die Landschaft, in einem schönen Hippie-Hostel. Der damalige Besitzer gehört, soweit ich das verstanden habe, zu den Opfern der Flutkatastrophe.
Cajun-Essen besteht natürlich aus Fisch, Fisch, Fisch. Daneben natürlich auch Seafood, Krebse, Muscheln. Ich hatte in Erinnerung, dass die Louisianer auch in der Lage sind, Hähnchen auf Südstaatenart zu bereiten. Auf diese Facette verzichtet man aber im "Heaven vor Seven". Burger hätten wir auch bei McDonalds bekommen. Also Bohnen. Rote für Steffi, schwarze für mich.

 

Gerda habe ich heimlich in den Rucksack gesteckt. Was sie für einen Trost spenden kann, habe ich nie vermutet, als ich Steffis Pinguin kennenlernte. ("Ein weiblicher kleiner Plüschtier-Spleen, man kennt das ja.") Gerda entfaltet einen eigenen Charakter. Es ist für uns unvorhersagbar, wie sie reagieren wird. Neugierig, beleidigt, eitel, tröstend, allwissend.

*

Am Abend wartet ein experimentelles Feature auf uns – ein Impro-Laboratorium mit Zuschauerbeteiligung. Mit den Spezialgästen Joe Bill und Shaun Landry. Ob ich Shaun nun mal live erleben kann. Die Show findet in einer Barnes & Noble Filiale statt, und erst als wir uns der Adresse nähern, stelle ich fest, dass es derselbe Buchladen ist, der mir heute früh Trost gab.
Das Setting ist, wie man in der Sozialarbeit sagen würde, "niedrigschwellig". Wenig Show-Getue, alles wird ruhig gehandhabt. In einem separaten Raum steht eine Blackbox, in der vier Kameras montiert sind. Innerhalb der Box wird improvisiert, das per Kamera aufgenommene Geschehen auf eine Leinwand projiziert. Ich versuche Steffi zu ermutigen, sich zu melden. Sie scheut sich immer noch wegen ihres aus ihrer Sicht mangelhaftem Englisch. Die Szenen, die wir sehen, sind doch eher mau.
Vor uns sitzt ein älteres, steif wirkendes Ehepaar. Sie flüstert intensiv mit ihm und möchte ihn wohl überzeugen, mitzumachen, er verzieht keine Miene.
In der zweiten Runde werden ein Mann und eine Frau gesucht. Außer mir und dem Alten gibt es nicht viele Männer. Nach 30 Anstandssekunden melde ich mich. Das Spielen macht Spaß, vor allem weil man sehen kann, wie es die Spieler irritiert, als sie bemerken, dass sie keinen Anfänger vor sich haben, sondern sich mit irritierenden Angeboten auseinandersetzen müssen. Joe Bill fast perplex, als ich ihm Waffen andichte.
Die Storybox wird wohl, so stellt sich später heraus, tatsächlich für alles mögliche verwendet – Lehrer- und Polizistenfortbildung, Therapie usw. Impro eher als Mittel zum Zweck. Für Showzwecke ist mir die Verwendung nicht ganz klar, auch nachdem ich mit dem Leiter der Truppe spreche. Warum, so fragt man sich, muss eine Zwischenebene eingezogen werden? Warum nicht gleich die Bühne. Fast scheint es, als hätten die Spieler etwas zu verbergen. Wie mag es für unerfahrene Spieler sein? Vielleicht wirkt die Abwesenheit des Publikums erleichternd? Andererseits ist die Box an sich schon einschüchternd. Man hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Und man hat das leichte Gefühl, man wird zum Spielball der anderen gemacht. Sie haben etwas mit mir vor…

 


(c) Jerry Schulman

 

Freitag, 17. April 2009

Auch wenn man in der Innenstadt wohnt, muss man sagen, dass einige Gegenden nicht für Fußgänger gemacht sind. Von unserem Haus bis zum nächsten größeren Supermarkt laufen wir fast eine halbe Stunde an der Schnellstraße entlang. Dafür fangen wir dort Bilder ein, die wir aus dem Auto nicht hätten machen können.


US-Flagge auf dem transportablen Klo (c)


Steffi Winny und Dan Richter als extrem lustige Schatten


Sears Tower und Metra-Züge

Abends endlich ins Lakeshore, um Shaun Landry zu sehen. "Oui Be Negroes", eine legendäre Improtheatergruppe gibt es eigentlich nicht mehr, wurde aber aus Anlass des Festivals noch einmal reanimiert. Eine der wenigen "schwarzen" Improgruppen der USA. Das Problem, so Shaun in einem Interview, als schwarzer Improspieler wirst du in normalen Gruppen meistens als "der Schwarze" angespielt. D.h., deine Hautfarbe wird thematisiert, und so gründeten sie ihre eigene Improtruppe in San Francisco. Sie beginnen ihre Show mit der etwas provokativen Frage, was untypisch für Schwarze sei (die Publikumsantwort lautete "Schwimmen") und bauten darauf eine szenische Collage. Erst während der Show fiel mir auf, dass Improtheater im Grunde auch untypisch für Schwarze ist. Bedenkt man die weite Verbreitung in den USA, fällt doch auf, dass sich unter al den Gruppen nur wenige schwarze Spieler befinden. Seltsam, dabei ist doch z.B. in der Musik gerade der Jazz mit seiner Betonung des Improvisatorischen im Schwarzen Amerika geboren und entwickelt worden. (Die zweite, gerade populäre Ausnahme ist eine Gruppe namens Pimprov, die mit Zuhälter-Klischees spielen, was für mich schon beim ersten Zuschauen langweilig ist und ich kann mir auch nicht versprechen, dass die Wiederholung meine Lust des Zuschauens fördert. Es könnte also eher mit der vergleichsweise weniger ausgeprägten Theaterkultur zu tun haben. Oui Be Negroes jedenfalls spielen in einem angenehmen Flow. Zwischendurch ein paar Derbheiten, die aber gut abgefedert werden, dadurch, dass sie glaubwürdig gespielt sind.
Anschließend "Boom Chicago", die in Amsterdam bekannt sein sollen und sozusagen die Niederlande vertreten. Angestrengte und grobe Comedy. Für die besten Publikumsvorschläge wird Gratisbier verteilt. Honoriert werden Vorschläge wie "Ich masturbiere auf dich".
Allmählich verstehe ich die Frage, die im YesAnd-Forum immer wieder diskutiert wurde – familienfreundliche Shows. Bei uns wird diese Trennung in der Regel gar nicht so streng gezogen. Wenn in einer unserer Show, sei es bei den Lesebühnen oder im Improtheater – mal ein Kind sitzt, muss es (oder die Eltern) eben damit leben, wenn das böse, böse F-Wort benutzt wird. Jürgen von der Lippe brachte es mal schön auf den Punkt: "Wenn das Kind es versteht, ist die Sache kein Problem. Wenn das Kind es nicht versteht, ist es auch kein Problem." Hier aber (und das sollte in den folgenden Tagen noch schlimmer werden), wurde die Sexualität zur Obsession. Manchmal fühlte man sich erinnert an die Scherze von Schülern in College-Internaten – Jetzt dürfen wir endlich mal.
Nach der Show fasse ich endlich den Mut, Shaun anzusprechen, aber jetzt ist sie verschwunden. Wir gehen mit David und seinen Freunden noch in eine Bar. Technofassungen von Björk-Songs, es wird getanzt. Ich habe diese Art von Bars schon immer gehasst, und zwar unabhängig von der Musik. Vor allem wenn man sie mit Leuten aufsucht, die man gerade kennengelernt hat. Man steht mit Bieren rum, hat keine Lust zu tanzen, und zum Unterhalten ist es einfach zu laut, man brüllt sich Minimal-Informationen ins Ohr. Ich bin extrem angeödet, reiße mich aber, soweit ich kann, zusammen. Nach anderthalb Stunden sind wir wieder draußen, und ich frage mich, warum wir überhaupt da drin waren. (Diskotheken sind natürlich was anderes, da gehe ich rein, um zu tanzen, aber hier?) Das letzte Mal hatte ich ein ähnliches Erlebnis vor drei Jahren in Lille mit der Chaussee der Enthusiasten. Man ging noch nach der Show mit irgendwelchen Franzosen "etwas trinken", und von allen Cafés und Bars, die es in dem Ort gab, musste es das lauteste und überfüllteste sein. Warum muss ich mich da irgendwo reinquetschen, wenn ich sowieso Schwierigkeiten habe, die Sprache zu verstehen? Interessanter vielleicht noch: Warum quetschen sich andere da rein? Ist es die Angst, nur ja nichts zu verpassen, durch die hohe Dichte an Menschenmassen das Gefühl zu haben, jederzeit mit jedem kommunizieren zu können? Am Ende kommuniziert man doch nicht, hängt nur rum, beobachtet die anderen und schreit sich logistische Anweisungen ins Ohr – wie lange man noch bleibt, wer das nächste Bier holt, wie man nach Hause kommt.

Kurz vor Drei sind wir wieder in Davids Haus. Er war im letzten Moment doch noch so vernünftig, das Auto stehenzulassen und mit dem Taxi mitzukommen. Ich habe ein schlechtes Ami-Bier zu viel getrunken und habe morgen früh einen Impro-Workshop. Wann fängt der noch mal an? Ich schließe die Augen. Es reicht, wenn ich das morgen weiß, irre ich mich.

Berichten Sie Ihr traumatischstes Erlebnis

Um an “Wahrheiten” heranzukommen, werden Schauspielschüler aufgefordert, sich auf einen Stuhl zu setzen und ihr traumatischstes Erlebnis zu berichten.
John Wright berichtet in “Why is that so funny”, wie eine Schülerin ihm gestand, dass ihre Mitschüler ihr Komplimente für die emotional aufwühlende Geschichte vom Tod ihrer Mutter gaben. In Wirklichkeit aber lebt die Mutter bei bester Gesundheit.
John Wright meint nun, die Übung sei eigentlich sehr gut, nur werde sie durch die übermäßige Betonung von Wahrheit missbraucht. Als ob sich “Wahrheit” nur im Tragischen fände.
Die Aristotelische Trennung von Komödie und Tragödie lässt sich ja bis heute nachzeichnen, und zwar vor allem in der Geringschätzung der Komödie.
Die improvisierten Dialoge zu Beginn der Chaussee der Enthusiasten basieren eigentlich grundsätzlich auf Wahrem, auf Erlebtem. Und zwar ohne, dass wir uns mal darauf geeinigt hätten. Aber diese Dialoge haben natürlich grundsätzlich einen komischen Dreh. Es wäre völlig unpassend, wenn an der Stelle, einer von uns in Tränen ausbräche. Sicherlich – es geht hier weniger um Schauspiel, aber doch immerhin um eine Bühnenperformance.

“Nur im Moment”

Der von mir sonst so geschätzte Jazz-Musiker N. meinte, er interessiere sich überhaupt nicht für das, was gerade vor ein paar Sekunden oder gar Minuten gespielt worden sei, es gehe ihm nur um den Moment.
Ich konnte ihm nicht zustimmen. Gute Improvisation, ob in der Musik, im Theater oder im Storytelling, bezieht sich immer auch darauf, was vorher geschah. Nur so können z.B. Muster, Linien, Bögen entstehen.
Ich kann also im Moment agieren, aber ebenso das Gesamtbild im Auge behalten.
Genaugenommen ist “der Moment” ohnehin eine Fiktion, eine Unzeit.
Das Bild des Rückwärtsgehens, das Randy Dixon benutzt hat, fand ich sehr treffend. Wir sind achtsam im Moment des Gehens, aber wir sehen gleichzeitig alles, was wir bereits hinter uns gelassen haben.

Schauplätze

Gruppenübung. Kurze Szenen an “gewöhnlichen”, aber in Shows selten vorkommenden Orten.

  • Im Lagerkeller einer Kneipe.
  • Im Kaffeepausenraum der Bahn-Angestellten.
  • Wenn schon auf dem immer wieder genannten Eiffelturm, dann doch bitte mal im Winter.
  • Im Geräteschuppen.
  • Im U-Bahn-Schacht.
  • Im Treppenhaus eines Studenten-Wohnhauses.

Gute Filme schauen lohnt sich auch hier. Oder beim Training den Mitspielern entsprechende Vorschläge geben. Auf der Bühne: spezifisch denken statt allgemein. Also nicht das 08/15-Café, sondern das konkrete.

Die Weisheit weitergeben

Ich erinnere mich nicht mehr, wo ich diese Legende gelesen habe.
Es ging um einen großen Zen-Gelehrten, der als einer der Weisen galt. Und doch verwehrte man ihm den Titel des Meisters, da er nichts aufgeschrieben hatte.
Die Weisheit geht verloren.
Und auch Laotse, dem Begründer des Taoismus, musste ein Zöllner “seine Weisheit erst entreißen”, wie Brecht es formulierte.
Das Lehren fordert uns auf eine besondere Weise zur Reflexion und zur Kommunikation. Wir sind gefordert, das Gelernte produktiv zu erneuern.

Mittwoch, 15. April 2009

Mittwoch, 15. April 2009

"… pursuing and obtaining happiness…" aus diesem kurzen Satzteil wurde die berühmteste Phrase der Unabhängigkeitserklärung: "The pursuit of happiness." Das Streben nach individuellem Glück wird zu den Kernfreiheiten des Menschen, ja zum menschlichen Wesen gerechnet. Das erste Mal kam ich damit in einem verfremdeten Zusammenhang in Berührung – im Song "Mother’s Little Helper" der Stones heißt es deprimiert über eine amerikanerische Hausfrau, die so langsam aber sicher in die Tablettensucht rutscht: "The pursuit of happiness just seems a bore." Womit im Grunde schon das Problem gekennzeichnet ist. Der Mangel an Glück war lange Zeit identisch mit mangelndem Zugang zu materiellen Ressourcen oder der Freiheit vor Diskriminierung jedweder Art. Was aber, wenn wir keine materielle Not erleiden? Der Schwung des Erwerbens und der Reflex, das Glück in äußeren Dingen zu sehen, nimmt nicht so schnell ab. Dem Versprechen, das wir uns wohler fühlen, wenn wir nur dies oder jenes besäßen, lässt sich nur schwer widerstehen, vor allem, da es tatsächlich kleine Glücksmomente gibt, die aber in der Regel kurz nach dem Erwerb wieder verschwinden. Wer freut sich denn noch ein Jahr, nachdem er sein Handy erworben hat, darüber, dass er es besitzt? Wir erwarten von den Dingen außerhalb unserer selbst das Glück und machen das Fehlen dieser Dinge für unser Unglück verantwortlich. Der Arzt schließlich hat dafür zu sorgen, dass es uns besser geht. Womit? Mit Pillen natürlich. Aber nicht nur die Dinge oder deren Mangel sind an unserem Unglück schuld, sondern auch die anderen Menschen – der Nachbar, der Autofahrer, die Regierung, die Lehrer. Vera Birkenbihl ließ ihre Seminar-Teilnehmer manchmal Zettel ausfüllen, darunter den zu ergänzenden Satz: "Die Welt ist voller…" Das Ergebnis war fast erwartbar: Idioten, Trottel, Arschlöcher. Kaum jemand schrieb "Möglichkeiten" oder "Licht" oder "Musik".
Aber wieviel Fortune braucht man, um überhaupt glücklich zu sein? Anscheinend trägt Einkommen bis zu einem gewissen Punkt auch zu einem Mehr an Glück bei. Ab dann geht es wieder abwärts. Und der springende Punkt: Wer auf Geld überdurchschnittlich viel Wert legt, ist unglücklicher. Mit anderen Worten: Es liegt in uns. Oder: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Wir selber sind für unser Glück zu einem großen Teil selbst verantwortlich. Wir sind nicht unabhängig von Äußerem, die Frage ist aber, ob wir in der Lage sind, das Äußere positiv zu bewerten. Wie reagieren wir auf Neuigkeiten? Die meisten von uns kennen vor allem eine Antwort: Negativen Stress. Dabei sind die meisten Ereignisse zumindest ambivalent zu betrachten. Für viele sind aber selbst positiv assoziierte Dinge des Lebens wie der eigene Geburtstag oder ein Familientreffen mit negativem Stress belegt.
Ein Aspekt, den ich am Improtheater schätze, ist, dass man lernt, mit Situationen spielerisch umzugehen. Es gibt nicht die eine "authentische" Reaktion auf eine Neuigkeit. Wenn wir etwas versuchen, von der positiven Seite zu sehen, auch wenn es uns schwerfällt, ist das nicht unbedingt "unnatürlich", auch wenn es sich merkwürdig "anfühlen" mag. Dass uns dieses Gefühl irritiert, ist ja normal, wenn wir den Positivmuskel lange Zeit nicht trainiert haben. Aber manchmal genügt es schon, auf einen Stift, den man quer im Mund hat, zu beißen. Die Lächelmuskeln werden aktiviert, das Hirn sucht sich seinen Grund zum Glücklichsein.
Wie weit aber trägt Arbeit zu unserem Glück bei? Für viele muss man ja sagen – zum Unglück. Die einen müssen ständig unbezahlte Überstunden "auf Arbeit" leisten, die anderen hängen zuhause rum. Die Organisation des Arbeitens vergällt vielen schon vornherein die Lust auf produktives Tun. Und doch sind wir oft am unzufriedensten, wenn uns genau das fehlt. Angeblich hört man von vielen Promis am Ende ihres Lebens die Klage, die hätten doch mehr Zeit mit der Familie, dem eigentlichen Quell des Glücks verbringen sollen. Niemand würde sagen, so die Pointe, er habe zu wenig Lebenszeit im Büro verbracht. Aber sind nicht die Klagen on Frauen, die ihr Studium, ihre Karriere usw. wegen der Familie aufgegeben haben, genau das – der Wunsch, produktiv zu sein?
—vorläufiges Ende der Überlegungen.

*

Eine Reise zurück nach 2003. Ich erinnere mich an so wenig. Wo bin ich damals langgelaufen. Vage Bilder im Kopf. Nur wenige Fotos habe ich damals gemacht. Will auch nicht unbedingt der Vergangenheit nachstöbern, aber wenigstens zu jenem Hostel, in dem ich damals gewohnt habe, das mir Stützpunkt war, wo ich den polnisch-kanadischen Falun-Gong-Aktivisten kennengelernt habe, wo ich jeden Tag in ein Internetcafé aufgesucht habe, um meiner einsamen daheimgebliebenen Steffi zu mailen. Sicherlich gibt es den McDonalds noch, in dem sie immer klassische Streichquartette gespielt haben, aber der Soundtrack ist inzwischen sicherlich ein anderer.
Fahren mit der El zum Arlington House International Hostel.

Und ich erinnere mich wieder, warum ich mich hier damals so aufgehoben fühlte. Die Uhr tickt langsamer. Es wird einem hier klar, wie hektisch Chicago doch ist. Das Internet Café ist verschwunden, der McDonalds spielt Popmusik. Mein Einkommen hat sich in den letzten sechs Jahren immerhin so gebessert, dass ich nicht mehr überlegen muss, ob ich mir ein McDonalds-Menü leisten kann, sondern wir gehen gleich in ein gutes italienisches Restaurant. Frauen. Tagsüber sitzen in amerikanischen Großstädten hauptsächlich Frauen in Restaurants. Ich nehme es hier das erste Mal bewusst deutlich war. Es bestätigt sich in den folgenden Tagen. Aber wo essen die Männer? In der Innenstadt, wo sie berufstätig sind?


Noch ein Grund, sie zu lieben: Ihre scheinbar grundlosen Lachanfälle.

 

 

Während Steffi vom Spazierengehen nicht genug bekommt und unbedingt an den Lake Michigan will, auch wenn der hier an eine Autobahn grenzt, sitze ich im Café, halte mich an einer Cola fest und lese weiter in Obamas Buch "Audacity of Hope". Ich wollte das Buch eigentlich schon seit 1/2 Jahr lesen, und nun ist es mir fast ein wenig peinlich, dies hier ausgerechnet in Chicago in der Öffentlichkeit zu tun, so als wolle ich mich bei den Chicagoern einschleimen. Woher das nun wieder kommen mag.

Chapter 2: Values

Man erwartet natürlich, dass Obama hier ausbreitet, zu welchen Werten er steht und warum. Aber er tut etwas anderes. Er beschreibt eine Reise mit seiner Frau Michelle an den Ort seiner Jugend – Indonesien. Der Mangel an Freiheit dort schockiert sie. Auf dem Rückflug sagt sie

"I never realized just how American I was." (…) She hadn’t realized just how free she was – or how much she cherished that freedom.

Von diesem Punkt aus führt er uns weiter. Freiheit – der große Wert der Amerikaner – wird gezügelt von anderen Werten. Werten der Gemeinschaft.

Our individualism has always been bound by a set of communal values, the glue upon which every healthy society depends. We value the imperatives of family ad the cross-generational obligations that family implies. We value community, the neighborliness that expresses itself through raising the barn or coaching the soccer team. We value patriotism and the obligations of citizenship, a sense of duty and sacrifice on behalf of our nation. We value a faith in something bigger than ourselves, whether that something expresses itself in formal religion or ethical precepts . And we value the constellation of behaviors that express our mutual regard for one another: honesty, fairness, humility, kindness, courtesy, and compassion.

Das Entscheidende aber ist, dass er herausstellt, dass nicht nur beide Seiten enorm wichtig sind, sondern dass sie eben immerfort in einer gewissen Spannung liegen. Das Problem der amerikanischen Politik liegt eben oft darin, dass sie dieses Spannungsverhältnis oft nicht anerkennt. Es wird eben entweder nach mehr oder nach weniger Staat geschrien, aber eben opportunistisch, und zwar auf beiden Seiten: Man bedient sich des konservativen oder des freiheitlichen Werts nach Belieben:

Conservatives, for instance, tend to bristle when it comes to government interference in the marketplace or their right to bear arms. Yet many of these same conservatives show little to no concern when it comes to government wiretapping without a warrant or government attempts to control people’s sexual practices. Conversely, it’s easy to get most liberals riled up about government encroachments on freedom of the press or a woman’s reproductive freedoms. But if you have a conversation with these same liberals about the potential costs of regulation to a small-business owner, you will often draw a blank stare. In a country as diverse as ours, there will always be passionate arguments about how we draw the line when it comes to government action. That is how our democracy works. But our democracy might work a bit better if we recognized that all of us possess values that are worthy of respect

Über den amerikanischen Tellerrand hinausgesehen, finden wir dann eben auch, dass staatliche Intervention z.B. in der Wirtschaft ziemlich weit gehen kann, ohne dass man das Schreckgespenst totalitärer Herrschaft an die Wand malen muss. In den OECD-Ländern variiert die Staatsquote zwischen ca. 34% und 56%. Gibt das Grund zur Aussage, dass Schweden kommunistisch ist? Oder umgekehrt, dass in Australien schlimmste Ausbeutung herrscht?
Und so, durch das Element der Empathie, zeigt uns Obama, wie er zu seinen Werten kommt.

I believe a stronger sense of empathy would tilt the balance of our current politics in favor of those people who are struggling in this society. After all, if they are like us, then their struggles are our own. If we fail to help, we diminish ourselves.

 

 

Erst jetzt, auf dem Subway-Bahnhof "Diversey" finde ich heraus, woran mich das U-Bahn-Rattern hier immer so erinnert – an die gute alte Achterbahn.

*

Dass das Impro Festival in Chicago stattfindet, ist natürlich ein großes Privileg für alle, die damit zu tun haben. In Chicago wurde Anfang der 60er im Grunde das moderne Improvisationstheater erfunden. Ein unwahrscheinliches Zusammentreffen, wie man es manchmal in der Geschichte der Kunst braucht: Eine offene Universität, die die Studenten sowohl intellektuell als auch kreativ fördert und genügend Freiraum bietet, sich auszuprobieren. Schon bald treffen die Richtigen zusammen – Brecht-verliebte Intellektuelle, wunderschöne Studentinnen mit angeborener darstellerischer Fähigkeit, eine Handvoll verrückter Komiker, die heiß darauf sind, auf die Bühne zu dürfen. Unter ihnen Paul Sills, der Sohn von Viola Spolin, der Erfinderin Hunderter Improvisationsspiele, die die Grundlagen der meisten Improshows heute bilden. Und plötzlich hatte einer von ihnen Geld, so viel Geld, um ein eigenes Theater aufzubauen. Second City wurde zur Talentschmiede für SNL. Neue Geister tauchten auf – John Belushi und Dan Aykroyd erfanden die Blue Brothers, die so populär waren, dass es sich lohnte, mit ihnen einen Film zu drehen. Del Close erfand das Rad "Improtheater" neu, er führte es fort von der Orientierung an Sketch-Comedy und hob die Kunst auf eine neue Stufe. Die Szene differenzierte sich immer mehr aus. Die Zahl der Improtheater in Chicago ist unüberschaubar. Ich schätze, es müssten sicherlich 100 sein.
Und so scheint es auch sinnvoll, dass man jährlich den wichtigsten Protagonisten einen Preis verleiht. Man kennt das: Der Preisverleiher schmückt sich ja immer ein bisschen mit. In diesem Jahr hat es Joe Flaherty erwischt. Wir sind eingeladen, müssen nicht die 20 Dollar Eintritt zahlen. Am Rand die einzige schwarze Frau. Bin mir fast sicher, dass es Shaun Landry ist. Würde sie gern ansprechen, da sie mich im YesAnd Forum immer sehr inspiriert hat, aber ob sie mich erkennt? Ob sie es überhaupt ist? Joe hält eine launige Rede voller Anspielungen und ich verstehe kaum ein Wort. Man zeigt Filmchen über und mit ihm. Alle freuen sich. Es wird schon nicht den falschen erwischt haben, denke ich. Party in der Bar. Aber wir wollen zu keiner Party

USA Aquarium & One World One Stage – 14. April 2009

Dienstag, 14. April 2009

The land of the free. Die Vorstellung, doch immerhin die Möglichkeit zu haben, alles verwirklichen zu können, was man mag, ist hier immer noch unglaublich tief verwurzelt. Ob das etwas damit zu tun hat, dass das Land eine Einwanderungsgeschichte hat, die erzählt, dass man aus der Unfreiheit hierherkam? Somit erklärt sich auch der geringere Freiheits-Optimismus jener, die auf diese Geschichte nicht zurückschauen – die Schwarzen und die Ureinwohner.
Freiheit, so sehen wir im Musterland des Kapitalismus, äußert sich für viele natürlich, in der Freiheit der Wahl, in der Vielfältigkeit der Wahloptionen. Welche Erdnussbutter wähle ich? Welches Auto fahre ich? Untersuchungen zu Konsumfreiheit zeigen, dass es hier einen Punkt gibt, an dem das Ganze kippt. Wenn wir die Wahl haben zwischen kratzigem Klopapier oder gar keinem Klopapier sind wir unzufrieden, da wir tatsächlich einen physischen Mangel empfinden. Wenn wir aber in der Kaufhalle vor 45 Klopapier-Sorten stehen, werden wir gezwungen zu entscheiden. Nehmen wir das Billigste, das Komfortabelste, das ökologisch Korrekte, das mit dem besten Blatt/Cent-Verhältnis, das was der Ehepartner mag, das was die Kinder mögen oder soll man einmal das Grüne ausprobieren? Wir entscheiden uns schließlich für eines und in der Schlange vor der Kasse kommen wir ins Grübeln, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Aber da wir nicht nur Klopapier kaufen, sondern auch Salatdressing, Toastbrot, Butter, Zahnpasta, Joghurt (um nur ein paar Produkte mit extremem Sortiment zu nennen), stehen wir mit tendenziell schlechtem Gewissen an der Kasse. Was die Produkte des täglichen Bedarfs betrifft, so ist es vielleicht noch relativ leicht, sich auf ein paar Dinge einzuschießen und den Rest auszublenden, wenn es uns gelingt, Werbung und die Neuanordnung der Regale im Supermarkt zu ignorieren. Was aber ist, wenn wir uns z.B. ein Auto kaufen? Oder ein Handy. Im Grunde hat hier jeder nach dem Kauf das Gefühl, die falsche Wahl getroffen zu haben. Die gigantische Möglichkeit, auswählen zu können, verschiebt auch die Verantwortung. Hast du auch wirklich den richtigen Lebenspartner gefunden? Könnte es nicht noch jemanden geben, der besser zu dir passt? Wenn du noch ein kleines bisschen wartest. Erich Fromm vermutete schon in "Die Kunst der Liebe" (wahrscheinlich ohne empirische Daten), dass Paare, die sich den Partner aussuchen können, nicht unbedingt glücklicher sind, als solche vor 200 Jahren, in denen man nehmen musste, wen man abkriegte. Es geht heute wie damals darum, ob man zum Lieben fähig ist. Natürlich würde niemand zurückwollen in einen Zustand, in dem man die Partner zugewiesen bekäme, aber wir sehen das Problem: Wir können die Freiheit nicht schätzen, wenn uns die vielen anderen Möglichkeiten im Nacken sitzen, seien es die Dutzenden Klopapiersorten oder die Milliarden anderer möglicher Lebenspartner, der andere Job, das andere Hobby, der andere Wohnort, die andere Medizin. Die zu große Auswahl führt schließlich oft auch zur Paralyse. Statt sich für irgendetwas zu entscheiden (und somit das Risiko einzugehen, nur die zweitbeste Wahl getroffen zu haben), entscheiden sich immer mehr Menschen gar nicht mehr. Sie zappen durchs Fernsehprogramm, sie zappen durch Kurzzeitbeziehungen oder lassen Möglichkeiten, ihr Leben nachhaltig zu verbessern, verstreichen. Beim Kantinenlesen haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir mehr Bücher verkaufen, je geringer das Sortiment ist. Die lange Liste verschiedener Auftritte eines Kollegen in seinen E-Mails führt dazu, dass ich diese schließlich gar nicht lese. Mit anderen Worten – das Ganze ist auch ein Problem für die Anbieter.
Aber für unseren Glückshaushalt kann das nur heißen, sich zu entscheiden und diese Entscheidung so zu behandeln, als sei es die beste der Welt.

*

"Where were you, Dan? Last night I talked to Mick Napier. And I told him you liked his book." Immerhin Mick hätte ich also gestern noch treffen können. David und Kim streiten, wann die Personalausweisregel eingeführt wurde. Kim meint, nach 9/11. David ist überzeugt, es habe nichts damit zu tun.
Heute Abend also unser erster Auftritt – "One World One Stage" nennen sie das Ganze.
Draußen ist es nicht nur kühl, sondern ein fieser Wind hält einen davon ab, längere Spaziergänge unternehmen zu wollen. Die windy City macht ihrem Namen alle Ehre.


Alles, was umfallen kann, wird auch umfallen, es sei denn, man beschwert es mit Sandsäcken.
Überall in Chicago.

 Wenn ich Steffi nicht hätte, wäre ich wohl nie ins Aquarium gegangen. Die Chicagoer zeigen sich von ihrer coolen Seite. Während wir eingemümmelt in der Schlange frieren, langweilen sie sich in Shorts und T-Shirt.

Bei uns würde hier ein Aquarium neben dem nächsten stehen, daneben trockene Erläuterungen über Kategorien, Lebensgebiet, Fressfeinde usw. In den USA geht es um Spiel. Man könnte das als Disney-World-Prinzip verunglimpfen. Aber im Grunde ist es das spielerische Prinzip, das auch die penibelsten Forscher bei der Stange hält, die Faszination der Tiefsee, für den seltenen Fisch, für die kuriosen Launen der Natur in tiefen Gewässern. Sehenswerte Schautafeln, Das Bedürfnis der Kinder, immer alles anfassen zu wollen, wird kanalisiert. Vorträge nicht etwa trocken gehalten, sondern mit einer unglaublichen Lebendigkeit.

 

Cafeteria Chicago Aquarium

Das Aquariums-Cafeteria ist noch trauriger als die bei IKEA, nur dass man vom Fenster der Cafeterien IKEA Waltersdorf/Spandau/Tempelhof keinen Blick auf eine der großartigsten Städte der Welt genießt

Am Abend "One World One Stage". Mark Sutton begrüßt uns und bereitet mit uns die Show vor. Ich frage mich, woher ich ihn kenne. Die Frage werde ich mir bis zum Ende des Festivals nicht beantworten können. "International" ist natürlich etwas übertrieben: Japan, Niederlande, USA, Deutschland, Kanada, Israel. Die Niederländer sind eigentlich Chicagoer, die gerade in Holland leben. Es gibt genau einen Kanadier, der immerhin auch ein wenig Französisch beherrscht. In diesem Sinne sind die Japaner am "internationalsten", die gerade mit einem Jetlag gerade eintreffen und kaum ein Wort verstehen. Kenne ich Greg Shapiro von vor sechs Jahren, als wir mit Jochen Schmidt und Bohni eine grauenhafte Comedy/Impro-Show in Amsterdam gesehen haben?
Die Israelis rocken die Bühne, und die Internationalisten geben sich hinterher mit einer Game-Show zufrieden. Auf was sonst soll man sich hier einigen, da nicht nur die Sprache ein Hindernis darstellt, sondern offenbar auch gravierende improtechnische Gräben sich auftun. Einige spielen schon jahrzehntelang Impro, andere haben gerade vor Kurzem ein paar Workshops besucht. Es gelingt uns dann doch recht gut, uns zu integrieren. Unser extrovertiertes Spiel wird gelobt.


Show-Fotos (c) Jerry A. Schulman

Am Ende beeindrucken uns doch die Hawaiianer und die Israelis am meisten. Auf der After-Show-Party (diesmal zum Glück im Theater, nicht in einer Bar), bieten die Japaner T-Shirts mit Unterschriften vom letzten Jahr an. Preis: 20 Dollar. Ziemlich schnell zeigt sich, dass niemand daran Interesse hat. Aber sie bleiben eisern hinter ihrem T-Shirt-Tischchen stehen.… Weiterlesen

USA 2009 – 11.-13. April – Abreise und Ankunft

11. April 2009

Der Wecker klingelt um 3.15 Uhr, aber wie so oft bei entscheidenden Terminen lässt mich meine biologische Uhr nicht im Stich – ich bin schon fünf Minuten früher wach, und das obwohl ich nicht einmal drei Stunden geschlafen habe. Jeder andere hätte wohl den Auftritt am Abend vorher abgesagt, aber noch benötigen die Improshows von Foxy Freestyle in der Alten Kantine alle Kraft, damit wir uns dort einen Publikumsstamm aufbauen können.
Da ich weiß, dass ich an Morgen wie diesem benommen jeden Schritt doppelt gehe, habe ich diesmal am Tag vorher gepackt. Nur der Laptop und das Waschzeug muss noch eingepackt werden. Steffi diesmal noch müder als ich. Brötchen geschmiert. Laktase nicht vergessen. Durchfall im Flugzeug wäre äußerst peinlich. Der Rauchmelder. Oder wenn man bei der Landung in Schiphol nicht rauskann.
Der Taxifahrer pünktlich, freundlich und fährt recht sanft. Sanfte Luft in Tegel. Berlin erwartet einen warmen Tag und wir verlassen es. Für Berliner Verhältnisse bin ich viel zu warm bekleidet, sogar lange Unterhosen liegen in meinem Handgepäck. Aber was soll ich tun – der Wetterdienst prophezeit 5°C in Chicago. Im Zeitungsladen eine ZEIT, das TIME Magazine und die taz, die ich ja heute früh nicht im Briefkasten finden konnte. Für die nächsten 2 Wochen schenke ich mein Abo Robert Naumann.
Schon auf dem kurzen Flug nach Amsterdam bemühen wir uns, das Schlafdefizit aufzuholen, ich ergattere eine halbe Stunde.
Aufenthalt in Amsterdam. Verbringe eine Viertelstunde damit, herauszufinden, wie ich den WLAN-Spot nutzen kann. Wie sehr doch Mails und Internet zum bloßen Zeitvertreib werden und man sich einredet, man arbeite, merkt man in solchen Momenten.
Elizabeth Gilbert "Eat pray love" kaufe ich im Flughafen-Buchladen und beginne schon hier die Lektüre, setze sie im Flugzeug fort, gebe ihr ausreichend Gelegenheit, mich zu überzeugen (genaugenommen bis S. 50), es gelingt ihr nicht. Vielleicht ist es gerade die Flockigkeit, die mich so schnell bis S. 50 traben lässt, während ich den Original Macbeth schon nach zwei Seiten aus der Hand lege.

Wir werden eingeladen, Elisabeth Gilbert auf dem Weg der Selbstfindung zu beobachten. Aber warum sollten wir das tun? Sie trennt sich von ihrem Mann, als sie herausfindet, dass sie keine Kinder will. Und mich, den Kinderlosen, beschleicht die Ahnung, dass es dieses Buch nicht gäbe, hätte Gilbert Kinder. Kein Eat, kein Pray, kein Love. Der Ehemann treibt sie in einen Scheidungskrieg, von dem sie angeblich nichts berichten will, tut sie aber dennoch soweit, dass wir verstehen, dass er ihr gesamtes Vermögen will. Sie verliebt sich in den jungen David, der sie bald abblitzen lässt und entscheidet sich, Italienisch zu lernen, bei einem indischen Guru zu meditieren und schließlich einen indonesischen Medizinmann zu besuchen. Drei Länder mit "I", and her I, that’s what she’s looking for. 10-20 Seiten amüsiert es einen, aber dann wird man das Gefühl nicht los, eine 400seitige Glosse zum Thema Selbstfindung lesen zu sollen.

I think I lost something like thirty pounds during that time. (…) Oh, but it wasn’t all bad, those few years..
Because God never slams a door in your face without opening a box of Girl Scout cookies (or however the old saying adage goes), some wonderful things did happen to me in the shadow of all that sorrow. For one thing, I finally started  learning Italian. Also, I found an Indian Guru. Lastly, I was invited by an elderly medicine man to come and live in Indonesia.

Vielleicht tue ich ihr Unrecht. Der Grund, warum ich das Buch überhaupt gekauft habe, war nämlich ihr wunderbarer Vortrag über Kreativität.

Obwohl Northwest Airlines zu den Beinfolterern unter den Fluggesellschaften zählt, gelingt es mir erstaunlicherweise mehrmals, die Beine auszustrecken und Schlaf zu gewinnen.
Der Monitor, auf dem der familienfreundliche Film (irgendwas mit einem Hund, der am Ende stirbt) gezeigt wird, ist so weit von unserem Platz entfernt, dass wir nur selten der Versuchung erliegen, die Bewegungen auf dem Bildschirm zu verfolgen.
Unsere Gespräche kreisen um Naheliegendes: Schlafen, Trinken, Essen, Adressliste, Reiseplan, Geld, Einreiseformulare. Steffi ist gut gelaunt, und ich glaube, sie noch mal warnen zu müssen, weder im Flugzeug noch auf den amerikanischen Flughäfen spaßigerweise das alarmauslösende B-Wort zu benutzen oder irgendetwas ähnlich klingendes, und sei es "Bommel".

Suche beruhigende Musik auf meinem mp3-Player. Haydns Sinfonien, so muss ich feststellen, gehört nicht dazu, und so schalte ich wieder einmal auf meinen geliebten Mozart. Auch wenn man es weiß, man unterschätzt immer wieder die körperlichen Belastungen eines Fluges. (Sind sich die Stewardess-Azubis eigentlich darüber im Klaren, worauf sie sich einlassen?) Genügend trinken, aber wie? Flüssigkeiten darf man nicht mehr mit an Bord nehmen, und die Portionen, die einem serviert werden, langen nicht einmal für 20 Minuten. Man will aber auch nicht als "anstrengender Passagier" gelten und ständig die Stewardessen wegen Nachschub herbeiklingeln. Also findet jeder seinen persönlichen Kompromiss, und der geht in der Regel zu Lasten des Körpers.
Schon kurz nach Abheben fällt mir ein, dass ich eines der wichtigsten Reiseutensilien deutscher USA-Touristen vergessen habe – den Schal. Vor mir fettwänstige Amis im T-Shirt und ich fröstele mit dickem Rollkragenpullover. Ein Gefühl, das mich in den folgenden Wochen nicht verlässt: Was nicht ordentlich kalt ist, ist dem Ami nichts wert. Er schüttet in seinen Becher einen Berg Eiswürfel und füllt die Zwischenräume mit dem Getränk. Dass dann alles nach chloriertem Wasser schmeckt, macht ihm nichts aus. Und die Klimaanlagen bescheren jedem Normaleuropäer eine Lungenentzündung. Ich vermute, die Körpertemperatur eines Durchschnitts-Amis liegt nicht bei 36,5 sondern bei 30,1°C.
Wir nähern uns Detroit. Und ich kann mich der Assoziation nicht erwehren, die ich immer wieder beim Klang des Namens dieser Stadt habe – Fontanes Gedicht John Maynard. Wie mir Michael Brown vor sechs Jahren berichtete, waren solche Legenden im 19. Jahrhundert gang und gäbe, und sie wurden zu Volksballaden.
Aufregend, wieder in den USA zu sein. Ein Rest von Bangigkeit: Wird es Probleme mit meiner Einreise geben? 2003 haben sie gerade am Grenzübergang von Kanada nach Detroit ein Fass aufgemacht, weil ich keinen exakten Wann-übernachten-Sie-wo-Reiseplan vorlegen konnte.

Aber diesmal behandelt man uns freundlich. Und wir sind darauf vorbereitet, auch auf absurde Fragen klare Antworten zu geben. Die Masterfrage lautet diesmal: "Haben Sie für drei Wochen Aufenthalt nicht zu wenig Gepäck dabei?", und das obwohl wir unter der Last unserer Gepäckstücke schwitzen. Die richtige Antwort lautet: "Wir waschen unsere Wäsche."
Ein sinnlos erscheinender Aufenthalt in Detroit. Es fühlt sich an wie Angekommen, und doch müssen wir noch drei Stunden bis zum Abflug nach Chicago warten. Meine ersten Dollars gebe ich für Burger, Pommes und Cola aus. Willkommen im Land der Dicken. Ein schöner Flughafen, der es fast mit Shanghai aufnehmen kann, aber unsere Wahrnehmung für Schönes wird durch Erschöpfung getrübt. Hier ist es früher Nachmittag, nach Berliner Zeit 20.30 Uhr, und uns fehlt so viel Schlaf.
Wir lassen uns Zeit beim Einsteigen ins Flugzeug nach Chicago, unsere Beine sind noch von der ewigen Flugzeugposition zu erschöpft. Wir sind fast die Letzten und kommen so in den Genuss zweier Business Class Sitze. Auf der kurzen Strecke gibt’s dann aber trotzdem nur Bonbons, Erdnüsse und Kekse. Schlafen unmöglich. Mozart muss wieder herhalten. Klaviersonate C-Dur KV 309.

Chicago empfängt uns kälter als erwartet. Das Ticketsystem der U-Bahn völlig unverständlich (im Nachhinein freilich wesentlich simpler als das der BVG), erste Vokabelschwierigkeiten am Automaten. Man friert, ist hungrig, wo ist noch mal der Stadtplan, wie fahren wir jetzt, sollen wir den Typen da fragen, nein, der hat nichts mit der Bahn zu tun, doch, nein, doch, nein der ist nur Security, es klappt ja doch, der Koffer ist schwer, ich trag ihn dir, lass mal, er passt hier nicht durch.
Auf dem Plan sah die Strecke von der U-Bahn bis zu Davids Finks Haus doch kürzer aus. Wir pausieren alle 50 Meter. Der Koffer. Die Hände. Die Kälte. Endlich haben wir es gefunden. Nicht zuhause: David. Dabei waren wir doch verabredet und sind fast auf die Minute genau da. Rufen an. Ach ihr wolltet heute schon kommen, ich bin noch in Michigan. Indem ich antworte: "Na klar wollten wir heute kommen", fällt mir ein, dass ich ihm gemailt hatte, wir kämen am Sonntag. Es sei kein Problem, er sei in zwei Stunden da.
Eine hübsche Wohngegend, nur leider ohne Café, Bibliothek oder irgendetwas Warmes zum Reinsetzen. Es fühlt sich an wie früher, als man sich im Ausland ohne Geld immer Gedanken ums Nötigste machen musste. War am U-Bahnhof nicht ein Starbucks? Am U-Bahnhof? Mit Gepäck wieder zurück? Es bleibt uns nichts anderes übrig. Warten im Starbucks. Der erste von bestimmt 20 Starbucksaufenthalten in den kommenden Wochen.
Ein Klo haben sie hier allerdings nicht. Nicht nur muss ich mal – inzwischen brauche ich auch die lange Unterhose, um mich nicht zu erkälten, und bekanntlich wären die Amis einer die Unterwäsche betreffende Umkleide-Aktion hier im Starbucks eher unaufgeschlossen. Die nächste Toilette gegenüber in der Tankstelle. Ich betrete den Raum – eine vollgepisste nicht abschließbare Drecksbude. Pinkeln geht gerade so. Umziehen, angelehnt gegen die Tür. Frauen erleiden derartige Qualen gewiss häufiger, denke ich. Bei Starbucks noch ein Mineralwasser für drei Dollar.
Zurück zu David, der uns freundlich begrüßt und uns durchs Haus begleitet. Schöne Kunstwerke an den Wänden, eine beeindruckende Skulptur. Unser Schlafzimmer ist im unteren Büro, das gerade etwas unaufgeräumt ist und nach Hund riecht. Eine Schranktür als Sichtblende. Im Hostel wäre es nicht besser, tröste ich mich. Hinterm Haus eine Schnellstraße, davor ein schöner Park. Eine der besseren Gegenden.
Große Küche, voller Kühlschrank. Ich fische mir den Salat heraus. Steffi isst noch ein wenig Obst.
Dürfen jetzt trotz der Müdigkeit noch nicht schlafen, sonst verderben wir uns den Rhythmus. Bis 22 Uhr halten wir es aus. In Berlin ist es jetzt 5 Uhr morgens.

*

Sonntag, 12. April 2009

Man müsste doch eigentlich erwachsen genug sein, um zu verstehen, dass man sich nicht die Städte, die man besucht, durch schlechtes Wetter vermiesen lassen darf. Es fällt schwer, der Erinnerung, dass Chicago eine schöne Stadt ist, zu vertrauen, wenn man in einem kalten Zimmer erwacht, die Klimaanlage gibt sich lautstark Mühe, die Temperatur auf 18°C hochzupitchen, und man mag nicht lüften wegen der feuchten Kälte und dem Lärm. Und dabei bin ich noch bei Verstand und Kräften. Wie soll das erst mal sein, wenn ich gebrechlich, alt und willensschwach bin?
Ich habe, wie ich jetzt feststelle, zuhause mein Laptopkabel vergessen. Die Akkus reichen noch für 25 Minuten. Ich werde ihn noch mal hochfahren müssen wegen der Adresse in New York. Aber lieber noch warten, bis mir einfällt, was ich noch vom PC brauche. Nutzlose Kilos werde ich also in den nächsten Tagen herumschleppen, was sicherlich leichter wäre, wenn ich mir nicht selber nutzlose Kilos zugelegt hätte. Auf 84 Kilogramm bringe ich es vorm Abflug. Rekord. David Fink, unser Gastgeber, meint dennoch, ohne von dieser Sorge zu wissen, ich könne ein paar Pfunde mehr auf den Rippen vertragen. David empfiehlt uns, den Park, Steffi ist sofort einverstanden, womit die Sache im Grunde beschlossen ist.
Ohne Steffi würde ich nun zuhause herumsitzen, lesen, und so muss ich mich zusammenreißen  zu meinem eigenen Vorteil. Außenstehende könnten das Zweckgemeinschaft nennen, aber eigentlich liebe ich sie genau dafür.
Obwohl wir in Amerika sind – an einem kalten Sonntagmorgen ist die Innenstadt öde. Wir laufen am Rande des Loops und bewegen uns langsam auf den Searstower zu, der uns als Orientierung dient. Aufwärmen und Frühstück in einem Café. In welchem. Dem nächstbesten. Es kommt bloß kein nächstbestes. Endlich finden wir doch eines. Verzehrpflicht. Am Nebentisch gutgekleidete und -gebildete, wohlerzogene und -habende Teenager, die ich neugierig betrachte, aber nicht fotografieren darf. Chlorierte Eiswürfel werden serviert. Was soll ich damit? Die Speisekarte nach soja- und laktosefreien Gerichten abscannen, und ich lande bei Omelette. Das Lokal füllt sich. Auch ein paar Rednecks sind zu sehen.
Wir schlendern weiter, und so wie es einen in Prag früher oder später zur Karlsbrücke zieht, so wird man hier eben vom Searstower angezogen. Aufgeputzte Familien im Eingangsbereich. Die Kinder mit Körbchen in der Hand, und erst jetzt fällt uns ein – es ist ja Ostern. Vor zwei Tagen hatte ich noch während des Aufbaus vor der Show bei Foxy Freestyle albern die Bachschen Passionen durch den Kakao gezogen: "Und Jesus sprach zu seinen Jüngern…". Erst neulich erfuhr ich, dass man am Karfreitag in Hessen nicht tanzen darf. Was würde Jesus dazu sagen?
Der Searstower erinnert natürlich an die Shanghaischen Wolkenkratzer vor einem Jahr. Die gedanklich völlig unverarbeitete Reise. Genau wie dort – man ist eben oben, und das ist schon Sensation genug, aber sie wollen einen auch noch abzocken mit Kinkerlitzchen, in Shanghai skrupelloser und professioneller.


Auf dem dreieckigen Haus soll man Männer Volleyball spielen sehen.

Komprimiert die Geschichte einer unwahrscheinlichen Stadt. Handel, Viehzentrum, völliges Niederbrennen, kultureller und industrieller Aufschwung, Mafia-Metropole, Jazz-Explosion, Baseball. Und schließlich – hier wurde der Poetry Slam erfunden und – das moderne Improtheater, der Grund warum ich in diesem Jahr überhaupt hier bin.
Ich erinnere mich, wie mir Michael Brown vor sechs Jahren erzählte, er sei 1979 eines Morgens von Polizeisirenen geweckt worden, ging aus dem Haus und sah dann, wie in einem gigantischen Crash-Unfall sich Dutzende Polizeiautos übereinanderstapelten. Es stellte sich heraus, dass hier gerade die letzte Szene aus "Blues Brothers" gedreht wurde. Natürlich mit den Stars des Improtheaters "Second City" in der Hauptrolle – Dan Aykroyd und John Belushi.
Trost an diesem Tag soll mir der Borders Buchladen spenden. Sind diese Buchläden schöner aufgebaut, haben sie die interessanteren Bücher im Angebot, oder bin ich einfach nur kaufgeil, weil ich in Amerika bin. Ich könnte jedes Buch mitnehmen. Entscheide mich – nicht ohne ausgiebiges Stöbern, Zweifeln, Zurücklegen und Testlektüre im Café – für
– Firoozeh Dumas: "Laughing Without an Accent. Adventures of an Iranian at Home and Abroad"
– John Wright: "Why is that so funny? A practical Exploration of Physical Comedy"
– Barack Obama: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream"
– Andy Goldberg: "Improv Comedy".
– zwei klitzekleine Moleskine. Aber die wunderbaren kleinen Notizbücher mit dünnem, in Gummi gehaltenem Bleistift sind verschwunden. Die Moleskine-Mafia beherrscht auch hier den Notizbuchmarkt.
Einkaufen im Wholesale. Wir sind gewohnt, etwas mehr Geld für gutes Essen auszugeben, aber die hiesigen Preise für Bioprodukte verblüffen doch einigermaßen.
20 Dollar im Restaurant, 8 Dollar im Café, 16 Dollar im Tower, 77 Dollar im Buchladen, 100 Dollar für Lebensmittel – die Reise beginnt auf großem Fuß.
Wir lernen Kim, Davids Partner, mit Emmis, dem aufgeregten Mini-Collie kennen. Kim unterrichtet Ethik für Filmstudenten. Ob er letztlich für die Moral der Hollywoodfilme verantwortlich ist?

Schade, auch das Klavier in unserem Schlafzimmer ist zugemüllt, man könnte sich mit Improvisationen in d-moll trösten. Wenn ich mich ans Klavier setze, suchen meine Hände automatisch d-moll, wer weiß, wer ihnen das gezeigt hat. Wie einem der Zugang zu Musik verdorben werden kann, wäre auch noch ein Kapitel. Eine typische Stunde Klarinettenunterricht sah so aus, dass man sein Instrument auspackte, es vor den Augen des Lehrers sorgfältiger als zuhause zusammenbaute. Blatt befeuchten und passend aufs Mundstück legen, Kork fetten, zusammenbauen, zielen. Und dann begann man mit dem "Töne aushalten" in einer vom Lehrer festgelegten Tonleiter. Es ergab einfach keinen Sinn. Man saß da und blies ganze Noten, abwartend, dass man nun endlich zum Eigentlichen übergehen könnte. Ich verstehe heute natürlich, dass es dabei darum ging, sich erst einmal an den Ansatz zu gewöhnen, sich Warmzublasen usw. Aber warum nicht spielerisch? Ich erinnere mich nicht, dass mein Lehrer mir einmal die Aufgabe gestellt hätte, so laut wie möglich zu tröten. Oder auch so leise wie möglich. Es gab keinerlei spielerische Erkundung des Instruments – es gab nur "falsch" und "richtig". Alle zwei Wochen kam eine neue Tonleiter dran – von der einfachsten G-Dur bis zur schwersten – Cis Dur. Und dann mussten in der aktuellen Tonart Sechzehntel-Intonationen geblasen werden. Zwei gebunden, zwei gestoßen. Zwei gestoßen, zwei gebunden. Drei gebunden, eine gestoßen. Auch hier ließ ich mich nur widerwillig darauf ein. Welchen Sinn hatte das alles? Es waren diese Übungen, die mir den Zugang zum eigentlichen Spielen völlig verbauten.

Vielleicht sollte ich zur Ehrenrettung meines Lehrers anführen, dass ich mir auch selber nie die Mühe gemacht hatte, das Instrument wirklich zu erkunden. Aber wenn mir der Unterricht etwas vermittelte, dann eben dass man alles "richtig" zu spielen hatte. Und ohne spielerischen Ansatz ist die Musik tot. Da nutzt einem auch alle Präzision nichts mehr. Natürlich gab es Stücke, die ich mochte. Vor allem die etwas verrückteren, dissonanten Sachen hatten es mir angetan. Erhard Ragwitz zum Beispiel. Nur wusste ich auch hier, dass es einem verübelt wurde, wenn man sich "verspielte", womöglich gar zum wiederholten Mal. "Dan, ich denke, du bist so gut in Mathe, dann wirst du doch wohl bis Drei zählen können! Drei Fs stehen hier!" Auch die etwas komplizierteren Dui mochte ich, aber ich kann heute kein Mozart-Stück für Klarinette hören, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen – Hast du genug geübt? Und Üben – das hatte natürlich nichts mit Spiel zu tun. Man übte ein Stück so lange, bis es saß. Ich erinnere mich, wie ich mich in einer Stunde mit einem Menuett herumquälte und mich der Lehrer rhetorisch fragte, ob ich mir vorstellen könne, dass er dazu tanze. Ich verneinte. "Na also! Das ist ein Tanz! Also bitte!"______

Wir wissen immer noch nicht, was für ein Format wir am Sonnabend aufführen sollen. Es wird uns schon etwas einfallen. Das, mit dem wir uns beworben haben, mutmaßen wir, wird wohl wegen fehlender Leinwand nicht funktionieren.

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Montag, 13. April 2009

Ich versuche, mich zu sammeln. Das Wetter ist elend. Es regnet nur. Und es ist natürlich Steffi, der es gelingt, mich wenigstens zu kurzen Spaziergängen zu überreden.
Lektüre von Obamas "Audacity of Hope". Von Anfang an ist man in den Bann gezogen von Obamas Offenheit. 1. Kapitel "Republicans and Democrats". Man beginnt zu verstehen, in welcher Pattsituation sich die Politik der USA befand. Man ist Republikaner oder Demokrat, so wie man sich eben für die eine oder die andere Baseball-Mannschaft begeistert, nur dass die Spielzüge und Ergebnisse in der Politik vorhersehbarer und also langweiliger sind. Mit dem eigenen Leben haben sie nichts zu tun. Es bedurfte erst den Mut eines Obama, den Zyklus zu durchbrechen, über Schlammschlachten an die Macht zu gelangen. Er hatte natürlich Glück, in einem demokratenlastigen Staat anzutreten. Er hatte Glück, keine allzu schwere Kampagne führen zu müssen. Und er hatte Glück, die große Rede während der Kerry-Nominierung halten zu dürfen. Im Rückblick könnte man vielleicht sogar sagen, er hatte Glück, dass Kerry die Wahl verloren hat. Aber auch die USA können sich glücklich schätzen, diesen Mann zu haben, der zu seinen Fehlern steht, der sich von einer Politik des Tit for Tat verabschiedet hat, der Großspenden von CEOs von vornherein ablehnte, der nach Lösungen strebt, statt nach Konfrontation, dem es gelingt, uneitle Allianzen zu schmieden, und dem man auch wirklich glaubt, dass er selbst diejenigen versteht, die ihn nicht wählen.

Das Chicago Improv Festival wird heute eröffnet. Mit einer Gay Improv Show. Das reißt mich nun nicht unbedingt vom Hocker. GayCo Productions, Dykeprov, GayMondo – vielleicht sind es sogar alles ganz annehmbare Improspieler, aber mein sechster Improsinn sagt mir, hier wird was anderes in den Vordergrund gestellt. Immerhin – die Eröffnungsparty wollen wir uns nicht entgehen lassen. Mit Regenschirm und einer Regenjacke, die ich mir von David borge, steigen wir in die El. Vorm Theater begrüßen wir Jonathan Pitts, den ich vom Foto wiedererkenne und der uns überhaupt nach Chicago eingeladen hat. Zwei Einlasser fragen nach unseren Pässen. Steffi zeigt ihren, ich kann sie gerade noch zurückhalten, ich hab meinen nicht dabei. Ohne Ausweis mit Lichtbild, so erfahren wir, kommt man in Illinois nicht in Bars. Eine absurde Regelung – es geht im Prinzip darum, dass man 21 sein muss, um Alkohol konsumieren zu dürfen. Aber da bei der ID-Kontrolle niemand diskrimiert werden darf, muss jeder seinen ID zeigen. Absurd natürlich vor allem deshalb, weil es in den USA keinen offiziellen Ausweis gibt. De facto nützen die meisten Amerikaner also ihre Fahrerlaubnis, in Ausnahmefällen auch ihre Sozialversicherungskarte oder ihren Studentenausweis. Einen Pass besitzen die wenigsten. Was aber macht jemand, der weder einen Führerschein hat, noch sozial versichert ist oder Student? Das freie Land endet am Eingang zur Bar. Und – widersprüchlich wie es nur Amerika sein kann – diese Ausweispflicht gilt natürlich nicht für Restaurants, in denen Bier oder Wein ausgeschenkt wird. Man stelle sich vor – in Deutschland stünde vor jeder Kneipe ein Einlasser. Aber wer weiß, noch bei meinem letzten USA-Besuch habe ich mit ähnlicher Verwunderung die vor den Kneipen stehenden Raucher belächelt. Ohne Pass komme ich jedenfalls nicht rein. Steffi will für mich verhandeln, ich weiß schon, dass es aussichtslos ist, because "it’s the law", und sie vor Peinlichkeiten bewahren, was sie verärgert, sie wolle mir doch nur helfen. Sie schaut sich drinnen um, auf der Suche nach David, der ja auch als Förderer der Chicagoer Improszene eine große Nummer ist. Sie kommt raus, und berichtet, es sei eher eine Schwulenbar. 100 Männer und drei Frauen, wobei sie sich bei den dreien auch nicht ganz sicher sei. Wäre es denkbar, dass nach dem Berliner Impro-Cup im Bühnenrausch hinterher alle ins “Stahlrohr” gehen?
Wir fahren mit dem Taxi zurück, und kurz spiele ich mit dem Gedanken, mir meinen Pass zu holen und zurückzukommen, aber das würde 40 Dollar Taxigeld kosten oder anderthalb Stunden U-Bahn-Fahrtzeit. Nur um mir dann zu Technogewummer eine Gay-Party anschauen zu dürfen. Ich hatte geglaubt, die Eröffnungsfeier sei ein großes Zusammenkommen aller Improspieler, wo man sich mal kennenlernt. Falsch geraten.… Weiterlesen

Der Beat

Wann editiert (vulgo: abklatscht) man den Mitspieler? Auf den nächsten Beat. Wann ist der nächste Beat? An der nächsten unpassenden Stelle. Nach der Frage, aber vor der Antwort. Nachdem der Mörder das Messer erhoben hat, aber bevor er zusticht. Nachdem der Ehemann seine Frau inflagrant ertappt, aber bevor sie mit ihren Ausflüchten herausrückt.
In jedem Fall: Früher als der Zuschauer es erwartet.

fehlender Spieltrieb

Wie ich bereits mehrmals schrieb, fiel es mir (und offenbar auch anderen Lehrern) immer leicht, Elemente des Improtheaters zu lehren, die ich mir selber bewusst aneignen musste: Schauspieltechniken, Erzähltechniken, radikales Akzeptieren usw.
Schwieriger zu vermitteln hingegen erschienen mir Dinge, die für mich nie ein Thema waren, hier vor allem der Spieltrieb.
Anfängerkurse beginnen in der Regel mit einer Botschaft der Hemmungslosigkeit: Alles ist OK, spiel einfach, au ja! Fast jeder springt darauf recht schnell an, und doch gibt es Schüler, denen das Spielerische so abgeht, dass sie stets den Sinn einer Übung oder eines Spiels hinterfragen, sich in “Kann-ich-nicht” oder “Will-ich-nicht” zurückziehen.
Oft ließ mich das sprachlos zurück. Ich fühlte mich an die alte Sanostol-Fernseh-Werbung erinnert, in der eine Gruppe Kinder fröhlich schreiend durch nasses Herbstlaub um die Ecke rennt. Hinterher trottet das eine lustlose sanostolbedürftige Kind.
Die Spielfreude immer wieder zurückzuerobern – darum geht’s. Und dafür brauchen wir immer wieder neue Übungen.

Shakespeare auf die Schnelle

Ich weiß ja, Improspieler wollen immer schnelle Listen, die ihnen die Arbeit erleichtern. Bitte sehr. Shakespeare für Eilige:
1. Reime: Es wird gereimt a) in Prologen und Epilogen, b) von Narren und in Liedern, c) die letzten 2 Zeilen einer Szene. Ansonsten ist alles ungereimt.
2. Ungebundene Sprache: Einfache gesprochene Sprache wird von einfachen Menschen – Bauern, Handwerkern usw. gesprochen.
3. Fünffüßige Jamben: Von allen anderen, insbesondere Adel und höheren Dienern. Ich denke, man muss sich nicht immer sklavisch dran halten, obwohl es so schwer auch nicht ist: Einfach einen normalen Vierer-Vers sprechen und noch ein betontes Element ranhängen, z.B. “Im FRÜHling SCHEINT die SONne OFT” (und wir hängen ran: “am MORgen”). Wichtiger aber ist, und das kriegt man mit ein bisschen Übung recht schnell hin, ist die “Sprache mit Haltung”.
4. Im Dialog sich stets auf das beziehen, was der andere eben gesagt hat, ruhig auch Wörter oder Satzelemente zitieren.
5. Tragödie läuft idealtypisch so ab: Der Held versucht, das Gute zu tun, reitet aber gerade dadurch alle ins Unglück. Es stirbt fast immer einer mehr als erwartet. Oder es endet im gar greulichen Gemetzel.
6. Komödie: Beruht meistens auf Missverständnissen und Verwechslungen. Meines Erachtens schwerer zu spielen, da wir uns im Missverstehen verstehen müssen. Typisches Ende: Hochzeit.
7. Typische Themen: Umstrittene Thronfolgen, umstrittene Hochzeiten oder Liebschaften.
8. Typische Orte: Britannien, Italien, antikes Rom oder Griechenland. (Dänemark ist die eine bemerkenswerte Ausnahme.)
9. Typische Elemente: Belauschen, Verstecken, Maskieren, Schauspiel im Schauspiel.
10. Fast immer gibt es eine Art “Moral” am Schluss, die entweder im Epilog oder von einer der Figuren explzit benannt wird. Auch hier macht sich ein Endreim gut, da er
sozusagen mit einem Tadaa das Ende markiert.

Gestern gespielte Figuren

1. musikalische Szene: Vater der Heldin / wahnsinnige Tante
2. Shakespeare-Drama: Narr / “Der schwarze Müller”
3. Passenger-Rolle im Game: Kellner
4. Chef im Finanzamt / Banker in Luxemburg
5. Oper: Raumschiffkapitän

Darunter keine Protagonistenrolle. Vermeidet man die manchmal? Unwohl fühlte ich mich als “wahnsinnige Tante”, da dadurch der eher dramatischen Szene ihre Wucht genommen wurde. Gut war der Shakespearesche Narr, da mir die Mischung aus Dreistheit, wortspielerischer Gewandtheit und Gefährlicheit ganz gut gelungen ist.
Man müsste sich mal Gedanken machen über Raumschiffszenen. Habe noch keine einzige spannende gesehen oder gespielt, von ein paar gelungenen Features mal abgesehen. Aber es muss möglich sein.

Büchersucht

Nicht genug, dass ich meinen Rucksack auf dem Weg in die USA mit Lektüreballast beschwerte, ich konnte an keinem Barnes & Noble vorbeigehen, ohne diesen Bücherhökern Geld in den Rachen zu werfen. Wissensgier? Sucht nach Entertainment? Angst vor Langeweile? Glaube, durch den Akt des Geldausgebens Weisheit zu erlangen?

  1. Michael G. Trachtman: “The Supremes’ Greatest Hits. The 34 Supreme Court Cases That Most Directly Affect Your Life” – fast durchgelesen. Eine schöne kurze Darstellung der Entwicklung der amerikanischen politischen Entwicklung anhand der Rechtsprechung der 3. Gewalt (“third branch of government”). Statt eines hammerförmigen Bleistifts im Giftshop des Supreme Court gekauft.
  2. Firoozeh Dumas: “Laughing Without an Accent. Adventures of an Iranian at Home and Abroad” – bisher ungelesen. Auf dem Heimflug neben mir eine iranische Familie. Muss feststellen, dass mir die einfachsten Vokabeln inzwischen weggerutscht sind. Brauche 5 Minuten, um mich an das persische Wort für “Essen” zu erinnern.
  3. John Wright: “Why is that so funny? A practical Exploration of Physical Comedy” – bisher nur abschnittsweise durchblättert. Scheint aber inspirierend zu sein, da er das Clowneske nicht zu albern beschreibt.
  4. Barack Obama: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream” – innerhalb von fünf Tagen durchgelesen. Ich hätte nur vier Tage gebraucht, wenn ich es nicht zwischendurch in der Chicago-U-Bahn verloren hätte. Er beschreibt schön die Hybris, denen ein Politiker im Senat ausgesetzt ist, reflektiert seine Rolle als Vater, als “Schwarzer”, die Möglichkeiten des Wandels in den USA.
  5. Andy Goldberg: “Improv Comedy”. Abschnittsweise gelesen. Das meiste natürlich bekannt, aber einige kleine Anregungen finden sich doch.
  6. Patrick Lindsay: “Now is the time. 170 ways to Seize the Moment” – stichprobenartig gelesen. An einem deprimierenden Tag in Chicago gekauft, in der Hoffnung, es helle mein Gemüt auf. Außerdem bin ich für Listen empfänglich, die einem Lösungen versprechen.
  7. Philip Roth: “Portnoy’s Complaint” – gekauft in Washington, DC. Noch nicht begonnen. Aber neugierig, diese Bildungs- und Amüsierlücke zu schließen.
  8. Bernard Malamud: “The natural” Ein Baseball-Roman. Gefunden auf einer Blumenrabatte in der Fußgängerzone von Charlottesville, VA.
  9. Nicholas Dawidoff: “The Catcher was a spy. The Mysterious Life of Moe Berg.” Gefunden ebenda. Der Titel erinnert natürlich an Salinger. Zwei Bücher gefunden, eins verloren, ich mache also Plus?
  10. David Richo: “The Five Things We Cannot Change: And the Happiness We Find by Embracing Them” Gekauft in Washington, DC. Abschnittsweise gelesen. Wir können nicht ändern, 1. dass sich alles ändert und vergeht, 2. dass nicht alles nach Plan verläuft, 3. dass das Leben nicht immer fair ist, 4. dass Schmerz ein Teil useres Lebens ist und 5. dass Menschen nicht immer liebevoll und loyal sind. Wie, so fragt Richo, gehen wir damit um? Ignorieren wir diese oft schmerzhaften Wahrheiten? Wehren wir uns gegen sie? Schaffen wir uns Ausflüchte? Oder gelingt es uns, sie zu umarmen? (Mein Lebenshilfe-Literatur-Stapel hat in den letzten 2 Jahren ordentlich zugenommen. Bin ich nun schlauer oder hilfloser?)
  11. Elizabeth Gilbert: “Eat, Pray, Love” Gekauft auf dem Flughafen in Amsterdam. Nach 50 Seiten dann doch beiseite gelegt. Zu geschwätzig. Und warum soll ich mir die verplapperte Lösung von Miniproblemen einer reichen Newyorkerin durchlesen?
  12. John Steinbeck: “Of Mice and Men”. Gekauft in Washington, DC. Bisher ungelesen. Obwohl ich “Grapes Of Wrath” immer noch für ein großes erzählerisches Werk halte, habe ich seit 1993/94 nichts mehr von Steinbeck angefasst. Das ändere ich nun.