Obszoenitaeten

In New York heute die fuenfte Impro-Show in Folge gesehen, die mit ekelhaften Obszoenitaeten begann. Man fragt sich: Warum? Wir spielen ja manchmal auch mit Zweideutigkeiten oder ueberschreiten mal gezielt eine Grenze, aber hier scheint es, gerade fuer Anfaengergruppen, typisch zu sein, ueber das Fallenlassen von Obszoenitaeten, Lacher zu erzielen. Masturbieren, Vagina, Analsex, Vergewaltigung, Unterleibskrebs, usw. usf. Natuerlich kann jedes dieser Themen Inhalt einer guten Improszene sein, aber hier hat man jedes mal das Gefuehl, einer besoffenen College-WG zuzuschauen.
Strukturell ist es ja nichts anderes als das Name-Dropping im politischen Kabarett. Schon das Wort “Merkel” garantiert Lacher. Interessant ist aber, dass dieses Phaenomen des Obszoenitaetendropping in Deutschland so gut wie gar nicht auftaucht.
Psychologisch koennte man es vielleicht so deuten wie Keith Johnstone es angedeutet hat: Die Anfaenger-Spieler versuchen, ihre Grenzen zu ueberschreiten. Sie beginnen mit Stammelei, dann kommen die Obszoenitaeten, dann die depressive Phase. Und erst wenn all das durchschritten ist, lernen die Spieler zu “tanzen”.

Authentizität und “Authentizität”

Es ist sinnlos, beim Schauspiel von “authentischen” Emotionen zu reden, wenn man Emotionen nur statisch auffasst. Das Geschick des Schauspielers liegt nämlich gerade in der Fähigkeit, einen flexiblen, dynamischen Umgang mit Emotionen zu finden, mit der eigenen Innenwelt zu spielen. Würden wir uns als Schauspieler von den eigenen Gefühlen, wie z.B. Trauer, Gier, Wut, Verliebtheit usw. forttragen lassen, wäre auch authentisches Spiel nicht mehr möglich. Die Zuschauer sähen dann nur noch einen sich peinlich gehen lassenden Spieler.

Tagtraum

Eine der wichtigsten Inspirationsquellen im Improvisationstheater ist das Tagtraeumen, etwa beim Schwimmen oder beim Wegdoesen in den Mittagsschlaf. Ich fantasiere improvisierte Szenen, Szenenanfange, moegliche Figuren, die ich noch nicht gespielt habe, dramatische Wendungen usw. Auch wenn ich spaeter nur wenig davon auf der Buehne umsetze, erweitert dieses Traeumen doch meinen Handlungsrahmen. So wird also nicht nur die Alltagsbeobachtung zur Inspirationsquelle, sondern auch das Driften.

Lebensvermeidung

Obama ueber den Zwang, bei politischen Wahlen nicht nur gewinnen zu muessen, sondern auch nicht verlieren zu duerfen:
“No matter how convincingly you attribute your loss to bad timing or bad luck or lack of money – it’s impossible not to feel at some level (…) that you don’t quite have what it takes, and that everywhere you go the word “loser” is flashing through peoples’ minds. They’re the sort of feelings that most people haven’t experienced since high school (…), the kind of feelings that most adults wisely organize their lives to avoid.”
Nicht nur als Politiker, sondern auch als Kuenstler sind wir einem Bewertungsdruck ausgesetzt. Ca. die Haelfte aller Impro-Anfaenger muessen eine gewisse Scheu des Sich-Blamierens ablegen. Aber es trifft eben nicht nur die Improspieler, sondern auch Kuenstler aus anderen Bereichen. Brando galt Anfang der 70er als Kassengift. Man kann das Publikum nicht ignorieren, denn diese sind ja die Rezipienten der Kunst, vor allem aber muss die Kunst einen Wert fuer den Kuenstler selber haben. Ich brauche als Kuenstler Ellenbogenfreiheit, um mich kuenstlerisch bewegen zu koennen. Natuerlich gibt es den Leser, den Zuschauer, das Publikum, das meine Kunst geniesst oder ablehnt, aber ich kann nicht jede meiner Bewegungen von den Amplituden der Konsumenten oder Kritiker abhaengig machen.

Weiterschmoekern

Und welches Buechlein darf’s den jetzt sein? Schiebe die 1001 Naechte weiter vor mir her. Aber will ich in die Grube fahren, ohne sie gelesen zu haben? Aber fuer meinen jetzigen Fokus: Wie sind Romane konzipiert?, Wie haelt der Autor den Suspense, wie werden Charaktere erschaffen usw., passt das nun ganz und gar nicht. Trotzdem schleppe ich den 2. Band mit mir durch die USA. Bei meiner ersten Reise hierher, das war im April/Mai 1997 hatte ich denselben Band dabei und bin dann ausgestiegen nach dem ewig langen Teil-Roman “Die Geschichte des Königs Omar ibn en-Numân und seiner Söhne Scharkân und Dau el-Makân und dessen, was ihnen widerfuhr an Merkwürdigkeiten und seltsamen Begebenheiten”.
Ich habe also mitgenommen:

  • Theodor Storm: “Erzaehlungen”. In jedem Urlaub macht sich eine Novelle vom Storm gut.
  • “Die Erzaehlungen aus Tausendundein Naechten Band 2”
  • Lonely Planet: “New York City. City Guide” Aus naheliegenden Gruenden.
  • Elizabeth Gilbert: “Eat, Pray, Love” (auf dem Flughafen Amsterdam gekauft)
  • Mick Napier: “Improvise. Scene From Inside Out”. Um etwas theoretisches Futter fuers Chicago Improfestival zu bekommen.
  • Harlan Coben: “Hold Tight”. Auf Verdacht gekauft. Wirkt auf den ersten Blick wie ein guter Thriller.
  • William Shakespeare: “Macbeth” deutsch. Reclam DDR-Ausgabe fuer 1,-M
  • William Shakespeare: “Macbeth” englisch. Reclam BRD-Ausgabe fuer 4,40 Euro = 8,80 DM = 35,- Ostmark.

Und schon am ersten Tag kann ich nicht an mich halten und laufe in den Border’s Buchladen, wo ich vor sechs Jahren all die inspirierenden Buecher ueber Impro gekauft habe, vor allem natuerlich Stephen’s “Free Play”, in das ich mich so verliebte, dass ich es uebersetzte.
Ich zahle 77,00 Dollar (inklusive einer Illinois-Steuer) fuer

  • John Wright: “Why is that so funny? A practical Exploration of Physical Comedy”
  • Barack Obama: The Audacity of Hope. Thoughts on Reclaiming the American Dream”
  • Firoozeh Dumas: “Laughing Without an Accent”
  • Andy Goldberg: “Improv Comedy”

Auf dem Flug hat es mir Elizabeth Gilbert angetan, auch wenn ich mich immer wieder ueber sie aergere. Soll man einer wohlhabenden Anfangdreissigerin beim Reisen und der Sinnsuche zuschauen? Sie braucht die Sinnsuche, als sie feststellt, dass sie nun doch nicht verheiratet sein will und keine Kinder moechte. Und so unkorrekt der Gedanke auch ist, so schiebt er sich immer wieder ein: Wenn du, liebe Elizabeth, Kinder haettest und fuer sie Verantwortung uebernehmen wuerdest, kaemst du gar nicht auf die Idee, nach Eat Pray Love zu fragen, diese Dinge haetten dann schon ihre Wirkung aus dem Tun heraus. Aber man liest natuerlich weiter. Dafuer ist es dann doch flockig und geschickt genug geschrieben. Immer wieder huebsche kleine Metaphern, ein bisschen Selbstironie, unprotzige Minidemonstrationen ihrer Intelligenz. Bis Seite 54 bin ich anstrengungslos gekommen. Der lockere Stil der Kolumnistin, der nie ermuedet, weil er nie zu grosse Boegen wagt, wahrscheinlich waere sie auf den Lesebuehnen perfekt.
Vielleicht aber kommt es einem auch nur zu abgeschmackt vor, wenn man gerade “Die Lebenden und die Toten” von Simonow hinter sich hat, in der SInzow auf der ersten Seite vomKriegsausbruch ueberrascht wird, versucht, sich nach Grodno durchzuschlagen, in deutsche Kessel geraet, in Gefangenschaft, dann ausbricht, um ihn sterben Kameraden, Vorgesetzte, Untergebene. Und die Parteibuerokratie haelt ihn fuer einen Verdaechtigen, weil er sein Parteibuch verloren hat. Gleich stuerzt er sich wieder in die Schlacht vor Moskau, das Blatt wendet sich, und das Buch endet damit, dass er, der Nichtraucher, sich nun eine Zigarette anzuendet, da er den Gedanken erst mal verdauen muesse, dass der ganze Krieg nun erst vor ihm laege.

Inseln des Könnens

Wie gehen wir mit Szenen, Spielen, Fähigkeiten um, die uns nicht liegen, die wir scheinbar nicht beherrschen? Man suche sich Inseln des Könnens. Angenommen ich glaube, nicht singen zu können, so kann ich wenigstens den Takt klatschen. Angenommen, ich kann kein sinnvolles Gedicht improvisieren, so kann ich wenigstens lautmalerisch Reimen. Das Spiel mit Form ist uns gegeben. Wir können uns von diesen kleinen Inseln des Könnens aus bewegen, Brücken bauen in andere Gebiete der Kreativität. Es kommt darauf an, mit der improvisierend-spielerischen Haltung ans Werk zu gehen, mit dem zu spielen, was uns gefällt, was uns seltsam erscheint, und sogar mit dem, was wir völlig bekloppt finden. Indem wir es nämlich in die Hand nehmen und es formen, wird es zu unserem Werk.

Angst, nicht ernstgenommen zu werden

Aus der immerwiederkehrenden Betonung des Professionalismus bei Schauspielern scheint die Angst zu sprechen, nicht ernstgenommen zu werden. Vielleicht erwarten sie instinktiv doch noch, dass jemand faules Obst werfen oder den Dilettanten hinter der Maske erkennen könnte. Dazu Jaecki Schwarz in der taz:
Frage: Anna Maria Mühe, die Tochter Ihrer damaligen Filmpartnerin Jenny Gröllmann, sagt, dass sie sich selbst noch nicht als Schauspielerin bezeichnen würde, weil sie noch am Beginn dieses Berufs stehe …
Antwort: Ich finde diese Einstellung bewundernswert, weil sie so selten ist. Wenn man die Schauspielschule verlässt, ist man noch kein Schauspieler, und deshalb sind Laien, die in Serien und Soaps auftreten, für mich auch keine Schauspieler. Der Beruf ist nicht geschützt – jeder, der einmal vor drei Menschen auf einem Nudelbrett gestanden oder in einem Film eine Wurze gespielt hat, kann sich Schauspieler nennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man in diesem Beruf nie ganz fertig ist, man lernt ein Leben lang. Und gerade das finde ich schön, weil es kein fest vorgegebenes Ende gibt.