522. -523. Nacht

522. Nacht

Nach langer und entbehrlicher Reise gelangt Dschanschâh wieder zum Scheich Nasr, der aber nichts vom Edelsteinschloss weiß und ihm rät, auf die in einigen Monaten wieder eintreffenden Vögel zu warten. Er bleibt also. Aber diese wissen ebenso wenig vom Edelsteinschloss.
Scheich Nasr befiehlt einem der Vögel, Dschanschâh zurück nach Kabul zu tragen. Nachdem dieser sich wegen des Windes die Ohren verschließt, fliegen sie los, aber der Vogel verliert nach einer Weile die Orientierung und er lässt ihn beim Schah Badri, dem König der Tiere, welcher, man kann es sich schon denken, ebenfalls nichts vom Edelsteinschloss weiß.

523. Nacht

Auch weitere Tiere wissen nichts vom Schloss. Und jedes Mal weint Dschanschah.

Der Tierkönig aber sprach zu ihm: “Sei unbesorgt, mein Sohn! Ich habe einen Bruder, der ist älter als ich. Er heißt König Schammâch. Einst war er gefangen bei dem Herren Salomo. Keiner von den Geistern ist älter als er und Scheich Nasr.

Wer nun geglaubt hat, dieser König wisse etwas vom Edelsteinschloss, hat sich gewaltig geschnitten. Allerdings kennt er einen Zaubermönch, der

“aus seiner Hand allerlei kunstvolle und seltene Erfindungen hervorgehen [lässt]. Ja, er ist ein Hexenmeister voll Lug und Trug, ein gefährlicher Kerl. Er heißt Jaghmûs; und er beherrscht alle Zauberformeln und Beschwörungen. Zu ihm muss ich dich auf dem Rücken eines großen Vogels mit vier Flügeln senden.”

521. Nacht (1001) und Die Top Ten meiner Pandemie-Lektüre

521. Nacht (1001) und Die Top Ten meiner Pandemie-Lektüre

In den letzten drei Jahren hat meine Lektüre arg nachgelassen. Als die Corona-Pandemie begann, glaubten ja viele, all die Gelockdownten würden nun mehr lesen, sich ihren Familien widmen, ein neues Instrument lernen usw. Aber, soweit ich es unter meinen Bekannten höre, war das nur bei sehr Wenigen der Fall. Es gab ein paar halbherzige Versuche, Schach zu lernen. (Die Serie Damen-Gambit kam gerade zur rechten Zeit.) Viele Paare trennten sich. Statt zu lesen, wurden Serien geglotzt.
Ich habe es in der Zeit auf sechzig beendete Bücher gebracht. (Und ungefähr genauso viele angefangene.)
Wenn ich in mein Zu-Lesen-Regal schaue, machen mir besonders jene Bücher ein schlechtes Gewissen, die mir Freunde geschenkt haben. Vielleicht ist es ja gerade dieser Verpflichtungs-Druck, der einen diese Bücher im Regal stehen lässt, dieses Gefühl, etwas abarbeiten zu müssen. Lediglich fünf der letzten einhundert durchgelesenen Bücher waren Geschenke. Manche Schenker tun mir geradezu leid – sie geben wieder und wieder Geld für gedrucktes Papier aus, in der Hoffnung, mir eine Freude zu machen. Hingegen nehme ich Lesetipps immer wieder mal auf.

Hier also die Top 10 meiner bisherigen Pandemie-Lektüre. (Einen Großteil davon habe ich hier bereits besprochen.)

10. Svenja Flasspöhler: “Sensibel”


Ein großartiges Buch, dass beide Seiten der Frage von Sensibilität und deren Grenzen beleuchtet.

 

9. Botho Strauß: “Besucher”

Hätten mich äußere Umstände nicht dazu gezwungen, wäre ich wohl kaum auf dieses Theaterstück gestoßen, das so überraschend und so witzig ist, dass ich bereue, nicht schon früher darauf gestoßen zu sein.

8. Albert Camus: “Die Pest”

Gleich zu Beginn der Pandemie wurde das Buch zum neuen Bestseller. Ich habe es erst 2021 wieder aus dem Schrank geholt, nachdem es mir doch schon empfohlen wurde, als ich erst vierzehn war. Die Parallelen waren oft frappant: Das Warten, die Langeweile, die Frustration der aufs Untätigsein Zurückgeworfenen. Die Erschöpfung und emotionale Anspannung der pausenlos arbeiten müssenden. Das Leugnen der Rebellen, die zögerliche Reaktion der Bürokratie, die undankbare Tätigkeit der Impfstoff-Entwickler. Was mir aber erst nach und nach klar wurde, ist, dass sich doch für Viele die Perspektive auf das Leben verändert hat. Sie ist, um es mal plakativ zu formulieren, „existenzialistischer“ geworden. „So zerstörte die Krankheit, die die Bevölkerung scheinbar zu einer Gemeinschaft von Belagerten gezwungen hatte, gleichzeitig die hergebrachten Verbindungen und überantwortete den einzelnen seiner Einsamkeit.”

7. “Tausendundein Nächte. Band 3”.

Es muss wohl sechs Jahre her sein, dass ich diesen Band begann und inmitten einer sich hinziehenden Erzählung abbrach (es fehlten nur 50 von über 800 Seiten).

6. Kathrin Passig: “Je Türenknall desto wiederkomm”


Eine der freundlichsten und unterhaltsamsten Kolumnen-Sammlungen, die ich je gelesen habe.

5. Isabel Allende: “Ein unvergänglicher Sommer”


Genau die richtige tröstliche Lektüre im Corona-Sommer 2020.

4. Jochen Schmidt: “Ich weiß noch, wie King Kong starb.”


Jochen Schmidt – immer eine Erholung für Geist, Geschmack und Humor.

3. James M. Cain: “The Postman Always Rings Twice”


Am liebsten würde ich solche Erzählungen andauernd lesen – schwungvoll geschrieben, mutig in der großen Behauptung, achtsam im Dialog und mit einer Handvoll sehr überraschender aber glaubwürdiger Wendungen.

2. Abigail Shrier: “Irreversible Damage. Teenage Girls and the Transgender Craze”

Mit großer Sensibilität und Genauigkeit zeichnet Shrier den Weg der Mädchen auf, die den psychischen, physischen und sozialen Herausforderungen der Pubertät nicht standhalten und nun glauben, dies sei ein Zeichen dafür, sie steckten im falschen Körper. (Der früher übliche Weg im Westen war bei solchen Mädchen oft die Anorexie.) Die Influencer, die Eltern, die Lehrerinnen, die Ärzte – alle ermutigen die Mädchen dazu, sich verstümmeln zu lassen und beklatschen jeden Schritt auf diesem Weg.

1. Ryan Holiday: “The Daily Stoic. 366 Meditations on Wisdom, Perseverance, and the Art of Living”


Genau das richtige Buch für die tägliche Meditation. Gut, dass ich es im September 2019 schon begonnen hatte.

0. (Lobende Erwähnung) Harry G. Frankfurt: “Bullshit”


Dem Bullshitter „ist der Wahrheitswert der Aussage egal. Deshalb kann man nicht sagen, [er] habe gelogen… Gerade in dieser fehlenden Verbindung zur Wahrheit, in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind, liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits.“

*

521. Nacht

Während es in Kabul bei der Belagerung bleibt, reist Dschanschâh weiter auf der Suche nach dem Edelsteinschloss Takni – über Indien, Chroasân, Mizrakân und zur “Stadt der Juden”. Er begibt sich wieder in die Anstellung des Betrügers, der ihn auf dem Edelsteinberg verhungern lassen wollte.

In der Geschichte vom Edelsteinberg, die ich aus der bereits erwähnten Amiga-Schallplatte kannte, nimmt der Held Mirali nun Rache, indem der Kaufmann selbst in die Tierhaut gewickelt und so von den Greifvögeln auf den Berg getragen wird.

Wieder geht es an den Fuß des Berges. Aber im Gegensatz zu bereits erwähntem Schallplatten-Mirali lässt sich Dschanschâh selbst wieder in die Pferdehaut einnähen und von den Greifvögeln auf den Berg tragen, offenbar in der Hoffnung, wieder den Weg zu seiner Geliebten zu finden. Als der Kaufmann ihm befiehlt, die Edelsteine hinabzuwerfen, antwortet Dschanschâh:

“Du bist es, der vor fünf Jahren so und so an mir gehandelt hat; da musste ich Hunger und Durst leiden, und viel Mühsal und großes Unheil kam über mich. Jetzt hast du mich zum zweiten Male hierhergebracht und denkst mich in den Tod zu treiben. Bei Allah, ich will dir nichts hinabwerfen.” Daraufhin ging er fort und machte sich auf den Weg, der ihn zu Scheich Nasr, dem König der Vögel bringen sollte.

Das ist allerdings eine äußerst milde Rache: Nicht erhaltene Edelsteine als Strafe für versuchten Mord.

520. Nacht

520. Nacht

Dschanschâh indessen beschließt, trotz des Krieges sich auf die Suche nach seiner Braut zu machen. Er bricht mit tausend Kriegern auf und verlässt sie während der nächtlichen Pause in der Hoffnung, Allah würde ihm den Weg weisen, wenn er allein ritte.
Sein Vater, als ihm berichtet wird, was sein Sohn getan hat,

geriet in eine gewaltige Erregung; fast sprühten Funken aus seinem Munde, er warf seine Krone von seinem Haupte und reif: Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah! Meinen Sohn habe ich verloren, und der Feind steht immer noch vor mir!”

König Tighmus zieht sich vor Trauer in die Stadt zurück, welche daraufhin von König Kafid sieben Jahre lang belagert wird.

 

517. – 518. Nacht

517. Nacht

Die Inder ziehen nun gegen den König von Kabul in den Krieg.

Dort begannen sie das Land auszuplündern, untern den Einwohnern zu wüten, die Alten zu morden und die Jungen in Gefangenschaft zu schleppen.

Die Heere der beiden Königreiche begegnen sich im Wadi Zahrân.

Obwohl dieses Tal in alten deutschen Erdkundebüchern erwähnt wird, konnte ich nicht herausfinden, wo das liegt.

König Tighmus von Kabul bietet König Kafîd von Indien einen Zweikampf an:

“Wenn du nun umkehren willst und weiterem Unheil zwischen dir und mir vorbeugst, so mag es damit ein Bewenden haben. Willst du aber nicht heimkehren, so tritt mir auf offenem Kampffelde entgegen und streit mit mir an der Stätte, da Schwerter und Lanzen sich regen.”

Selbst im grußlosen Kampfbrief ist man sich nicht für einen kleinen Reim zu schade.

Auf diesen Vorschlag geht Kafîd (ebenfalls in einem gereimten Brief) ein.

518. Nacht

Dennoch wird weiterhin – stellvertretend durch die Wesire –  Krieg geführt. Diese Schlacht gewinnt Tighmus von Kabul, woraufhin der indische König nun selbst in einer großen Schlacht seine Ritter befehligt.

519. Nacht

Nun fechten zwei Ritter, Barkîk für Indien und Ghadanfar für Kabul, einen Stellvertreterkampf.

Dass die beiden Könige direkt miteinander kämpfen, wahr wohl doch nicht so wörtlich gemeint.

Barkîk schlug mit dem Schwerte, und der Hieb traf Ghadanfars Helm, doch er fügte ihm keinen Schaden zu. Wie Ghadanfar das sah, ließ er die Keule auf den Gegner niedersausen, und da ward sein Leib zu Brei, flach auf dem Rücken des Elefanten. Alsbald sprengte ein anderer herbei und rief: ‘Wer bist du, dass du meinen Bruder zu töten wagst?’ Dann ergriff er seinen Wurfspeer und schleuderte ihn gegen Ghadanfar, und er traf seinen Schenkel mit solcher Kraft, dass er ihm den Panzer ans Fleisch nagelte. Wie Ghadanfar das merkte, zückte er das Schwert mit der Hand, traf den Feind und spaltete ihn in zwei Hälften, so dass sein Leib zu Boden sank und in seinem Blute lag.

Ausführlich wird auch die darauf hin einsetzende opferreiche Schlacht beschrieben. Kafîd, der sich seiner Sache nun doch nicht mehr so sicher ist, fordert in einem Brief Verstärkung durch seinen Verwandten, König Fakûn el-Kalb.

 

515.-516. Nacht

515. Nacht

König Tighmûs ist noch so von den Socken, dass er aus Dankbarkeit seiner Schwiegertochter Schamsa ein Schloss inmitten eines Blumengartens erbauen lässt. Die Wiederkunft des Prinzen Dschanschâh wird ausführlich und in aller Pracht gefeiert. Dieser aber lässt aus einem weißen Marmorblock eine Truhe bauen, in der er das Federkleid seiner Braut verbirgt

und ließ sie im Fundament versenken.

Dies ist ein seltsames Motiv, das sich auch in Grimms Märchen finden lässt: Das Halbwesen ist an seine Hülle gebunden und fühlt sich zu ihr hingezogen. Erst wenn sie völlig vernichtet ist, wird es zum Menschen.

 516. Nacht

Tatsächlich verspürt Schamsa beim Eintreten ins Schloss den Duft des Federkleids, wartet bis der Prinz eingeschlafen ist, begibt sich zur Truhe,

und nahm das Blei ab, mit dem sie verschlossen war.

Sie zieht das Federkleid an, steigt auf das Dach des Palastes, lässt den Prinzen holen und ruft ihm zu:

Du mein Lieb, mein Augentrost, meines Herzensfrucht, bei Allah, ich liebe dich über die Maßen, und ich bin so unendlich froh, dass ich dich in dein Heimatland zurückgebracht und deine Mutter und deinen Vater gesehen habe. Doch wenn du mich liebst, so wie ich dich liebe, so komm zu mir nach Takni dem Edelsteinschloss!” Und zur selbigen Stunde schwebte sie davon und flog zu den Ihren.

Dass junge Frauen, vor allem verwandelte, ihren Jungs einige Herausforderungen auferlegen, kennen wir. Aber das hier ist ja wohl unerhört. Vielleicht war es eine schlechte Idee, das duftende Federkleid nur zu vergraben?

Der König tröstet Dschanschâh und lässt Kaufleute befragen, ob sie Takni kennen. Da aber keiner Auskunft geben kann,

so befahl er, man solle seinem Sohne schöne Mädchen bringen, Sklavinnen, in deren Händen die Musikinstrumente erklangen, und Odalisken, die da sangen, derentgleichen nur bei Königen zu finden waren.

Wir ahnen schon, dass sich der Prinz davon nicht ablenken lässt. Denn Herzeleid ist großes Leid, und in den 1001 Nächten unstillbar.

Geduld schwand mir dahin, die Sehnsucht ist geblieben:
Mein Leib ist siech, von schwerer Liebespein gebannt.
Wann wird mich das Geschick mit Schamsa einst vereinen,
Wo mein Gebein zerfällt, von Trennungsschmerz verbrannt.

König Tighmus, so erfahren wir, ist verfeindet mit Kâfid, dem König von Indien. Dieser

hatte tausend Ritter, von denen jeder über tausend Stämme gebot, und jeder von diesen Stämmen vermochte viertausend Berittene zu stellen.

Das wären Vier Milliarden indische Reiter!
Der Höhepunkt der Anzahl von Armeeangehörigen weltweit war offensichtlich 1995 mit ca. 30 Millionen.

Na gut, wir bewegen uns ja immer noch im Reich der Fiktion und wollen es angesichts an- und abgelegter Federkleider und sprechender Schlangen mit historischer Präzision nicht übergenau nehmen.

Da der Kabuler König Tighmus einst viele Inder tötete, ist nun wohl ein guter Zeitpunkt, um Rache zu nehmen.

Abigail Shrier: “Irreversible Damage”

Abigail Shrier: “Irreversible Damage”

Ein adoleszentes Mädchen betritt eine psychotherapeutische Praxis. Sie ist dürr, die Muskeln kaum mehr wahrzunehmen. Sie eröffnet dem Therapeuten, dass sie in Wahrheit viel zu fett sei und sich dem Druck der Gesellschaft, sich „ausgewogen“ ernähren zu müssen, nicht mehr beugen wolle. Der Therapeut hört sich das alles an und antwortet: „Gut. Wenn das so ist, dann lassen Sie sich nichts von anderen einreden. Wahrscheinlich sind Ihre Eltern lediglich Bodyshamer. Ich gebe Ihnen hier ein paar Abführmittel, falls Sie mal welche brauchen.“ Ein solches Szenario wäre ziemlich abwegig, und der Therapeut würde gegen einen wichtigen Standard seiner Profession verstoßen, nämlich dass zwar die Erfahrungen eines Patienten ernst zu nehmen, aber nicht gleichzusetzen sind mit der Diagnose. Denn der Selbstbeschreibung muss die therapeutische Expertise entgegengesetzt werden.

Genau dieser Standard wird aber heute in den USA (und zunehmend auch in Europa) in den Wind geschossen, wenn es um die Selbstdiagnose Gender-Dysphorie geht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die pubertätstypischen Depressionen oder Angststörungen nicht als solche behandelt werden, sondern vielmehr als Symptom von Gender-Dysphorie behandelt werden, ist enorm gestiegen. Und das betrifft vor allem Mädchen. Bis zum Jahr 2012 gab es praktisch keine Literatur zu gender-dysphorischen Mädchen. Inzwischen hat sich die Zahl der sich als trans identifizierenden biologischen Mädchen in den USA innerhalb von zehn Jahren mehr als verzehnfacht.

Die Journalistin Abigail Shrier hat sich diesem Phänomen in ihrem Buch „Irreversible Damage“ gewidmet. Der Name des Buches legt es schon nahe: Es geht hier nicht nur um einen Hype, vielmehr geht es um die systematische physische Zerstörung weiblicher Körper durch diesen Hype. Und nein, transfeindlich ist Shrier ganz und gar nicht, auch wenn ihr das vor allem in den sozialen Medien, aber auch in einigen Zeitungen vorgeworfen wird. Dies kann nur behaupten, wer das Buch nicht wirklich gelesen hat. Kritiker, die sie als “Terf” bezeichnen, beziehen sich auch fast nie auf den Inhalt des Buches, sondern zielen bei ihren Angriffen fast immer auf die Person. Nach deren Definition muss transphob sein, wer Aspekte des politischen Trans-Aktivismus kritisiert.

Für die Mehrheit der Adoleszenten ist die Pubertät die Hölle, in der wir alle eine Transition erfahren – den Übergang des kindlichen zum erwachsenen Körper, der kindlichen zur erwachsenen Psyche und den Übergang der sich damit verändernden Erwartungen der sozialen Umwelt. Mädchen erleben diesen Übergang im Durchschnitt deutlich härter als Jungen: Er ist mit enormen Zumutungen verbunden – die einsetzende Periode, die Veränderung des körperlichen Erscheinungsbildes, verbunden mit permanenter Prüfung durch andere und sich selbst. Naheliegenderweise sind Depressionen bei adoleszenten Mädchen auch deutlich häufiger als bei Jungen.

Eine merkwürdige Kombination verschiedener sozialer Faktoren und Akteure haben dazu geführt, dass Mädchen, die mit diesem Übergang hadern, eine Tür geöffnet wurde: Könnte es nicht sein, dass du in Wirklichkeit gar nicht dafür gemacht bist, eine Frau zu werden, sondern dass du im Körper eines Jungen lebst? Oder, wenn das nicht zutrifft, dass du schlicht non-binär bist? Manche Therapeutinnen eröffnen ihre Gespräche mit depressiven Teenagern mit der suggestiven Leit-Frage: „Mit welchem Pronomen soll ich dich anreden?“ Alles Weitere läuft nach dem eingangs beschriebenen Muster der „affirmativen“ Therapie.

Shrier: „Ich glaube, es gibt Fälle, in denen geschlechtsdysphorischen Menschen durch Geschlechtsumwandlungen geholfen wurde. (!) Aber die neue positive Fürsorge (…) geht über Sympathie hinaus und geht direkt zu der Forderung über, dass Psychotherapeuten den Glauben ihrer Patienten übernehmen, diese seien im falschen Körper.“ Sie zitiert eine ehemalige Transperson namens Benji: „Ich möchte diese Leute fragen, unter welchen Umständen ihrer Meinung nach eine Lesbe zu einem Gendertherapeuten gehen und sagen kann: ‚Nein, du bist nicht trans, du bist eine Lesbe.‘ (…) Wie ist es möglich, dass jede einzelne Person, die wegen des Verdachts auf eine bestimmte Krankheit durch die Tür kommt, definitiv diese Krankheit hat?“

Die Initialisierung läuft aber nicht durch die Therapeuten, sondern erstens durch Peers und zweitens durch Youtube- und Instagram-Influencer. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen sich plötzlich als Trans identifiziert, ist deutlich höher, wenn sie in ihrem unmittelbaren Umfeld Peers hat, die sich ebenfalls als Trans identifizieren. In Internetforen und sozialen Medien finden sie die Bestätigung, auf Youtube die Vorbilder und Anleitungen. Die Influencer machen es vor: Jeder Schritt der Transition wird gefeiert. In der Selbstdarstellung finden sich auch Momente des Suchens und Momente der Traurigkeit, aber so gut wie nie Zweifel am Weg. Sobald ein Mädchen glaubt, es könnte trans sein, dann ist das auch der Fall. Es gibt Anleitungen, wie man sich die Brüste abbinden soll. (Dagegen erscheinen die Korsetts des 19. Jahrhunderts geradezu harmlos.)

Pubertätsblocker, die die Hirnentwicklung beeinflussen und Testosteron, dessen gesundheitliche Risiken auf den weiblichen Körper gravierend sind, werden als Allheilmittel angepriesen. Es gibt Anleitungen, wie man seine Eltern und die Ärzte belügt. Damit fällt übrigens auch das Argument der Aktivisten in sich zusammen, sich als trans identifizierende Mädchen habe es immer in hoher Zahl gegeben, sie seien nun einfach „sichtbar“ geworden.
Die Schulen nehmen sich in vielen Bundesstaaten das Recht heraus, die betroffenen Jugendlichen in jedem Fall zu bestätigen und Eltern nicht darüber zu informieren. Lernschwierigkeiten, Depressionen, soziale Ängste – für all das wird zwar nicht in jedem Fall „Trans“ diagnostiziert, aber es ist ein willkommener Shortcut.

Sobald das Wort einmal ausgesprochen ist, gibt es kein Zurück. Die Mädchen, die soeben noch soziale Ängste und womöglich Zurückweisung erlebt haben, werden nun gefeiert und bestätigt. Jeder Schritt wird bejubelt, ist aber nur eine Vorstufe für den nächsten Schritt – die modischen Entscheidungen und der neue Name sind das Eintrittsticket. Es folgen das Brustabbinden, die Hormonbehandlung, Masektomie und Hysterektomie. Wer aber umkehrt wird bedauert oder gar, wenn man sich ganz vom Transsein abwendet („detransition“), kann man rasch als Verräterin gebrandmarkt werden, die das alles nur vorgetäuscht hat. Die Influencer ermutigen nicht nur, die Eltern zu belügen, sie erklären auch jede Person, die nur den leisesten Zweifel äußert, als transphob.

Shrier bemerkt einen antifeministischen und anti-weiblichen Grundton in der Debatte: So werden klassische Heldinnen der Geschichte, der Literatur usw. als „nicht ganz weiblich“, sondern eben trans beschrieben. „In diesem perversen Schema gilt per Definition: Je erstaunlicher eine Frau ist, desto weniger zählt sie als Frau.“ Auf dieselbe Weise werden Mädchen, die sich für Mathe, Logik und Sport interessieren als „gender-nonkonform“ bezeichnet. Sie werden nebenbei ihrer Weiblichkeit beraubt. Die Errungenschaften der Frauenbewegungen werden in den Grundschulen aus dem Fenster geworfen, die Stereotype (Mathe für Jungs, Puppen für Mädchen) reproduziert. In den Highschools schließlich wird nun zementiert, dass, wer nicht in die stereotypen Klischees von Mann und Frau passt, offenbar queer sein muss. Da „Frau“ nicht mehr als biologische Kategorie gilt, wird das Ganze beliebig, und Transaktivisten greifen auf Stereotype zurück, die teils archaisch oder beleidigend sind.

Die Eltern werden in die Entscheidungen der Kinder, der Lehrer, der Psychologen und Psychiater kaum eingebunden. Alles, was sie beizutragen haben, was die Selbstdiagnose des Kindes relativiert (zum Beispiel Berichte über psychische Erkrankungen, fehlende Anzeichen aus dem Kleinkindalter, psychische Probleme der Adoleszenten) wird ignoriert. Stattdessen die Drohung: Wenn Sie nicht mitspielen, sind Sie schuld am Suizid Ihres Kindes. Shrier entlastet aber auch die Eltern nicht völlig. Es gibt eine Tendenz, jede Traurigkeit, jede emotionale Belastung eines Kindes zu pathologisieren und eine Diagnose zu fordern. Mädchen wird auf diese Weise nahegelegt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt.

Eine Gruppe, die in dieser Gemengelage ebenfalls verliert, ist die Gruppe der Lesben: Lesbische Vertreterinnen kämpfen gegen die Vorstellung, dass männliche Kleidung oder Haartracht sie zum Mann macht oder ihr Frau-Sein schmälern würde. Im Vergleich zu Trans sind Lesben in Highschools im Tiefstatuts. „Lesbisch“ gilt nunmehr als Porn-Kategorie. Die Trans-Rechte schlagen inzwischen die Rechte der Mädchen. So werden die Proteste junger weiblicher Athletinnen niedergehalten. Selbst Martina Navratilova wurde angegriffen und verlor ihren Sponsor, weil sie sagte, die neuen Regelungen seien unfair gegenüber Frauen. Shrier: „Wenn Martina Navratilova, die vielleicht prominenteste homosexuelle Sportlerin der Welt, als Anti-LGBT-Fanatikerin gebrandmarkt werden konnte, weil sie sich für Mädchen eingesetzt hat, wie könnten unbekannte Sportlerinnen sich gegen diese Dinge auflehnen?“

Schließlich beschreibt Shrier das Umwandlungsbusiness. 2007 gab es eine Gender-Klinik in den USA. Im Jahr 2020 fünfzig. Das zustimmungsfähige Alter liegt in Oregon bei 15. Den meisten Mädchen ist nicht klar, dass die Auswirkungen der Einnahme von Geschlechtshormonen nicht rückgängig zu machen sind. Sie führen unweigerlich in die Unfruchtbarkeit und die Unfähigkeit, jemals einen Orgasmus zu erleben. „Kein plastischer Chirurg könnte seinen Kollegen vorschlagen, jemandes Nase zu substituieren, wenn der dabei die Fähigkeit zu riechen verlöre. Aber die Fähigkeit des Stillens wird ohne medizinische Notwendigkeit über Bord geworfen. (…) Die meisten hormonverschreibenden Ärzte bieten diesen verzweifelten Patientinnen keine Bremsen und keinen Realitätscheck.“

Personen, die schon länger trans sind, beschreiben den Hype ebenfalls als gefährlich. Buck Angel: „Es gibt für Transkids keinen echten psychischen Gesundheitscheck. Sie werden zu 100% von Youtubern beeinflusst.“ Teenager sind per definitionem auf der Suche nach der eigenen Identität. Und jetzt werden Mädchen, die gern Jungsklamotten tragen, ins Transsein gedrängt. Shrier: „Sie alle [Eltern und Mädchen] sollten Feministinnen einer früheren Ära zuhören und aufhören, Sexklischees ernst zu nehmen. Eine junge Frau kann Astronautin oder Krankenschwester sein, ein Mädchen kann mit Lastwagen oder Puppen spielen. Und sie fühlt sich vielleicht zu Männern oder anderen Frauen hingezogen. Nichts davon macht sie weniger zu einem Mädchen oder weniger geeignet für die Weiblichkeit.“

Alfons Zitterbacke 2: Endlich Klassenfahrt

Alfons Zitterbacke 2: Endlich Klassenfahrt

Die Neuverfilmung von „Alfons Zitterbacke“ war offenbar so erfolgreich, dass sich ein Sequel lohnte. Zitterbacke ist inzwischen Teenager, und daher nicht nur ein Pechvogel, sondern in einem Alter, in dem einem ohnehin fast alles peinlich ist. Die Prämissen für eine Komödie sind ideal: Erstens geht es auf Klassenfahrt, zweitens gibt es eine Neue in der Klasse, in die sich Zitterbacke auch sofort verliebt, und drittens hat er seinen Reisekoffer mit dem seiner Mutter verwechselt. Weitere Zutaten: Der nerdige Freund (natürlich mit cartoonhaft runder Brille und Wuschellocken, als ginge er zum Fasching als Einstein), der fiese Bully, der strenge Klassenlehrer.

Aber weder kommt die Story ins Laufen noch können die Gags der Komödie an irgendeiner Stelle überraschen oder kitzeln. Die Klasse fährt zunächst an die Ostsee. Aber rasch stellt sich heraus, dass das nur ein Vorwand war, um Anna Thalbach mal ein bisschen Platt reden zu lassen, was weder die Charaktere noch die nicht-plattdeutschen Zuschauer verstehen. Für eine kurze Einstellung sieht man mal den ohne die Darsteller gefilmten Ostsee-Strand, und da müssen die Kinder auch schon wieder aus einem fadenscheinigen Grund abreisen. Diesmal in eine Villa in den Harz – mit Gojko Mitic als Herbergsvater.
Zwischendurch fällt Zitterbacke mal hin (was jedes Mal schon eine halbe Minute vorher visuell angekündigt wird) oder er setzt sich mit der Schlafanzughose in die Schokolade. Die Filmemacher könnten Zitterbacke nun zeigen, wie er den ganzen Tag versucht, sein Missgeschick zu verbergen. Stattdessen wird sofort plattmöglichst aufgelöst: „Hast du dir eingekackt?“ Die Schauspieler geben ihr Bestes, aber gegen das Drehbuch können sie auch nichts rausholen. Haben die Drehbuchautoren Schlichter und Chambers noch nie eine Romantische Komödie gesehen? Nachdem es ein böses Missverständnis mit seiner Freundin in spe gab, schreibt Zitterbacke eine Entschuldigungs-SMS. Er will sie löschen, schickt sie dann aber aus Versehen doch. Sie verzeiht ihm, und schon ist alles gut. Echt jetzt? Komödie muss die Probleme schlimmer machen, statt sie gleich zu lösen. Zitterbacke leidet immer wieder mal – für fünf Sekunden. Da hat eine GZSZ-Folge wohl mehr komödiantisches Geschick.

Ein Ukulele übender Gerhard Schöne wird unmotiviert drei Sekunden lang eingeblendet, wahrscheinlich weil man mal Gerhard Schöne einblenden wollte oder weil noch 400 Euro im Budget übrig waren.

Übrigens tauchte auch in diesem Film wieder ein böser Immobilienspekulant auf, der die schöne Künstlervilla abreißen und stattdessen ein Hotel bauen will. Er spielt zwar für die Entwicklung der Geschichte keine Rolle, aber offensichtlich braucht ein deutscher Kinderfilm seit 10 Jahren diese Figur, weil es sonst keine Filmförderung gibt. Die einzige Szene, in der er dann auftaucht, besteht darin, dass er auf einem Dixi-Klo sitzt und Zitterbacke im Auto aus Versehen den Rückwärtsgang einlegt. Was wird wohl passieren? Ja, genau das. Lustig, was?

Bernhard Schlink – Die Enkelin

Bernhard Schlink – Die Enkelin

Nach einem Drittel der Lektüre hatte ich das Buch schon einigen Freunden empfohlen. Nicht nur ist die Grundidee großartig, sondern sie ist auch wunderbar umgesetzt. Der ältere Buchhändler findet eines Abends seine Frau tot in der Badewanne. Und beim Studium ihrer Notizen erfährt er, dass sie, bevor sie dank seiner Hilfe in den Westen geflohen war, ein Kind im Osten gelassen hatte. Der verzweifelte und gleichzeitig abgehärtete Ton der Frau ist so wunderbar getroffen, dass er einen Blick auf eine DDR-Story freigibt, die noch nicht erzählt wurde.
Der alte Mann macht sich auf die Suche und landet, soviel weiß man schon aus den Vorankündigungen und dem Klappentext in der ostdeutschen Provinz, wo es von Nazis nur so wimmelt. Ich hätte Schlink die Blut-und-Boden-Deutschen als Setting durchaus abgekauft. Aber das Unheil beginnt, sobald sie den Mund aufmachen. Vor allem Sigrun, die vierzehnjährige, angeblich intelligente Titelheldin, sondert nur Plattitüden ab: “Die Holländer, die Pfeffersäcke, haben uns unsere Kolonien nicht gegönnt. Sie haben uns belogen und betrogen.” Ihr Lieblingsbuch soll “Ein Mädchen erlebt den Führer” sein, und sie bewundert Irma Grese. Soll man das alles wirklich glauben? Eine Vierzehnjährige, die nicht nur einem 40er-Jahre-Nazismus huldigt, sondern diesen gegenüber einem Fremden freimütig offenbart, als wüsste sie nicht wenigstens durch ihre Eltern, dass das tabuisiert ist? Seitenweise kommt sie einem vor wie eine Sechsjährige oder eben: ausgedacht.
Ja, es gibt im Osten (und nicht nur da) die “Volksdeutschen”, aber der Rechtsradikalismus äußert sich heute anders. Anders als in den 90ern, anders als in der 70ern. Und ganz gewiss anders als in den 40ern. Wer in den letzten Jahren ein offenes Ohr hatte, weiß, dass der Ton sich deutlich geändert hat. Es dominieren Verschwörungstheorien. Alte Rituale werden mit neuer Technikskepsis vermischt.


Es scheint, als seien nicht nur die Nazis sondern auch die Technik in Schlinks Welt in den frühen 90ern stehengeblieben. Das Internet kommt so gut wie gar nicht vor. Ebensowenig Smartphones. Dass sich eine Vierzehnjährige, deren Hauptcharakterzug offenbar Neugierde ist, von ihren Eltern dermaßen vorschreiben lässt, in welcher altertümlichen Welt sie zu leben hat, ist schlechthin nicht vorstellbar.
Gegen Ende gelingt Schlink immerhin noch mal eine tröstliche Wende. Vielleicht hätte ich den Mittelteil einfach überspringen sollen.

Svenja Flaßpöhler: “Sensibilität”

Svenja Flaßpöhler: “Sensibilität”

Eigentlich weiß ich nicht mehr genau, was mich bewog, Svenja Flasspöhlers Buch “Sensibel” zu kaufen. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass ich jetzt einfach mal eines ihrer Werke lesen musste, statt nur über sie zu lesen oder sie in Interviews zu hören.
Nachdem ich es bestellt hatte, sah ich schon, dass ihrem Werk ein gehöriger Wind entgegenblies. Ich erwartete eine Streitschrift. Stattdessen bekam ich eine kleine feine philosophische Analyse der Sensibilitäts-Debatten der heutigen Zeit.
Flasspöhler ordnet nicht nur den Begriff historisch ein, sondern zeigt auch, dass die Auseinandersetzung um “Sensibilität” gar nicht so neu ist. Sie zeigt sich nur im neuen Gewand. Wenn es um dieses Thema geht, kochen in der öffentlichen Debatte rasch die Emotionen hoch. Selbst kluge Leute scheuen dann nicht zurück vor Unterstellungen, persönlichen Angriffen, werden laut usw., was oft ein Zeichen für vollkommenes Unverständnis der anderen Seite ist. Mit anderen Worten: Die Analyse kommt zur rechten Zeit.
Wir haben es, kurz gesagt, mit zwei Seiten der erhöhten Sensibilität zu tun: Der aktiven und der passiven Seite, das heißt, wir sind empfindlicher für Zumutungen geworden, aber auch sensibler für das, was man anderen zumuten kann.
Flasspöhler zeigt im historischen Rückblick auf Hume, Rousseau und de Sade, dass Mitgefühl nicht genügt:

„Die reine Empfindung [ist] noch keine Moral… Nichts kann uns von der Notwendigkeit des Urteils und der damit einhergehenden Distanzierung entbinden.“

Verletzungen haben nun zwei Seiten: Sie können eine Person dauerhaft schädigen (“Trauma”) oder sie können sie stärken. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, ist von der Intensität der Einwirkung, aber auch von der Persönlichkeitsstruktur, gelernten Coping-Mechanismen und der Art und Weise des Umgangs abhängig.

Flasspöhler erwähnt es nur en passant, aber es ist schon ein Unterschied, ob man z.B. meditatives Training, Psychoanalyse oder preußische Härte im Umgang mit Verletzungen einsetzt.

Ein gesellschaftliches Problem entsteht dann, wenn selbst die kleinste Irritation als Trauma bezeichnet wird – ein irritierendes Kunstwerk, der Sprachcode einer anderen sozialen Gruppe usw. und wenn dann die Folgerung besteht, die Gesellschaft müsste jede noch so kleine Irritation, die jedes Individuum empfinden könnte, verhüten. Dies führt zu einer endlosen Spirale des Unsagbaren (und ich würde sogar sagen zu einem magischen Verständnis von Sprache). Dann sind selbst zitierende Verwendungen von Schimpfwörtern tabu, dann werden jedem größeren Werk der Weltliteratur “Triggerwarnungen” vorangestellt, so als wüsste niemand, der einen Krimi aufschlägt, dass es hier um Verbrechen geht, dann wird letztlich jede Kontroverse (auch wissenschaftlicher und politischer Natur) unter Vorbehalt gestellt.
Andererseits stellt Flasspöhler klar, dass Hassrede durchaus in handfeste Gewalt umschlagen kann, wie die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Jahre gezeigt haben.
Aber wo liegt die Grenze?
Welche Kraft hat also die Sprache und wie sensibel ist sie zu gebrauchen?

Man sieht schon: Jetzt kommt das "schlimme Thema" in Hochgeschwindigkeit auf uns zugerast, das Thema, zu dem jeder eine Meinung hat, und zwar eine klare. Und die andere Seite, das sind die Bösen.

Überraschenderweise argumentiert Flasspöhler nun nicht gegen Judith Butler, sondern nimmt sie für sich in Anspruch: Sprache kann nicht fixiert werden, sie ist performativ (so wie sich auch Geschlechter sozial performativ und fluid konstituieren). So wie in den 1970er und 80er Jahren eine performative Umdeutung des einst abwertenden Begriffs “schwul” gelang, könnte dies auch mit anderen Begriffen gelingen.

Man denke etwa an die "Slutwalks", bei denen gegen Vergewaltigungs-Kultur demonstriert wird, aber gleichzeitig auch wie nebenbei das Wort "slut" (Schlampe) performativ umgedeutet wird.

Butler beschreibt den Drag, die Travestie als Spiel, um den performativen Aspekt von „Geschlecht“ zu entlarven. Davon ausgehend fragt sich Flasspöhler, ob das generische Maskulinum nicht seine Freiheit daraus bezieht, dass es von geschlechtlichen Identifikationen absieht.

„Nicht das Geschlecht, sondern das Tun wäre der Kern der Bezeichnung. Unbestritten gehört es zu den Errungenschaften der Emanzipation, dass man Menschen nicht auf ihr Geschlecht reduziert, sondern für das anerkennt, was sie können und machen… Böte das generische Maskulinum dann nicht ein erstaunliches emanzipatorisches Potential – und zwar gerade durch seine umfassende Bezeichnungskraft, die nicht nur einzelne Gruppen meint, sondern alle?“

Im Weiteren fragt sich Flasspöhler, wie weit es Grenzen der Einfühlung gibt. (Man denke an die Forderungen, dass Schwarze Dichterinnen nur von Schwarzen Übersetzerinnen übersetzt werden sollten, dass Homosexuelle nur von homosexuellen Schauspielern dargestellt werden dürften usw. Die Begründung dafür lautet, dass jemand, der nicht dieselben Diskriminierungen erfahren habe, nicht wirklich nachvollziehen könne, was es wirklich bedeutet, in dieser Situation zu sein. Diese Position, die sich an nicht nur an Einzelbeispielen (wie Amanda Gormann) festmacht, sondern in Hollywood allmählich zur Hauspolitik wird, ist natürlich radikal (und wird auch letztlich nicht jenseits einiger symbolischer Akte durchzusetzen sein. Flasspöhler lässt hier den Juristen und Autor Bernhard Schlink zu Wort kommen:

„Das Schreiben über Menschen aus anderen Welten misslingt leicht. Aber es kann auch gelingen, es braucht dazu Wissen und Einfühlung. Warum es ein Verbot geben soll, kann ich nicht verstehen.“

Die konsequente Umsetzung hieße ja, die einzige legitime Literaturform wäre das Tagebuch. Und im Film könnte man nur noch sich selbst spielen. Ja, letztlich nicht einmal das. Denn wer garantiert, dass du dich in dein früheres Ich auch wirklich hineinversetzen kannst?

Wie aber soll die Sensibilität sich angemessen im Miteinander ausdrücken? Wir versuchen zwar, die Ambivalenzen zu überwinden, etwa indem strafrechtlich festgelegt wird, dass im sexuellen Verhalten ein “Nein” auch wirklich ein Nein bedeutet. Damit wird aber lediglich das Problem verschoben. Denn es gibt ja verschiedene Neins – das kategorische Nein, das flirtende Nein, das Nein, das sich vielleicht in ein Ja ändern könnte, das Nein, das sich auf die Tageszeit, nicht aber auf die prinzipielle Beziehung bezieht usw, usf.

Hier könnte die Rechtsprechung noch interessante Überraschungen parat halten.

Flasspöhler diagnostiziert:

„Worum es im Kern geht, ist die Eliminierung verunsichernder Ambivalenz.“

Mit Helmuth Plessner fordert Flasspöhler

“Takt – das Erfassen von Nähe- und Distanzbedürfnissen”.

Wobei man auch hier die Frage stellen kann, wie das gelingen kann, wenn es schon allein in Deutschland Dutzende Formen der Begrüßung gibt: Handschlag, Küsschen auf die Wange, Faustschlag, kurzes Winken, Küsschen auf den Mund, verbale Unterformen, feste Umarmung, lockere Umarmung usw. usf.

Abschließend Flasspöhler:

“Wann muss die Gesellschaft sich ändern, weil ihre Strukturen schlicht ungerecht sind – und wann muss das Individuum an sich arbeiten, weil es die Chancen, die es doch eigentlich hätte, nicht nutzt. Brauchen wir gesetzlich verankerte Frauenquoten oder geht es eher darum, Frauen zu ermutigen und zu ermächtigen, ihre Wünsche zu verwirklichen, und zwar auch gegen Druck und Widerstände?“
„Nicht jede Ungleichheit ist ungerecht und privilegienbehaftet. Es gibt Ungleichheiten, die aus eigener Anstrengung – respektive deren Unterlassung – resultieren.“

Ferienlager-Käufe – 511. – 514. Nacht

Ferienlager-Käufe – 511. – 514. Nacht

Was wir von den 10 Mark im Ferienlager kauften

Als Kind hatte man im DDR-Ferienlager 10 Mark dabeizuhaben. Nicht mehr, nicht weniger. Das galt von 7 bis 13 Jahre. Manchmal hatte sich einer noch heimlich 5 Mark vom Gesparten mitgenommen oder die Oma hatte noch einen Zehner draufgelegt. Aber diese Kinder gehörten zu den Exoten und pflegten ihr Extrageld rasch zu verlieren oder auszugeben.
Die Frage war natürlich: Was sollte man sich kaufen? Manche gaben schon am ersten Tag am Kiosk fast all ihr Geld aus. Der Ruhm des Vielbesitzenden umwehte sie für nicht mal eine halbe Woche, dann gehörten sie zur Bettler-Kaste. Ich war einer von denen, die den Ehrgeiz hatten, nach zwei Wochen mit möglichst viel Geld wieder nach Hause zu fahren. Aber bald fand ich heraus, dass Ferienlager ohne jeglichen Hedonismus im Grunde nichts wert war.
Hier die Top Ten der Dinge, die ich im Ferienlager kaufte.

10. Zahnputzbecher

Wenn man den Zahnputzbecher vergessen hatte, bemerkte man das schon am ersten Abend, und beim nächsten Frühstück gab es eine lange Schlange der Bummelbecherkinder. Dass man sich den Mund auch einfach ohne Zahnputzbecher ausspülen könnte, war für mich damals eine Idee aus dem Bereich der Fantasy.

9. Zahnpasta

Eng mit dem Zahnputzbecher verwandt war die Zahnpasta. Aber man kaufte Zahnpasta nicht etwa, weil man sie vergessen hatte, sondern weil irgendjemand Zahnpasta dabei hatte, die hundert Mal besser war als die eigene, was in meinem Falle immer Silca war. Wäre nicht das Ferienlager gewesen, hätte ich nie von Ajona erfahren, von der man nur eine linsengroße Menge benötigte. Oder von Rot-Weiß, der Zahnpasta, die extra damit warb, nicht zu schäumen. Oder Chlorodont, die eigentlich ziemlich furchtbar schmeckte, aber dermaßen billig war, dass es völlig irre erschien, sie nicht zu kaufen. Die Freude meiner Eltern über die angefangene Tube hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen.

8. Creck

Meiner Sparneigung kam außerdem die ebenfalls im Ferienlager entdeckte Creck, einer Schokoladen-Ersatztafel, die aus einer Mischung Hartfett, Zucker und gemahlenem Knäckebrot bestand. Der Kakao-Anteil lag bei zirka 3 Prozent. Entsprechend schmeckte sie auch. Es half, wenn man möglichst viel davon auf einmal aß, das Ganze möglichst schnell verdrückte und sich dabei über die Sammelbilder freute, die es – hallo Sparfuchs! – gratis auf der Innenseite der Packung gab. Jedes Mal im Sommer begann ich, Creckbilder zu sammeln. Nach zwei Bildern hörte ich immer auf, der Ekel war doch zu groß.

7. Taschenlampe

Wer ins Ferienlager fuhr, brauchte natürlich eine Taschenlampe. Diese dem Kind mitzugeben, wurde den Eltern eingeschärft. Wie sonst hätte man nachts den Weg zum Klo finden sollen? Oder den Weg zum Mädchen-Bungalow? Wie sonst hätte man nachts noch lesen können? Oder Schattenspiele an der Bungalow-Decke veranstalten? Wie sonst hätte man bei der Nachtwanderung den Weg zur alten Bunkerruine finden können? Wie sonst hätte man Monster spielen können, wenn man sich nicht die Lampe in den Mund gesteckt hätte? Nun war es aber so, dass manche eine Stabtaschenlampe besaßen, mit der man ungelogen bei der Nachtwanderung bis zum Mond hochleuchten konnte. Mit anderen Worten: Über 300.000 Kilometer weit. Meine leuchtete nicht einmal über vier Meter. Das Problem war natürlich, dass man so ein Riesenteil nicht in die Hosentasche stecken konnte. Außerdem waren eigentlich Signaltaschenlampen, bei denen man die Farben verstellen konnte, deutlich cooler. Nur dass wir damals nicht „cool“ sagten, sondern „lässig“, was im Grunde dasselbe bedeutete.

6. Batterien

Die Taschenlampen-Manie führte schließlich dazu, dass man andauernd Batterie-Nachschub benötigte. Besonders beliebt waren die Flachbatterien, an deren Kontakten man lutschen konnte, um zu prüfen, ob sie noch gut waren. Manche behaupteten sogar, von ihren größeren Brüdern gelernt zu haben, dass man auf diese Weise die eigene Energiezufuhr erhöhen könnte. Ich konnte das nicht prüfen, ich hatte ja keinen großen Bruder. Ich war selber einer.

5. Cola

Dass es in der DDR überall immer nur dieselben Dinge zu kaufen gab, ist ein Märchen. Das mussten wir auf die harte Tour erfahren, wenn wir außerhalb Berlins Cola kauften. Während die Berliner Club-Cola ganz passabel schmeckte waren die Provinzsorten, die auch immer in braunen Flaschen verkauft wurden, eine Zumutung. Hier also innerhalb meiner Top Ten eine Unterliste der Bottom 25 der DDR Colas
• Asco-Cola (u. a. VEB Brauhaus Saalfeld; VEB Getränke Zerbst)
• Bongo-Cola (Jos.Gastrich, Bernburg)
• Cherry-Cola (u. a. VEB Margon Dresden; VEB Getränkekombinat Neubrandenburg; VEB Fruchtlimonaden Cainsdorf)
• Chico (VEB Getränkekombinat Karl-Marx-Stadt)
• Co-Bra (VEB Vereinigte Getränkebetriebe Cottbus)
• Cola-Hit, koffeinfreie Cola (u. a. VEB Stadtbrauerei Forst)
• Colette Cola, (u. a. VEB Harzer Brunnen Wernigerode; VEB Brau- und Malz-Union Hadmersleben; VEB Getränkekombinat Schwerin)
• Diabeli Cola, Kola-Getränk für Diabetiker, (VEB Getränkekombinat Neubrandenburg)
• Disco-Cola, (u. a. VEB Brau- und Malz-Union Hadmersleben)


• Efro Kristall (u. a. VEB (K) Rosenbrauerei Pößneck; Kastner KG Berlin-Köpenick)
• Gold-Cola, (u. a. VEB Brauhaus Halle; VEB Rose-Brauerei Grabow; VEB Berliner Brauereien; VEB Getränkekombinat Leipzig)
• Inter-Cola (u. a. VEB Getränkekombinat Hanseat Greifswald; Brauerei H.Schönfeld Potsdam)
• Margon Cola (VEB Margon Burkhardswalde)
• Marika (Fasscola)
• Markola (Stadtbrauerei Markneukirchen)
• Pola Cola (Konrad Pohlmann, Mineralwasserfabrik Coswig-Anh.)
• Prick-Cola (u. a. VEB Altenburger Brauerei)
• Quick-Cola (u. a. Brauerei Ernst Bauer Leipzig; VEB Ostthüringer Brauereien Pössneck; Johannes Köhler KG Eilenburg)
• Quiss Cola (Johannes Köhler KG Eilenburg)
• Sport-Cola
• Stern-Cola (VEB Getränkebetrieb Stadtroda, VEB Brauerei Neunspringe Worbis)
• Vita Cola (u. a. VEB Turmbräu Leipzig; Konsum-Brauerei Weimar-Ehringsdorf; VEB Greifswalder Brauerei; EB Klosterbrauerei Bad Salzungen; VEB Berliner Brauereien)
• Trako Kristall, (Brauhaus Markranstadt)
• Tropen-Cola (u. a. VEB Vereinsbrauerei Greiz; VEB Brauerei Colditz, Brauerei F. A. Ulrich Leipzig)
• Win-Cola (Bergquell-Brauerei KG Löbau)

4. Skatkarten

Absolut unverzichtbar waren Skatkarten. Man brauchte sie für den All Time Favorite Mau-Mau, für Schummellieschen, für den Verarschungs-Gag 32-Heb-auf, den man mit den Neuen machen konnte, in den späteren Jahren für Skat, für Kartentricks, Krieg/Frieden, wenn man mit jemandem spielte, der sonst nichts konnte. Da man immer ein Skat-Kartenspiel dabei hatte, hätte man sich auch kein neues kaufen müssen, wäre da nicht Knipper gewesen, auch Fingerkloppe oder Folter-Mau-Mau genannt, an dessen Ende man dem Verlierer mit dem Kartenstapel auf die Fingerknöchel schlagen durfte, bzw. wenn die verschärfte Variante „mit Treppe“ gespielt wurde, wurde dem Verlierer mit dem angeschrägten Kartenstapel die Haut von den Knöcheln regelrecht heruntergefräst. Knipperspieler erkannte man folglich an den Pflastern, die sie während der Ferienlagerzeit auf den Händen trugen. Da aber bei diesem Spiel auch die Karten in Mitleidenschaft gezogen wurden – entweder weil sie während der Folter geknickt waren oder durch die Blutschlieren unbrauchbar gemacht worden waren, musste nachgekauft werden. Notfalls legten die Folterer zusammen.

3. Richtige Schokolade

Wenn der Ekel vor der Creck-Tafel überhandnahm, blieb einem nichts anderes übrig, als das schöne Geld für richtige Schokolade auszugeben. Schokolade, die teuer war. Schokolade, die man sich zuhause nicht kaufen würde. Mit Pfefferminzfüllung, mit Fruchtfüllung, mit Kokosfüllung, mit Knäckebrotfüllung. Die Riegel wurden eingeteilt, so dass drei Stückchen pro Tag blieben.

2. Pfeffi-Stangen

Natürlich blieb es nicht bei drei Stückchen pro Tag. Und dann war es so weit. Noch fünf Tage bis zur Abreise, und man hatte nur noch 90 Pfennig, was nicht mal für Creck reichte. Und so wich man auf Pfeffi-Stangen aus. 10 Stück für 10 Pfennig. Glück konnte so billig sein.

1. Fahrtenmesser

Aber irgendwann kam der Tag, an dem sich jeder Junge entscheiden musste: Bleibe ich ein kleines Kind oder investiere ich sieben Mark in ein Fahrtenmesser. Mit Blutrinne. Diese Messer waren meistens. Sie ließen sich nicht mal richtig zum Schnitzen benutzen. Aber für Gruppenrituale benutzen. Einmal, als wir mit einem Hungerstreik gegen die Entlassung unseres alkoholsüchtigen Gruppenleiters protestieren wollten beschlossen wir, diesen Streik mit einem Schwur zu besiegeln, indem wir unsere Fahrtenmesser gemeinsam in den See werfen würden. Erst im letzten Moment schlug Dirk vor, wir könnten die Messer ja auch in die Weide stechen. Warum waren wir nicht schon früher darauf gekommen? Im Nachhinein hätte es nichts geschadet, die Messer in den See zu werfen, diese stumpfen Mistteile. Ich war der Einzige, der den Hungerstreik wenigstens bis zum Abend durchhielt. Aber eine Blutrinne würde nie wieder eines meiner Messer haben.

*

511. Nacht

Nach einem Jahr kommt tatsächlich der Vogelzug wieder daher. Doch muss sich Dschanschâh noch weitere drei Tage im Pavillon verstecken, bis die drei Riesenvögel aufkreuzen, ihre Gefieder ablegen und als nackte Mädchen im Teich baden.

Wie sie aber im Wasser schwammen und zur Mitte des Teiches gelangten, sprang er auf, eilte wie der blendende Blitz dahin und ergriff das Gewand der jüngsten Maid, der, an die er sein Herz gehängt hatte und die Schamsa [Sonne] hieß.

Sie bittet ihn um ihr Kleid, um herauskommen zu dürfen. Er gesteht ihr lediglich zu, dass eine der Schwestern ihr etwas von ihren Federn abgeben darf, um die Blöße zu bedecken.

Nun kam sie daher, als wäre sie der aufgehende Vollmond, der helle, oder eine äsende Gazelle.

Und er berichtet wieder einmal seine Erlebnisse.

512. Nacht

Der Herr der Vögel, Scheich Nasr, nimmt der jungen Frau das Versprechen ab, Dschanschâh nie untreu zu werden. So bleiben sie noch drei Monate;

und sie aßen und tranken, spielten und scherzten.

513. Nacht

Nach dieser Zeit willigt sie ein, mit Dschanschâh in dessen Heimat Kabul zu ziehen und sich dort mit ihm zu vermählen.
Der Tag der Abreise kommt, Schamsa erhält ihr Federkleid zurück und Dschanschâh steigt auf ihren Rücken und sie trägt ihn drei Tage lang. Sie schwebt herab

auf ein weites Wiesenland in der Blumen Prachtgewand, mit äsenden Gazellen und sprudelnden Quellen, woe Bäume voll reifer Früchte standen und breite Bäche sich wanden.

Sie erklärt ihm:

“Wir haben eine Strecke von dreißig Monaten zurückgelegt.”

Sie rasten auf der “Wiese Karâni”.

Wo das sein soll, konnte ich nicht herausfinden.

Da begegnen ihnen zwei Mamluken. Einer von ihnen ist der, der im Fischerboot geblieben war. Man einigt sich darauf, dass sie Dschanschâhs Vater die Nachricht seiner baldigen Ankunft geben sollen, damit man ihn nach einer angemessenen Pause zum Prunkzug abholen möge.

514. Nacht

Als die Mamluken dem König die Botschaft der Ankunft seines Sohnes überbringen, fällt dieser in Ohnmacht, und verspricht ihnen, als er aufwacht eine Summe Geldes:

“Nehmt diesen Lohn für die frohe Botschaft, die ihr gebracht habt, mag sie nun falsch oder wahr sein!”

Eine bemerkenswerte Geste für den König eines Großreichs.

Er reitet dem Sohn mit großem Gefolge entgegen zum Fluss.

Dort saßen die Krieger und die Mannen ab, schlugen die Zelte und Prunkzelte auf und errichteten die Standarten; und die Trommeln wirbelten, die Flöten erklangen, die Pauken dröhnten und die Hörner schmetterten. Nun befahl König Tighmûs den Zeltaufschlägern, ein Zelt aus roter Seide zu bringen und es für die Herrin Schamsa herzurichten.

Der Beruf des Zeltaufschlägers dürfte inzwischen auch ausgestorben sein.

Sie legt ihr Federkleid ab und es kommt zur großen Vereinigung von Vater, Sohn und Schwiegertochter. Dschanschâh muss abermals seine Geschichte erzählen.

Unbeendet 2021

Unbeendet 2021

Im Jahr 2021 schien mir meine Ausbeute an beendeten Büchern recht gering. Nun sehe ich aber auch, dass sich in meinem Lektürestapel doch einige Werke fanden, die ich gar nicht beendet habe – 1) weil ich sie schon nach einigen Seiten aufgab, 2) weil ich von ihnen immer nur kleine Häppchen nehme oder 3) weil ich sie erst gegen Ende des Jahres angefangen habe und 2022 beenden möchte.
Zur ersten Kategorie gehören:
Dirk Stermann: „Hammer“. Ich mag Stermann sehr, und das Thema – die Entstehung der Orientalistik im Wien des frühen 19. Jahrhunderts – sprach mich sehr an. Aber irgendwann musste ich das Buch weglegen. Mir scheint, Stermann hat sich von seiner Bildungsbeflissenheit forttragen lassen. Seitenweise ausgestorbene Berufe, wie als wolle er zeigen, was er gelernt hat. Dazu aufdringliches Namedropping. Das alles wirkte mir dann doch zu angestrengt.
Pissarro: „Briefe“. Die Briefe meines Lieblingsmalers. Gewiss interessant, aber zu viele private und maltechnische Details, mit denen ich dann doch nichts anfangen kann.
Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“. Startete mir zu heftig. Lektüre auf später verschoben.
Arundhati Roy: „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Ich mochte ihr Debüt und war auf ihr zwanzig Jahre später erschienenes Folgewerk neugierig. Doch der Erzählansatz erschien mir auf Dauer doch zu anstrengend und gespreizt.
Omar Khayyam: „Vierzeiler“. Ich tippe auf schlechte Übersetzung.
Thomas Mann: „Buddenbrooks“. Drin geblättert, um zu testen, ob eine Neulektüre sich lohne. Ergebnis: Bestimmt. Aber nicht heute.

Zu zweiten Kategorie:
Schalamow: „Durch den Schnee“. Gulag-Prosa. Nach zwanzig Minuten Lektüre jedes Mal völlig geschafft und das Buch wieder für ein paar Wochen beiseitegelegt.
Stephen Kotkin: „Magnetic Mountain. Stalinism As a Civilisation”. Dito.
Maupassant: „Novellen II“. Ab und zu eine Novelle zwischendurch genügt.
Nikolai Demidov: „Becoming an Actor Creator“. Gigantisches Werk des Stanislawski-Schülers. Ein enormer Klopper. Die 814 Seiten wären im Normaldruck wahrscheinlich 3.000. Ja, er hat Wichtiges zu sagen, aber die Rosinen muss man sich aus diesem schwer zu durchsuchenden Buch mühsam herauspicken. Zu viel Geschwätz über die Personen seiner Zeit, zu viel Gejammer über schlechte Kunst.

Dritte Kategorie:
Die Erzählungen aus den Eintausendundein Nächten. Band 4
Liu Cixin: „The Three Body Problem“
(Beide im Dezember 2021 angefangen)

Sahra Wagenknecht – Die Selbstgerechten

Sahra Wagenknecht – Die Selbstgerechten

Dass ich Sahra Wagenknecht noch mal verteidigen würde, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ausgerechnet diese Politikerin, die über Jahre in der PDS einen verstaubten Kommunismus vertrat und bei der man beim Zuhören ihrer humorlosen Reden vor Trockenheit husten musste.
Nun hatte sie mitten in den Wahlkampf 2021 hinein ihr Buch „Die Selbstgerechten“ geworfen, das prophetisch die Gründe für das Scheitern der Linken vorwegnimmt. (Dass das Buch selbst ein Grund fürs Scheitern gewesen sei, ist Humbug. Keine Partei-Interna werden gesteckt. Und die Handvoll Personen, die leicht camoufliert erwähnt werden, können schon mal den Kick in die Seite ab.)
Die Hauptthese: Die politische Linke verliert ihre Basis, da sie sich nicht mehr um die wirtschaftlichen Belange der Ärmeren kümmert. Anstatt sich mit den proletarischen Schichten zu verbünden, rümpft man die Nase über ihren Habitus, ihre Fixierung auf Konsum, ihre ungeschliffene und ihre politisch unkorrekte Sprache.
Meine linken Freunde waren rasch dabei, das Buch zu verdammen. Einmal wegen des unglücklichen Diktums von den „immer skurrileren Minderheiten“. Zum anderen, weil Wagenknecht angeblich einen neuen Nationalismus predige. Schon während ich das Buch (ein Geburtstagsgeschenk, das ich mir selbst nicht gekauft hätte) las, fragte ich mich, ob die Freunde das Buch wirklich ganz gelesen hatten oder sich die Rosinen herausgepickt hatten, die ihre Vorurteile nur bestätigten.
Dabei müsste das Buch für alle Aufgeschlossenen ein Augenöffner sein. Dass die Linken sich verrannt haben, dürfte jedem klar sein. Aber warum ist das so? Wagenknecht sieht hier die Ursache in einem üblen Schulterschluss mit den (Neo-)Liberalen. Für Liberale rührt jede Ungerechtigkeit aus der Diskriminierung. Was darüber hinausgeht – sprich, Ungleichheit durch ungerechte ökonomische Strukturen – interessiert sie schon seit einigen Jahren nicht mehr. Nun ist es aber deutlich einfacher, Diskriminierungsdetektiv zu spielen, als sich in volkswirtschaftliche Zusammenhänge einzulesen. Das betrifft sogar einfache Fakten. Das beste Beispiel ist, dass die Empörung im Netz die Unilever-Tochter Knorr dazu zwang, die „Zigeunersoße“ vom Markt zu nehmen. Der zeitgleich (durch Entlassungsdrohung durchgesetzte) verschlechterte Tarifvertrag kümmerte die Linken nicht die Bohne. Die Frage der Mikroaggressionen ist der Akademiker-Sternchen-Gemeinde wichtiger als die des materiellen Wohlstands der Abgehängten. Diese Kaste, die vor allem in den Medien dominiert, hat sowohl professionell als auch individuell die Verbindung zum proletarischen Milieu verloren. Wenn überhaupt, dann wird über dessen Vertreter angewidert berichtet, wenn man sie plötzlich mit wütenden Grimassen und hilfloser Grammatik auf Pegida-Demos antrifft. Die Nicht-Akademiker sind den Links-Liberalen schlicht und einfach egal. Und man wundert sich, warum sie plötzlich alle nach rechts abwandern, wo doch die Wirtschaftsprogramme der AfD gerade die Armen benachteiligen. (Der Begriff „Besorgte Bürger“ ist in Satiriker-Kreisen, in denen ich mich bewege, zur Standard-Mini-Pointe geronnen.)
Und schwupps, da sind wir schon beim Thema Nation. Dem Standard-Linken ist es schon unangenehm, wenn bei der Fußball-WM Deutschland-Fahnen geschwenkt werden. (Mir übrigens auch.) Aber nicht genug davon, man verkündet das auch, um noch den letzten potentiellen Verbündeten abzuschrecken. Der Widerwille gegen alles Nationale ist nach der NS-Zeit ein nachvollziehbarer Reflex. Die Nation – davon geht das Böse aus. Das Problem ist nur, dass ohne einen positiven emotionalen Bezug zu einem demokratischen Gebilde, dieses Gebilde in große Schwierigkeiten gerät – man denke an Belgien, Norditalien oder einige der seltsam viereckigen afrikanischen Länder. Wer meint, sich eher als Europäer zu fühlen als als Deutscher, möge sich fragen, wieviele europäische Parlamentarier man denn im Vergleich zu den deutschen kenne. Die Nation existiert in unserem Hinterkopf, wie wir merken, sobald wir bei einer Bundestagswahl mitfiebern, da wir wissen, dass der Bundestag der Ort ist, wo über unsere Kernthemen demokratisch legitim entschieden wird (und nicht in der Europäischen Kommission). Und wieder der Schulterschluss mit den Neoliberalen: Die EU ist – im positiven wie im negativen Sinne – ein liberales Projekt. Im positiven Sinne, weil es die Freiheitsrechte und die Möglichkeiten von Millionen Bürgern ausgeweitet hat. Im negativen Sinne, weil die Demokratie in der EU im Prinzip kaum eine Rolle spielt und weil die EU als supra-nationale Organisation die finanzielle (und damit auch sozialpolitische) Autonomie der Einzelstaaten immer mehr beschneidet. Freiheit heißt hier vor allem Freiheit für die Wohlhabenden.
Kommen wir noch zum heißesten Thema – der Immigration. Wagenknecht gelingt es, den Blick zu erweitern. Ja, die EU-Länder, und vor allem Deutschland, hat ein Problem, was Fachkräfte im Bereich Medizin und Pflege betrifft. Aber die Lösung ist nicht etwa, hier bessere Gehälter zu zahlen und bessere Bedingungen zu bieten. Stattdessen zieht man Fachkräfte aus den Entwicklungsländern ab. Mit anderen Worten: Die armen Länder übernehmen für uns die Ausbildung qualifizierter Fachkräfte und stehen am Ende dumm da. Von den paar Euros, die dann die Glücklichen, die es nach Europa geschafft haben, in die Heimat schicken, kann man sich leider auch nicht neue Ärzte basteln.
Auch um den Konkurrenzkampf zwischen Eingewanderten und geringqualifizierten Arbeitern kümmert sich die Linke nicht. Ebenso wenig um die riesigen Flüchtlings-Camps von Migranten innerhalb Afrikas. Die Antwort ist vielmehr: Offene Grenzen für alle. Finger in die Ohren stecken und laut „Lalala“ rufen. Und sich bei der nächsten Wahl wundern, wenn man keine fünf Prozent erreicht hat.

507.-510. Nacht

507.-510. Nacht

507. Nacht

(Fortsetzung von Die Geschichte von Dschanschâh
in Die Abenteuer Bulûkijas
in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

Ein riesiger Vogel stürzt auf den in die Maultierhaut eingenähten Dschanschâh herab und trägt ihn auf einen Berg. Dschanschâh schlitzt das Fell auf, der Vogel fliegt, und Dschanschâh sieht um sich herum vertrocknete Leichen und Edelsteine.
Der Kaufmann verlangt von ihm, die Edelsteine herabzuwerfen, dann würde er ihm den Weg zeigen. Dschanschâh tut das, aber der Kaufmann reitet davon.

Im Märchen Der Edelsteinberg stopft sich der Held nun die Taschen voller Edelsteine, lässt sich von dem Adler ins Tal tragen und rächt sich am Kaufmann. Hier jedoch, wie so oft in den 1001 Nächten hat der Erzähler kein Bedürfnis, irgendwelche Klammern zu schließen, solange es nicht reine Anekdoten oder Witze sind. Es gibt keine Auflösung, keine Wiedereinführung, es sei denn durch die Rahmenhandlung, keine Moral der Geschichte, kein Lernen des Helden, keine moralische Prüfung. Die Aneinanderreihung seltsamer Abenteuer und Begebenheiten genügt.

Dschanschâh wartet drei Tage, dann wandert er zwei Monate lang. Dann gelangt er in ein Tal, in welchem er eine Burg entdeckt, wo ein Alter namens Scheich Nasr, der Herr der Vögel wartet und ihm verrät, dass Salomo ihm die Obhut über diese Burg anvertraut hat.

508. Nacht

Alle Jahre hält der Scheich Musterung über die Vögel. Er verspricht Dschanschâh, in den Vögeln anzuvertrauen, die ihn von diesem Berg Kâf fortbringen sollen. So verbringt Dschanschâh  eine Weile bei ihm. Und als der Tag der Vögel näherkommt, soll er die Zimmer der Burg begutachten.

Doch hüte dich, denundden Raum zu öffnen! Wenn du mir zuwiderhandelst und ihn doch öffnest, so wird dir nichts Gutes begegnen.

Sollte dies auch ein uneingelöstes Story-Versprechen sein wie bei der Superstute in der 494. Nacht, als sich Bulûkija einfach an das Versprechen hielt?

Siehe da, Dschanschâh  betritt tatsächlich diesen Raum.

Und er sah in ihm einen großen Teich, neben dem sich ein Pavillon befand, der aus Gold und Silber und Kristall erbaut war; seine Fenster waren mit Rubinen ausgelegt, und sein Boden war mit grünen Chrysolithen, Ballastrubinen und anderen Edelsteinen gepflastert, die marmorartig verästelt waren. Inmitten jenes Pavillons stand ein Springbrunnen, mit einem goldenen Becken voll Wassers, umgeben von allerlei Tieren und Vögeln, die aus Gold und Silber kunstvoll gearbeitet waren…

Ein Raum, der also eigentlich ein riesiger Garten ist.

509. Nacht

Dschanschâh schläft nach einer Weile bei dem in der Mitte des Raumes befindlichen Thron ein. Es nähern sich drei Vögel, die sich neben dem Teich niederlassen.

Daraufhin legten sie das Federkleid, das sie trugen, ab und wurden zu drei Mädchen, so schön wie Monde, die in der Welt nicht ihresgleichen hatten. Sie stiegen zum Teich hinab, schwammen in ihm munter und lachten. Als Dschanschâh sie erblickte, ward er bezaubert durch ihre Schönheit und Anmut und das Ebenmaß ihrer Gestalten.

In die jüngste von ihnen verliebt er sich.

Aber sie gab ihm zur Antwort: “Lass dies Gerede und zieh deiner Wege!”

Er freestylt:

“Im Garten erschien sie mir in ihren grünen Gewändern,
Den wallenden, und im Haare, das frei herab ihr hing.
Ich fragte sie; Wie heißt du? Sie sprach: Ich bin die Schöne,
Die in dem heißen Feuer der Liebe die Herzen fing.
Ich klagte ihr, was ich gelitten in meiner treuen Liebe.
Sie sprach: Du klagst dem Felsen und weißt doch nichts davon.
Da rief ich: Wenn dein Herz ein Felsen ist, so wisse,
Gott ließ aus Fels entspringen den allerklarsten Bronn.”

Dschanschâh fällt in eine Ohnmacht, in der er bleibt, während der alte Scheich mit den anderen Vögeln seine Rückreise bespricht.

510. Nacht

Der Scheich findet Dschanschâh. Nach den entsprechenden Vorwürfen gibt er ihm einen Rat: Sich beim nächsten Mal zu verstecken und einer von ihnen das Federkleid zu rauben.
Dafür muss er aber wieder ein Jahr warten, worauf sich Dschanschâh  einlässt.

Die sexuelle Gier ist nun wohl doch größer als die Heimatliebe.

 

504.-506. Nacht – Ameisen gegen Affen, Edelsteinberg

504.-506. Nacht – Ameisen gegen Affen, Edelsteinberg

(Fortsetzung von Die Geschichte von Dschanschâh
in Die Abenteuer Bulûkijas
in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

504. Nacht

Die Tafel verheißt Dschanschâh außerdem, dass ein Strom, der sich zum Sabbat teilt, ihn in das Land der Juden,

die Mohammed nicht anerkennen,

führen würde.

Mohammed, der aber zum Zeitpunkt der Geschichte noch nicht gelebt hat. Die ganze Geschichte von Schlangenkönigin, Bulûrkija und Dschanschâh muss aus mehreren Storys zusammengebaut sein. Teilweise, wie in den Engels-Geschichten scheinen es muslimische Volksymythen zu sein. In Storys wie dieser scheint die Referenz zu Mohammed eher hinzugefügt, um sich von den Juden abzugrenzen.

“Doch hier werden die Affen, solange du bei ihnen weilst, über die Ghule siegreich bleiben.”

Nach einer Phase der Depression befiehlt Dschanschâh eineinhalb Jahre später den Affen, mit ihnen zur Jagd auszureiten.

Ein Schelm, wer nicht spätestens hier an den Planeten der Affen denkt.

Wäre natürlich interessant zu erfahren, ob Michael Wilson sich von den 1001 Nächten hat inspirieren lassen.

Während des Jagdausflugs fliehen Dschanschâh und die Mamluken eines Nachts vom Affentrupp, werden von diesem aber eingeholt.

Plötzlich aber kamen Ameisen aus der Erde hervor, gleichwie ein Heuschreckenschwarm, und eine jede von ihnen war so groß wie ein Hund.

Es kommt zum Kampf zwischen Affen und Ameisen, wobei die Ameisen Oberhand gewinnen.

505. Nacht

Am nächsten Tag nehmen die verbliebenen Affen wieder die Verfolgung auf.

Mit einem Male stürzte ein Affe wider sie los, der so große Zähne hatte wie ein Elefant, und er sprang auf einen der Mamluken, traf ihn und zerriss ihn in zwei Teile.

Der Rest flieht Richtung Fluss, wo sie schon wieder von den Ameisen erwartet werden, die auch einen der Mamluken töten. Dschanschâh und der letzte Mamluk springen ins Wasser, doch wird dieser an einem Fesen zerschlagen, während sich Dschanschâh an Land retten kann.
Tatsächlich gelangt er auf einer langen Fußreise zu einer Stadt der Juden, die aber wie ausgestorben scheint. Tatsächlich aber befinden sich die Juden wegen des Sabbats in ihren Häusern. Dort trifft er eine schweigende Familie beim Essen, die ihn mit Gesten bittet, sich zu ihnen zu setzen.
Als Dschanschâh ihnen am nächsten Tag seine Geschichte erzählt, lässt ihn der Hausherr wissen, dass jedes Jahr eine Karawane vorbeikomme, die in das zwei Jahre und drei Monate entfernte Jemen reise.

506. Nacht

Dschanschâh darf bei dem Juden in der Zeit wohnen. Nach einer Weile spaziert er auf der Straße und hört einen Mann ausrufen:

“Wer will tausend Dinare als Lohn empfangen und dazu eine schöne Sklavin, deren Reize in lieblichster Anmut prangen, indem er nur vom Morgen bis zur Mittagszeit für mich arbeitet?”

Dschanschâh lässt sich darauf ein und erhält eintausend Dinare, ein Seidengewand und die Sklavin bereits als Vorschuss. Er “ruht” mit dieser Sklavin über Nacht.
Am nächsten Tag aber begleitet er den Kaufmann zu einem hohen Berg. Dort lässt ihn der Kaufmann eines der Maultiere schlachten, ausnehmen und sich in die Haut hineinlegen.

Spätestens wenn das Maultier geschlachtet werden soll, müssten doch Dschanschâh Bedenken kommen. "Looks like we're shy one horse."

Der Kaufmann aber nähte ihn ein, ließ ihn dort liegen und entfernte sich von ihm.

Die Schallplatte "Drei Scheffel Glück" mit dem großartigen Märchen "Der Edelsteinberg" gehörte zu meinen prägenden Kindheits-Storys. Offensichtlich läuft auf diese Geschichte hinaus. Und es wäre interessant zu erfahren, ob die turkmenische Geschichte in die 1001 Nächte oder (was zu vermuten wäre) diese nach Turkmenistan übergeschwappt ist.

501. – 503. Nacht. Bergfest

Bergfest. Die Hälfte der 1001 Nächte und damit drei von sechs Bänden sind geschafft. Wenn ich das Lesetempo durchhalte, bin ich fertig, wenn ich 68 bin.

*

(Fortsetzung von Die Geschichte von Dschanschâh
in Die Abenteuer Bulûkijas
in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

501. Nacht

Dschanschâh und seine sieben Mamluken verfolgen die Gazelle, die sich zunächst ins Meer stürzt und dann auf ein Fischerboot rettet. Dort angekommen entdeckt Dschanschâh eine Insel, zu der er mit seinen Gefährten fährt. Nachdem sie sich dort umgesehen haben, werden sie von der Dunkelheit überrascht und der Wind treibt sie aufs Meer hinaus.
Der bei den Pferden zurückgelassene Mamluk berichtet König Tighmus und dessen Frau vom Verschwinden ihres Sohnes.

Als aber die Mutter des Prinzen die Kunde vernahm, zerschlug sie sich das Antlitz und hob die Totenklage um ihn an.
Überlassen wir die Eltern ihrem Kummer und sehen wir nun, wie es Dschanschâh und seinen Mamluken erging.

Sie werden auf eine Insel geworfen, auf der sie einen Mann treffen, der wie Vögel sprach.

Laut Anmerkung des Übersetzers oder Herausgebers wird die "Zigeunersprache" von den Arabern bisweilen als Sperlingssprache bezeichnet.

Doch da blickte jener Mann nach rechts und nach links, und während die anderen noch alle staunend dastanden, teilte er sich plötzlich in zwei Hälften, und jede Hälfte ging nach einer anderen Richtung davon.

Man kann inzwischen davon ausgehen, dass dieses Feature keinerlei Konsequenzen für die Geschichte haben wird, sondern lediglich schmückendes Beiwerk ist. Es erinnert mich an die surrealen Figuren auf den Planeten, die Adolar besucht.

(Ungefähr ab Minute 11:00)

Doch der geteilte Mann kommt tatsächlich zurück mit seinen Kumpanen, die sich alle aufspalten und Dschanschâh und seine Mamluken fressen wollen. Tatsächlich werden drei von ihnen verspeist. Aber die übrigen erreichen das Boot und können fliehen. Auf hoher See schlachten sie die Gazelle und überleben so.
Sie erreichen eine weitere Insel, die ihnen paradiesisch erscheint. Dschanschâh schickt die Mamluken vor, um sie auszukundschaften. Er selbst bleibt im Boot.

502. Nacht

Die Mamluken entdecken eine weiße Burg mit einer edelsteingeschmückten Halle. Sie berichten Dschanschâh davon, der sie nun begleitet. Sie nehmen im Thronsaal Platz, um nachzudenken und zu weinen.

Während sie so trauerten, erhob sich plötzlich ein Geschrei vom Meere her; sie blickten nach der Richtung, aus der der Lärm kam, und sahen nun, dass dort Affen waren, die wimmelnden Heuschrecken glichen.

Die Insel gehört nämlich den Affen, die übrigens auch das Boot versenkt haben.

Da hielt die Schlangenkönigin inne, und dann sprach sie: “All dies, o Hâsib, erzählte der Jüngling, der zwischen den Gräbern saß, dem Bulûkija.” Und als Hasib sie fragte: “Was tat aber Dschanschâh mit den Affen”, fuhr sie also fort…

Eine kleine Zwischenorientierung durch die Erzählerin Schehrezâd, damit wir den Überblick in dieser matrjoschkamäßigen Geschichte nicht verlieren.

Die Affen schlachten und braten diverse Gazellen und bringen auch Früchte und zeigen Dschanschâh und den Mamluken ihre Ehrerbietung. Nachdem dieser sich nach der Insel erkundigt, antworten sie:

“Wisse, diese Stätte gehört Salomo, dem Sohne Davids – Freide sei mit ihnen beiden! -, und er pflegte alljährlich einmal hierher zu kommen, um sie zu ergötzen.”

503. Nacht

Die Affen machen Dschanschâh zum König, und er und die Mamluken fügen sich in ihr Schicksal.
Auf der anderen Seite der Insel, hinter den Bergen, leben allerdings mit den Affen befeindete Ghule, die diese angreifen. Die Mamluken helfen den Affen mit Pfeil und Bogen. Als sie sie vertrieben haben, entdeckt Dschanschâh eine Marmortafel an der Bergwand, auf der sein Schicksal verkündet wird: Der einzige Ausweg liege auf der anderen Seite der Insel.

 

 

 

499.-500. Nacht, Letzter DDR-Pfennig-Artikel, Hochzeit in Kabul

499.-500. Nacht, Letzter DDR-Pfennig-Artikel, Hochzeit in Kabul

Am Montag, dem 2. Juli 1990, dem Tag nach der Währungsunion, befand ich, dass ich für meinen kleinen Campingtrip nach Prag einen Dosenöffner bräuchte. Nach der Arbeit fuhr ich daher ins Centrum Warenhaus am Alex. (Ich hätte ihn gewiss auch in einem kleineren Laden gefunden, aber das Warenhaus lag mehr oder weniger auf dem Weg, und bei kleinen Läden wusste man nie.)
Ich wurde fündig, zahlte die 25 Pfennig und fuhr die Rolltreppe hinab. Und da standen sie schon – die Kamerateams von ARD und ZDF, die darauf aus waren, DDR-Bürger vor die Kamera zu zerren und zu fragen, was sie sich denn nun als erstes von ihrem schönen neuen Westgeld gekauft hätten. Ich war damals wirklich nicht besonders kamerageil, aber in dem Moment spazierte ich absichtlich langsam auf die Teams zu, um ihnen im Falle der Befragung diesen unansehnlichen DDR-Pfennigartikel zu präsentieren.
Ob sie schon was geahnt hatten oder ich ihnen zu unfotogen war – sie ließen mich ziehen. Und jetzt kann es jeder wissen, der lesen kann.

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(Fortsetzung von Die Abenteuer Bulûkijas in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

499. Nacht

Die Schlangenkönigin fährt fort und berichtet, dass nachdem Bulûkija seine Erlebnisse vorgetragen hatte, der Jüngling vor den Grabmalen seine eigene Geschichte erzählt.

Die Geschichte von Dschanschâh

Wir haben nun also eine Geschichte (Dschanschâh) in einer Geschichte (Bulûkija) in einer Geschichte (Schlangenkönigin) in einer Geschichte (1001 Nacht).

Der König Tighmûs von Kabul ist ein reicher Herrscher, aber ohne Weib und Nachkommen. Seine Astrologen meinen, die einzig mögliche glückliche Heirat wäre die mit der Tochter des Königs von Chorasân. Er sendet daraufhin seinen Wesir mit einem riesigen Trupp und reichen Geschenken nach Chorasân, damit dieser um die Prinzessin wirbt, versehen mit der Drohung, sich ihn zum Feind zu machen, falls er widerstrebt.
Bahraqân, der König von Chorasân ist hoch erfreut und überbringt seiner Tochter diese Botschaft. Diese antwortet nur:

“Tu, was du willst.”

Die Beschreibung legt nahe, dass der Wesir mehrere Wochen unterwegs ist. Allerdings darf man nicht die heutige Distanz von zirka 1.500 km annehmen. Denn das alte Chorasân reichte zeitweise weit bis in das heutige Afghanistan hinein.

500. Nacht

Die Prinzessin wird ohne Anwesenheit des Bräutigams vermählt.

Man kann annehmen, dass ihr der kirchliche Segen gegeben wird, denn es es ist von christlichen Mönchen und Priestern die Rede.

Nach zwei Gastmonaten reist die Prinzessin mit dem Wesir zurück. Auch in Kabul findet eine Hochzeit statt.

Dann ging er zu der Prinzessin ein und nahm ihr das Mädchentum.

Sie empfängt auch sofort, und der Held unserer Geschichte (und Erzähler) Dschanschâh wird geboren, dem man die beste Erziehung angedeihen lässt, unter anderem begann er,

dass Evangelium zu lesen,

was nicht heißt, dass er christlich ist wie seine Mutter, sondern das Evangelium (Indschîl), hat eine spezielle Bedeutung im Islam.

Als er groß wird, jagt er eines Tages eine Gazelle, die ihm entkommt und sich ins Meer stürzt.

Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.

495.-498. Nacht – Omikron und Beförderungs-Erschleichung

495.-498. Nacht – Omikron und Beförderungs-Erschleichung

Sobald die Nachricht über die Omikron-Variante heraus war, äußerten die Virus-Spezialisten, dies sei kein Grund zur Panik. Ich frage mich, wann die mal vor die Kameras treten und sagen: “Meine Damen und Herren! Wir bitten Sie jetzt alle, so richtig panisch zu werden.”
Ansonsten darf man sich durchaus freuen, dass der in Allgemeinwissen  und Popkultur eher unterrepräsentierte Buchstabe Omikron, der sich übrigens “O” schreibt, auch mal im Rampenlicht steht.
Betrüblich in der letzten Woche: Nachdem ich jahrelang bei meinen abendlichen Fahrten eine mit meiner Frau geteilte Jahreskarte dabei hatte, haben wir sie im Frühjahr abgeschafft, fuhren viel Fahrrad und kauften die wenigen Tickets online. Prenzlauer Allee. Kontrolleure. Ich erkenne sie an ihrem Hochstatus schon beim Einsteigen – diese Haltung, die signalisiert “Der S-Bahn-Wagen gehört mir.” Sie finden auch prompt ein paar Opfer, aber nicht genügend, um mir einen Zeitvorsprung zu verschaffen. Ich fummle hektisch an meinem Handy, aber der Gorilla brummt: “Ich sehe in der Scheibe, dass Sie versuchen, noch schnell ein Ticket zu kaufen.” In meinen frühen Zwanzigern, als mir das ein, zwei Mal pro Jahr passierte, bin ich dann meistens mit ausgestiegen und weggerannt. Aber weder habe ich noch diese Schnelligkeit noch den hohen Leidensdruck. Und so steht mein Name jetzt in der Beförderungs-Erschleicher-Datei des VBB.

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495. Nacht

(Fortsetzung von Die Geschichte der Schlangenkönigin)

Bevor die Schlangenkönigin die Geschichte von Bulûkija fortsetzen kann, bittet Hâsib Karîm ed-Dîn sie, ihn wieder an die Erdoberfläche zurückzuführen.

Bei diesem Narrativ könnte auch jedem anderen der Kragen platzen, und man muss sich wundern, dass Schehrezâd nicht um ihr Leben fürchtet.

Die Schlangenkönigin aber prophezeit, dass sobald Hâsib an die Oberfläche käme, er ins Badehaus gehen würde, dort die Waschung vornehmen, und dann wäre es um sie, die Schlangenkönigin, geschehen. Trotz seiner Schwüre, dies nicht zu tun, lässt sie sich nicht umstimmen, da Hâsib ein Sohn Adams sei, der den Bund mit Allah gebrochen habe. Zehn Tage weint er nun, bis er sich schließlich einkriegt und sie resigniert zum Weiterplaudern ermutigt:

“Erzähle mir, wie es Bulûkija erging…”

Bulûkija nimmt Abschied vom König und begegnet auf seinen weiteren Wanderungen den Erzengel Michael sowie vier Engel in Gestalt eines Menschen, eines Raubtieres, eines Vogels und eines Stieres hatte.

(Die Symbole der vier Evangelisten - auch Tetramorph)

Er wandert weiter und gelangt zum Berg Kâf.

Der Erzähler nimmt keinerlei Bezug darauf, dass Bulûkija hier schon mal war.

Auf diesem Berg trifft er, man kann es sich schon denken, wieder einen Engel, dessen Aufgabe es ist, auf Befehl Allahs Dürre oder Überfluss, Krieg oder Frieden zu schaffen.

496. Nacht

Der Engel erklärt weitere Mythen, unter anderem:

“Hinter dem Berge Kâf liegt noch ein Gebirge, das einen Weg von fünfhundert Jahren lang ist, und es besteht ganz aus Schnee und Eis. Dies Gebirge ist es, das die Hitze des Höllenfeuers von der Welt abwehrt.”

497. Nacht

Die Hölle, so ein weiterer Mythos, von dem der Engel erzählt, ist ein Pfand, das Allah der Schlange anvertraut hat:

“Öffne deinen Rachen!” Und als das Ungeheuer seinen Schlund aufgetan hatte, senkte Allah die Hölle in seinen Bauch und sprach: ‘Bewahre die Hölle bis zum Tage der Auferstehung.'”

Wie wir aber von der Schlangenkönigin erfahren hatten, wohnen doch die Schlangen in der Hölle. Man hat fast den Eindruck, der Erzähler stellt all die Engels- und Höllenmythen nebeneinander, um ihre Inkompatibilität zu demonstrieren.

Bulûkija wandert weiter und trifft auf ein von zwei Wächtern behütetes Tor, das diese ihm nicht öffnen dürfen. Daraufhin bittet er Allah, ihm den Erzengel Gabriel zu senden, der das Tor öffnen möge.
Dies geschieht auch. Und hinter dem Tor befindet sich ein riesiges, von einer Bergkette umgebenes Meer. Auf den Spitzen dieser Berge sitzen, dreimal darfste raten,

Engel, deren Amt es war, zu lobpreisen und zu heiligen.

Er findet schließlich den Weg zum Meer, schmiert sich wieder die Füße mit der Kräutersalbe ein und begegnet anderen, die ebenfalls übers Meer wandeln. Es sind dies die beiden Erzengel Gabriel und Michael. Verwundert wandert Bulûkija weiter.

498. Nacht

Auf der Wanderung begegnet Bulûkija nun einem weinenden Jüngling, der zwischen zwei Grabstätten sitzt.

Hâsib unterbricht die Schlangenkönigin abermals und bittet sie, ihn nach oben zu führen, was sie ihm abermals verwehrt. Er weint,

und alle Schlangen weinten um seinetwillen und begannen für ihn bei der Königin zu bitten. (…) Als nun Jamlîcha – denn also war die Schlangenkönigin geheißen – diese Bitte von ihm hörte, wandte sie sich zu Hâsib und ließ ihn schwören.

Nach über fünfzig Seiten erfahren wir nun ihren Namen, als würde er jetzt noch eine Rolle spielen.

Sie befiehlt einer Schlange, ihn nach oben zu bringen.

Aber als sie schon bei ihm war, um ihn hinauszuführen, sprach er doch noch zu der Schlangenkönigin: “Ich möchte, dass du mir die Geschichte des Jünglings erzählst, bei dem Bulûkija sich niedersetzte.”

492.-494. Nacht – Die 32 besten Beatles-Songs und die sieben Schichten der Hölle

492.-494. Nacht – Die 32 besten Beatles-Songs und die sieben Schichten der Hölle

Soll man sich wirklich die acht Stunden “Get Back” antun? Wer weiß, vielleicht wird es am Ende traurig, und die Beatles lösen sich auf.
Schon vor einem halben Jahr habe ich eine Liste meiner Lieblings-Songs erstellt. Eigentlich hört man ja im späten Teenager-Alter auf, Lieblings-Irgendetwas zu haben. (Frag mal jemanden nach seinem Lieblingsessen, er soll in drei Sekunden antworten. Fast jeder nennt Kinder-Favoriten – Pizza, Spaghetti, Pommes.) Aber Nerds lieben Listen. Ich bin einer. Also bitte schön:

1. Nowhere Man

2. Strawberry Fields Forever

3. A Day in the Life

4. Eleanor Rigby

5. Penny Lane

6. Help!

7. Girl

8. In My Life

9. Across the Universe

10. For No One

11.The Fool on the Hill

12. Yesterday

13. Here Comes the Sun

14. All My Loving

15. Norwegian Wood (This Bird Has Flown)

16. A Hard Day’s Night

17. I’ve Just Seen A Face

18. The Inner Light

19. I Should Have Known Better

20. Hey Jude

21. Revolution[l]

22. I Want to Hold Your Hand

23. All You Need Is Love

24. Any Time at All

25. She Loves You

26. Here, There and Everywhere

27. Because

28. The End

29. Cry Baby Cry

30. Eight Days a Week

31. If I Fell

32. Within You Without You

Davon ist nur eines auf “Let it Be” (Across the Universe) erschienen.
Acht Songs sind ursprünglich auf Singles veröffentlicht worden.
Vier auf “A Hard Day’s Night”.
Jeweils drei auf “Rubber Soul” und “Revolver”, “Abbey Road” und “Help”.
Zwei auf “Sergeant Pepper…”
Und je eines auf “With The Beatles”, “Beatles For Sale” und “White Album”.
Keines von “Please Please Me”.
Das entspricht auch fast meiner persönlichen Albums-Rangliste. Mit der Ausnahme, dass sich für meinen Geschmack auf “Help” zu viel Füllmaterial befindet und auf dem Weißen Album viele schönes Songs, die es lediglich nicht auf meine Top-32-Liste geschafft haben.
Von diesen Liedern sind 16 hauptsächlich von John, elf von Paul, fünf in enger Kooperation der beiden entstanden und nur drei von George.

*

492. Nacht

(Fortsetzung von Die Abenteuer Bulûkijas in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

Eine der kämpfenden Parteien reitet auf Bulûkija zu und erklärt ihm, zu einer Schar zu gehören, die jährlich auf Befehl Allahs gegen die ungläubigen Geister kämpfe. Sie leben im Weißen Land, das

fünfundsiebenzig Jahre hinter dem Berge Kâf

liege.

Ich habe diese Entfernungsangaben in Zeiteinheiten nie verstanden. In den USA macht es mich regelrecht aggressiv. Was weiß denn mein Gegenüber, wie schnell ich zu Fuß bin oder ob ich überhaupt mit dem Auto fahren will. (Zugegebenermaßen hat man oft keine Alternative zum Auto.)

Die Reiter führen Bulûkija zu ihrem König.

493. Nacht

In großen Schüsseln werden unter anderem gesottene Kamele gereicht.

Dass diese Tiere halal (wenn auch nicht koscher) sind, war mir bisher nicht klar.

Man speist zusammen, und der König erklärt Bulûkija den siebenschichtigen Aufbau der Hölle.

“O Bulûkija, Allah der Erhabene hat die Hölle in sieben Schichten geschaffen, eine über der anderen, und zwischen je zwei Schichten liegt ein Weg von tausend Jahren: Die erste Schicht hat er Dschahannam genannt, und die hat er für die Sünder unter den Gläubigen bestimmt, die ohne Reue sterben. Die zweite Schicht heißt Laẓâ, und die hat er für die Ungläubigen bestimmt. Die dritte Schicht heißt al-Dschaḥîm, und die hat er Gog und Magog zugewiesen. Die vierte heißt as-Sa‘îr, und die ist für das Volk des Teufels. Die fünfte heißt Sakar, und die ist für die, so das Gebet versäumten. Die sechste heißt el-Hatama, und die ist für die Juden und Nazarener bestimmt. Die siebente aber heißt al-Hâwija, und die hat er für die Heuchler bestimmt. Dies sind die sieben Höllenschichten.“

Die Beschreibung ist gewiss nachkoranisch, aber ich frage mich, ob sie eher dem Volksglauben zuzurechnen ist, theologisch ernstgenommen wird oder eine reine Beschreibung des Verfassers der Bulûkija-Story ist.

Es folgt eine ausschweifende Beschreibung der Genealogie des Teufels.

494. Nacht

Der König fährt fort, Bulûkija die Nachkommen des Oberteufels Iblis zu erklären, welche Satane seien.
Nach all den mythologischen Erklärungen bittet Bulûkija nun, von den Geisterreitern in die Heimat gebracht zu werden. Das geht aber nicht so einfach. Allenfalls kann ihm der König eine mit zwei gesottenen Kamelen beladenen Super-Stute überlassen, die Bulûkija an die Grenze dieses Reiches führen könne.

“Hüte dich aber, von ihr abzusteigen oder sie zu schlagen, oder ihr ins Ohr zu schreien, denn wenn du das tust, so wird sie dir den Tod bringen.”

Wären wir bei den Grimms oder irgendeinem anderen europäischen Volksmärchen, so wäre diese Aufforderung eine Garantie dafür, dass Bulûkija genau diese Regel bräche. Aber da diese Geschichte offenbar nur dem Zweck dient, Bulûkija (stellvertretend für alle Zuhörer oder Leser) mit islamischer Mythologie vertraut zu machen und nicht eine kohärente Story zu erzählen, in der der Held die Konsequenzen seines Tuns erfährt, brauchen wir uns keine Sorgen um ihn zu machen.

Nach zwei Tagen schnellen Reitens, in der die Entfernung von 70 Monaten zurückgelegt wurde, trifft er den Bruder des vorherigen Königs – Barâchija.

Meine Lieblingspodcasts, der Berg Kâf, konsequenzloses Erzählen – 489.-491. Nacht

Als 2020 die Covid-Pandemie begann, legte ich mir einige seltsame Gewohnheiten zu. Zum Beispiel begann ich Podcasts zu hören, eine Tätigkeit, die andere anscheinend im Auto ausführen. Bis dahin hatte ich eine gewisse Abneigung gegen dieses Medium. So kann ich immer noch keine Audiobücher ertragen. Das betuliche Geseiere der allseits hochgelobten Theater-Sprecher geht mir auf den Kranz. Allerdings habe ich schon seit langem immer wieder mal (vor allem beim abendlichen Wohnungsputz) exotische Talk-Radio-Stationen gehört und war damit dem, was ich heute bei Podcasts finde gar nicht so weit entfernt. Außerdem glich ich mit Podcasts den Umstand aus, dass ich mich nur noch sehr schwer auf lange Texte, also Bücher, konzentrieren konnte.
Hier meine Erfahrungen und Bewertungen nach anderthalb Jahren:
Beginnen wir mit True Crime. Ich habe keine Ahnung, warum dieses Genre ausgerechnet auf Podcasts so populär ist. Das Äquivalent – True-Crime-Zeitschriften – ist ja eher übersichtlich. Vielleicht lässt es sich ja schöner beim Zuhören gruseln.

Eingestiegen bin ich bei Stern-Crime. Der Podcast nimmt wesentlich die Perspektive der Ermittler ein. Interessante Studiogäste, etwa Kommissare, die von ihrem bedeutendsten Fall berichten oder eine Hundeführerin, die wesentlich zur Aufklärung schwerer Fälle beigetragen hat, machen den Podcast spannend. Mit den Sprechern hatten sie nicht immer ein gutes Händchen – heisere Stimmen, mädchenhaftes Gekicher bei kuriosen Fällen (einmal sogar bei der Beschreibung eines Folterzimmers, in dem junge Frauen gequält wurden) und übermäßig detailliert beschriebene Grausamkeiten haben mich Passagen oder auch ganze Folgen überspringen lassen.

Sprechen wir über Mord mit Holger Schmidt und dem ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Thomas Fischer.
Interessante Fälle, die vornehmlich aus der juristischen Perspektive diskutiert werden. Man wird aber das Gefühl nicht los, dass die beiden zusammengecastet wurden und nicht so recht miteinander warm werden. Schmidt versucht immer wieder auf die emotionale und anekdotische Ebene zu springen, was Fischer fast immer blockiert. Seine Standard-Antwort: „Dazu kann ich nichts sagen. Ich habe ja die Akten nicht gelesen.“ So sehr ich Fischer schätze, in diesem Podcast ist er eine Fehlbesetzung.

Zeit Verbrechen
Derzeit für mich der beste True Crime Podcast. Sabine Rückert und Andreas Reickert ergänzen sich perfekt. Rückert manchmal etwas emotional und in einem selbstgerechten Ton, aber sie verlässt nie die Sphäre des seriösen Journalismus. Die Experten stets kompetent und auskunftsfreudig. Höhepunkt: Die dreiteilige Serie zum Fall Kachelmann, einem Tiefpunkt der deutschen Justiz.

Es ist ein Klischee, dass man sich mehr für Geschichte interessiert, je älter man wird. Die menschlichen Ereignisse rücken quasi näher. Vom Jahr Null bis heute sind es nur 70-80 Generationen.
Mein Einstieg war hier History of Rome, dem ich aber wegen seines schweren Akzents kaum folgen kann, wenn ich gleichzeitig den Geschirrspüler ausräume.

Hervorragend der nur halbjährlich erscheinende Podcast Fall of Civilisations, mit meiner Lieblingsfolge „The Greenland Vikings“, in der geschildert wird, wie eine Kombination aus kleineren politischen Ereignissen, klimatischen Veränderungen und der europäischen Pest dazu führte, dass eine kleine aber scheinbar stabile Zivilisation in Grönland unterging.

Mein Favorit ist allerdings Geschichten aus der Geschichte mit Daniel Meßner und Richard Hemmer, die einander mit süddeutschem bzw. österreichischen Akzent unbekannte Geschichten aus der Vergangenheit berichten.

Baywatch Berlin ist auf jeden Fall als Comedy Podcast zu loben. Anderthalb Stunden improvisierte gute Laune. Dabei werden alle Ebenen des Humors gleichzeitig bedient – vom dreifachbödigen Kalauer bis zur intellektuellen Anspielung, wie bei zu den besten Zeiten der Chaussee der Enthusiasten. Klaas Heufer-Umlauf, Jakob Lundt und Thomas Schmitt kennen sich jahrelang und sind so aufeinander eingespielt, dass es praktisch keinen Leerlauf gibt. Allerdings sind mir 90 Minuten meist zu viel, so dass ich Baywatch nur noch selten höre.

Ähnlich geht es mir mit The Good Fight von Yasha Monk, der mit einer Halb-Insider-halb-Außenseiter-Perspektive die amerikanischen politischen Konfliktlinien seziert.

Und schließlich empfehle ich den Wirtschafts-Podcast Wohlstand für alle von Ole Nymoen und Wolfgang Schmitt, zwei jungen Wirtschaftswissenschaftlern, die mit außerordentlichem Fachwissen und einem schier grenzenlosen Lektürehunger aktuelle und auch zeitlose Wirtschaftsfragen aus einer dezidiert linken Perspektive behandeln. Ich vermute, man muss diese Perspektive übrigens nicht unbedingt teilen, um den Podcast zu genießen, aber das müsste mal ein Neoliberaler beantworten.

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489. Nacht

Die Schlangenkönigin kehrt zu ihrem Volk zurück und sah,

dass es sehr schlecht um sie stand; denn die Starken waren schwach geworden und die Schwachen waren gestorben. Doch als sie die Schlangen ihre Königin wieder bei sich sahen, waren sie erfreut.

Die Schlangenkönigin will ihre Geschichte schon beenden, doch Hâsib Karîm ed-Dîn besteht auf der Fortsetzung.

Scheherezâd verweist hier quasi auf sich selbst.

Nachdem die Schlangen und Hâsib Karîm ed-Dîn auf den Berg Kâf gewandert sind, um dort zu überwintern, fährt sie fort.

Affân und Bulûkija wandern mit ihren gesalbten Füßen über alle sieben Meere, bis sie an einen grünen Berg kommen, den sie besteigen. In einer Höhle finden sie ein reich verziertes Thronlager, auf dem Salomo liegt. Die Beiden beginnen nun, Beschwörungsformeln zu rezitieren, und Affân nähert sich König Salomos Leichnam. Als er jedoch den Ring von dessen Finger ziehen will, wird er vom Hauch einer Schlange verbrannt.

Unklar, ob es auch eine der bereits erwähnten Schlangen ist.

490. Nacht

Allah lässt nun den Erzengel Gabriel zu Bulûkija herabsteigen, der ihm erklärt:

“… die Zeit Mohammeds liegt noch in weiter Ferne.”

Das erklärt Einiges. Bulûkija ist also ein vorislamischer "Israelit", der aber auf wundersame Weise bereits vom Kommen des Propheten Mohammed erfahren hat.

Nun durchschreitet Bulûkija wieder nacheinander die Weltmeere, und landet auf einer Insel, die in leuchtenden Farben geschildert wird.

Ja, die Insel war ein herrliches Land, ihre Grenzen waren weit gespannt, und viel war des Schönen, das auf ihr sich befand. Es war, als ob der Inbegriff aller Schönheit sie umschlang; und das Singen ihrer Vögel war lieblicher als der Laute Klang…”

Abends sucht er Zuflucht auf einem Baum, wacht aber nachts auf, da sich die wilden Tiere aus dem Wasser und vom Land am Strand treffen.

Man könnte meinen, das habe etwas zu bedeuten, wird aber einfach nur herrlich konsequenzlos berichtet, und man hat im Verlauf der weiteren Geschichte den Eindruck, der Erzähler habe bemerkt, dass er mit diesen Schilderungen eigentlich nicht mehr viel anfangen kann. Für die folgenden sechs Inseln, werden immer weniger Features genannt.

Auf der zweiten Insel isst Bulûkija getrocknete Fische am Strand.

491. Nacht

Bulûkijas “Erlebnisse” auf den folgenden Inseln ähneln sich in ihrem Nichtvorhandensein. Schließlich erreicht er nach mehreren Monaten die siebente Insel. Und da er Hunger hat, streckt er die Hand nach einem Apfelbaum aus.

Doch plötzlich schrie eine Gestalt aus dem Baum ihn an mit den Worten: “Wenn du dich diesem Baum nahst und etwas von seiner Frucht issest, so spalte ich dich in zwei Stücke!”

Das Verbot wird mit der Ursünde Adams begründet.
Als Bulûkija dem Riesen seine Liebe zu Mohammed eröffnet, bringt dieser ihm zu essen.

Auch diese Begegnung scheint folgenlos zu bleiben.

Nach zehn Tagen der Wanderschaft erblickt er eine Staubwolke.

Als er auf jene Wolke zuschritt, hörte er ein Schreien und Schlagen und gewaltiges Tosen. (…) und er erblickte viel Volks, das auf Pferden beritten war und miteinander kämpfte; und das Blut floss um sie. (…) Bulûkija aber ward von großer Furcht gepackt.

487.-488. Nacht: Schlangen, Milch und Wein – Verwirrende Bewertungsskalen im Internet

Seit Ende des letzten Jahrhunderts haben sich Bewertungssysteme im Internet etabliert. Das wichtigste dieser Systeme war wohl das von Ebay, welches ohne Bewertung gar nicht richtig funktionieren könnte, denn das System selbst beruht vor allem auf Vertrauen: Schließe ich mit einer mir unbekannten Person einen Kaufvertrag ab oder lasse ich lieber die Finger davon? Schnell lernte man hier, dass man Bewertungen auch auf besondere Weise lesen muss: Eine 90%-Rate an positiven Bewertungen ist für einen professionellen Händler eine Katastrophe. Wenn der Verkäufer hingegen erst 10 Transaktionen hinter sich hat und die eine negative von einem Käufer stammt, der eigentlich vom Produkt selbst enttäuscht ist, so kann man ihm durchaus vertrauen. Inzwischen haben sich bei den meisten Services Fünfer-Skalen etabliert, meist mit Sternen, so wie man das von Hotels kennt. Am bekanntesten ist wahrscheinlich die von Amazon. Dort stehen die Sterne unerklärt für sich. Intuitiv versteht man, ob das Produkt etwas taugt oder nicht. Diese Intuition wird uns aber in einigen Systemen geraubt. Uber zum Beispiel lässt keine Abstufungen von “gut” zu. Die Fahrt war entweder ***** zufriedenstellend (dann kann man auch ein Kompliment abgeben). Oder sie war
**** OK, aber ich hatte ein Problem
*** Enttäuschend
** Schlecht
* Schrecklich.
Man kann also nicht zwischen guten und herausragenden Fahrern unterscheiden. Wie bewertet man nun Fahrer, die zum Beispiel hervorragend fahren, aber auf der Fahrt fünf mal rülpsen? Ich würde das nun nicht als “ich hatte ein Problem” bezeichnen, aber auch nicht als herausragend. Vielleicht hat diese aufs Negative geeichte Skala damit zu tun, dass man die Fahrer wirklich an der Kandare halten will. Tatsächlich gibt es ja auch viele Dinge, die einem die Fahrt verleiden können. Ich etwa habe erlebt: Überschreitung der Geschwindigkeitsbegrenzung, nach Rauch stinkende Karre, Video-Chat mit Freunden, Beschimpfen von Fußgängern und Radfahrern, dröhnend laute Musik, die auf die Bitte, leiser zu stellen, auf halbdröhnend gedimmt wurde, aggressiv-anbiedernder Small Talk, orientierungs- und verständnisloses Starren aufs Navi.
Auf der anderen Seite gibt es die zum Positiven verzerrte Skala des Lektüre-Sozialnetzwerks Goodreads.
* Ich mochte es nicht.
** Es war OK.
*** Ich mochte es.
**** Ich mochte es sehr.
***** Es war toll.
Mit dieser Abstufung haben anscheinend viele Nutzer ein Problem. Ein Roman lässt sich zum Beispiel nicht vernünftig einordnen, wenn die Story völlig wirr und grottig war, die Sprache aber faszinierte (oder umgekehrt). Nein, das Buch war dann nicht “OK”, aber eben auch nicht so grauenvoll wie, sagen wir “Mein Kampf”. In der Folge wurschtelt sich jeder sein eigenes Verständnis der Skala zurecht, und man liest die Mini-Rezensionen, wenn man Genaueres erfahren will.

*

(Fortsetzung von Die Abenteuer Bulûkijas in Die Geschichte der Schlangenkönigin)

487. Nacht

Die Schlangen sagen, sie seien von Allah als Strafe für die Ungläubigen erschaffen worden und kämen direkt aus der Hölle. Sie gehörten zu den kleinsten, denn nur sie könnten bei Vulkanausbrüchen ausgespien werden.

“Woher kennt ihr Mohammed – Allah segne ihn und gebe ihm Heil! – ?”
Sie erwiderten: “O Bulûkija, der Name Mohammeds steht am Tore des Paradieses geschrieben; und wäre er nicht, so hätte Allah weder die Geschöpfe noch das Paradies noch die Hölle, weder Himmel noch Erde geschaffen.”

Zu behaupten, dass diese Antwort einige Fragen aufwirft, wäre eine Untertreibung. War Mohammed vor den Geschöpfen da? Wenn nicht, warum hat sich Allah dann Zeit gelassen mit der Schöpfung des Grundes aller Schöpfungen? usw.

Bulûkijas Liebe zu Mohammed wächst, und so reist er rasch mit dem Schiff weiter, kommt in ein anderes Land und trifft dort erneut auf Schlangen, unter ihnen die Schlangenkönigin.

Aha. Zwei verschiedene Schlangenvölker.

Die Schlangenkönigin bittet Bulûkija, dem Propheten einen schönen Gruß auszurichten.

Das kann man dem Propheten kaum übelnehmen. Ich meine, wer wäre nicht gern mit einer Schlangenkönigin befreundet.

Bulûkija reist weiter nach Jerusalem und trifft dort den Gelehrten Affân, der Bulûkija vom Siegelring Salomo berichtet, der einem helfen könne, die Tiere, Menschen und Geister sich untertan zu machen.

488. Nacht

Da aber Salomon an einem für Schiffe entfernten Ort begraben sei, könne man ihn nicht ohne weiteres erreichen. Es sei denn, man bestreiche sich die Füße mit einem Kräuterextrakt.
Doch könne man dieses Kraut nur gewinnen, wenn man die Schlangenkönigin bei sich habe.
Nachdem Bulûkija auch seine Geschichte berichtet, begeben die beiden sich in das Land der Schlangenkönigin, die sie mit einem Köder aus zwei Schalen mit Milch und Wein in einen Käfig locken.

Ab hier erzählt die Schlangenkönigin von sich in der dritten Person.

Als sie aufwacht, empört sie sich:

“Ist das der Lohn derer, die den Menschenkindern kein Leid antun?”

Bulûkija beschwichtigt sie, und so führt die Schlangenkönigin die beiden zum Berg, wo die Zauberkräuter wachsen. Sie finden das Kraut mit der gewünschten Eigenschaft und reiben sich die Füße ein. Sie glauben sich dem Ziel schon nahe, als die Schlangenkönigin ihnen die Hoffnung raubt:

“weil Allah, der Erhabene, jenen Ring dem König Salomo als Geschenk verlieh und ihn allein dadurch ausgezeichnet hat, da er zu ihm sprach: ‘O Herr, gib mir ein Königreich, wie es keiner nach mir besitzen soll, denn du bist der Allspender!’ Wie sollte jener Ring an euch kommen!”

Die Schlangenkönigin bezieht sich hier auf den Koran 38.34-35

Als sie diese Worte von ihr vernommen hatten, kam ihnen bittere Reue, und sie gingen ihrer Wege.

 

480.-486. Nacht – Throw Down a Well Trope – Pioniere voran

Wachte heute morgen mit zwei Fragen zu Filmen auf:

  1. Nachdem Chris in Get Out das Anwesen der Armitages mit Hilfe seines Freundes verlässt, sind sämtliche Bewohner tot. Sämtliche Bewohner, aber eben nicht alle Anwesenden. Jim Hudson, der blinde Galerist, könnte noch am Leben sein. “Könnte”, da sich die OP-Liege entzündet hat, was nahelegt, dass er bei lebendigem Leib verbrennt. Eine andere Möglichkeit aber wäre auch, dass das Feuer nicht übergreift, und der Alte Stunden später erwacht und nun mit offener Schädeldecke durch ein verlassenes Anwesen taumelt.
    So oder so fragt sich, was die Polizei, die früher oder später auf all die Leichen treffen wird, aus der Geschichte machen wird.
  2. In Pulp Fiction wird Butch von Marcellus Wallace “begnadigt”, da der ihm das Leben gerettet (oder vor Versklavung bewahrt) hat. In Butch’s Wohnung liegt aber noch die Leiche von Vince Vega, den Butch auf dem Klo erschoss. Wie reagiert Marcellus, wenn er zur Wohnung zurückkehrt und dort die Leiche eines seiner Ober-Killer findet? Wird er sich an den Deal halten? Wird er die Leiche abtransportieren lassen? (Vielleicht vom Wolf, der dem Schrotthändler einen weiteren Auftrag verschafft? Oder lässt er sie liegen und überlässt der Polizei alles weitere? Schließlich gibt es ja noch Butchs Fingerabdrücke an der Waffe, die er nur oberflächlich gereinigt hat. Auf jeden Fall kann man sich kaum vorstellen, dass Butch und Fabienne ein sorgloses Leben führen werden, zumal er auch Zeds Chopper gestohlen hat, den er wahrscheinlich am Flughafen stehenlassen wird. Überwachungskamera, ick hör dir trapsen.

*

480. Nacht

(Fortsetzung der Geschichte der Schlangenkönigin)

Nachdem der griechische Weise seine Frau begattet hat, begibt er sich auf eine Schiffsfahrt, kann sich auf eine Planke retten, notiert dort auf fünf Seiten einige Wörter und reist dann nach Hause, um diese Seiten in einer Kiste zu verstauen und seiner Frau mitzuteilen, dass er bald stürbe, diese Zettel aber das Erbe an seinen Sohn sein soll.

Woher er weiß, dass es ein Sohn wird und ob er seiner Frau auch etwas vererbt, bleibt unklar.

Der Weise stirbt. Die Frau lässt für ihren Sohn, den sie Hâsib Karîm ed-Dîn nennt, ein Horoskop erstellen, das ihm Gefahr in jungen Jahren und mögliche Kenntnis der Wissenschaft prophezeit. Doch der Sohn taugt weder in der Schule noch in der Ausbildung etwas, und so nehmen ihn die Holzhauer mit zur Arbeit. Als diese eine Tages in ein Gewitter geraten, finden sie Zuflucht in einer Höhle. Hâsib Karîm ed-Dîn setzt sich etwas abseits und schlägt mit seiner Axt wie in Gedanken auf den Boden. Dabei erklingt ein hohles Geräusch, als schlüge er auf eine Platte.

484. Nacht

Hâsib Karîm ed-Dîn und seine Gefährten entdecken unter der Platte eine Zisterne voller Honig. Sie beschließen, den Honig zu sammeln und in der Stadt zu verkaufen, während Hâsib Karîm ed-Dîn Wache halten soll. Als die Zisterne fast leer ist, entscheiden sie heimlich, ihn bei der letzten Sammlung in der Zisterne zurückzulassen.

Wenn man die Trope des Zurücklassens im Loch (Josef und seine Brüder (Moses1), Das Blaue Licht (Grimms Märchen) usw.) kennt, kann man erahnen, dass nun das große Glück auf unseren Helden wartet. Und so geschieht es auch.

Die Holzfäller verkaufen den Honig, erzählen der Mutter von Hâsib Karîm ed-Dîn, er sei von einem Wolf gefressen worden;

und sie verbrachten ihre Tage mit Essen und Trinken, Lachen und Scherzen.

Das erinnert mich an die letzte Zeile der ersten Strophe von "Pioniere voran!" Vage klingt in meinem Kopf auch noch eine Verhohnepipelung dieses Liedes, die ich in einigen Ferienlagern hörte, die also eine gewisse Verbreitung gehabt haben muss.

“Wiener Würstchen voran, lasst uns vorwärtsgehn
Wiener Würstchen stimmt an, lasst die Fahnen wehn
Unsre Straße, die führt in den Suppentopf hinein
Wir sind stolz Wiener Würstchen zu sein.”

Wer mag der Dichter gewesen sein? Und wie hat sich das Spottlied über das ganze Land verbreitet. Es können eigentlich nur die Ferienlager gewesen sein.

Hâsib Karîm ed-Dîn entdeckt einen Skorpion, der durch einen Spalt gekommen sein muss. Er entdeckt den Spalt, zwängt sich hindurch und erblickt eine Vorhalle, ein gewaltiges Tor aus schwarzem Eisen, daran ein silbernes Schloss mit goldenem Schlüssel. Er spaziert hindurch und gelangt an einen See und einen Hügel aus grünem Chrysolith, auf dem ein edelsteingeschmückter Thron steht.

Es fragt sich allerdings: Wenn es in der Zisterne einen Spalt gibt, warum ist dann der Honig nicht daraus abgeflossen?

485. Nacht

Um den Thron herum zählt er zwölftausend Stühle. Davon wird er müde und schläft ein. Er wacht von einem Fauchen auf und begegnet der mit menschlichem Antlitz versehenen riesigen Schlangenkönigin und ihren Tausenden Untertanen. Die Schlangenkönigin bittet Hâsib Karîm ed-Dîn, ihr seine Geschichte erzählen, was er auch tut. Ihm solle nur Gutes widerfahren, sofern er sich auch ihre Geschichte anhört.

486. Nacht

Die erste Geschichte, die die Schlangenkönigin über sich erzählt, ist

Die Geschichte Bulûkijas

Wisse, o Hâsib, einst lebte in der Stadt Kairo ein König der Kinder Israel; und der hatte einen Sohn des Namens Bulûkija.

Ein jüdischer König in in Kairo? Bezieht sich der Erzähler hier auf die Königszeit Israels? Oder wird hier nahegelegt, Ägypten hätte einen jüdischen König gehabt?

Dieser König stirbt.

Sein Sohn Bulûkija aber ward zum Sultan über das Volk gewählt.

Es wird ja immer verrückter. Ein gewählter Sultan?

Bulûkija durchsucht nach dem Tod des Vaters das Haus und findet in einem Kästchen aus Ebenholz

einen Bericht über Mohammed – Allah segne ihn und gebe ihm Heil!

Daraufhin

ward sein Herz von Liebe zu ihm ergriffen.

Er macht die Vornehmen, Schriftgelehrten, Priester und Eremiten mit dem Buch vertraut und beschließt, seinen Vater zu exhumieren und zu verbrennen,

“weil er dies Buch vor mir verborgen und es mir nicht gezeigt hat.” (…) Das Volk aber sprach: “O König, dein Vater ist tot; jetzt ruht er in der Erde, und seine Sache ist seinem Herrn anheimgestellt. Hole ihn nicht aus seinem Grabe hervor.”

Bulûkija beschließt, fortzugehen,

bis ich mit ihm vereint werde.

Er spricht offenbar von Mohammed. Unklar aber an dieser Stelle, ob Mohammed noch lebt oder welcher Art die Vereinigung sein soll.

Bulûkija macht sich auf die Reise, betritt ein Schiff, und sie gelangen auf eine Insel.

Und nun erblickte er auf jener Insel Schlangen, die so groß waren wie Kamele und wie Palmen, die den Namen Allahs, des Allgewaltigen und Glorreichen, anriefen…

Gläubige Schlangen! Wenn der Erzähler das für erwähnenswert hält, muss man vermuten, dass sie eigentlich verwunschen sind. Wir werden sehen.

Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.

Ideologische Reflexe im Rittenhouse-Prozess / 480., 481. und 482. Nacht

Da spaziert ein pausbäckiger Siebzehnjähriger, der jünger wirkt, mit einer semi-automatischen Waffe durch die Stadt Kenosha, während um ihn herum chaotische Zustände im Zuge der außer Rand und Band geratenen BLM-Proteste herrschen. „Streichholz und Benzinkanister“, sang damals Nena. Was kann schon schiefgehen! So einiges ging schief. Rittenhouse, der nicht einmal aus dem Ort stammte, glaubte, sich als Sanitäter und Milizionär nützlich machen zu müssen und weitere Brandstiftungen und Plünderungen verhindern zu können. Am Ende des Abends hat Rittenhouse zwei der Protestierenden erschossen und einen dritten schwer verletzt.

Das war die Nachricht im Sommer 2020. Und noch bevor Einzelheiten bekannt waren, mussten sich erst mal alle positionieren. Die amerikanischen Konservativen entlang der von Fox-News präsentierten Erzählung: Kyle Rittenhouse wurde hier hochstilisiert nicht nur als Verteidiger einiger Läden, sondern als Verfechter der amerikanischen Freiheit – ein Held.

Für die Linken und Liberalen, zu denen so gut wie alle meine amerikanischen Facebook-Freunde zählen, stand umgehend fest – der Bursche ist ein Mörder. Ungeprüft wurden Behauptungen verbreitet: Rittenhouse sei von vornherein bewaffnet gewesen. Er sei überhaupt nur nach Kenosha gekommen, um dort Jagd auf Menschen zu machen. Die Opfer seien schwarz gewesen usw.

Dass die Wahrheit sich nicht den Glaubenssätzen politischer Fraktionen unterwirft, scheinen fast alle dabei außer Acht gelassen zu haben. Und so wurde auch der Prozess, der im November 2021 folgte, nur unter dieser Perspektive verfolgt. Auf rechten Kanälen mokierte man sich über den flamboyanten Staatsanwalt, der sich in einer Situation nicht entblödete, bei der Demonstration der von Rittenhouse getragenen Waffe mit dem Finger am Abzug auf die Jury zu zielen. Die Linken wiederum regten sich über den Richter auf, der zum Beispiel dem Staatsanwalt verbot von „Opfern“ zu sprechen, obwohl er das generell bei Tötungs-Prozessen tat, um keine Vorverurteilung zu suggerieren.

Wer sich die Mühe machte, längeren Strecken des Prozesses zu folgen, musste, kurzgefasst, zu folgendem Ergebnis kommen:

Irgendwann war Rittenhouse von seiner Gruppe getrennt und wurde von den Protestierenden als Rechter identifiziert und bedrängt. Einer von ihnen, ein Schwerkrimineller mit psychiatrischen Problemen, namens Rosenbaum konfrontierte und verfolgte Rittenhouse, der inzwischen weglief. Nachdem in der Nähe jemand einen Schuss abgefeuert hatte, jemand „Kill him!“ rief und Rosenbaum eine Tüte mit Gegenständen nach Rittenhouse warf und auf ihn zu sprang, wandte dieser die Waffe auf ihn. Rosenbaum langte nach der Waffe. Rittenhouse feuerte ab und tötete Rosenbaum. Seine Verfolger ließen zunächst von Rittenhouse ab, aber kurze Zeit später, als er schon Richtung Polizei rannte, wurde er von einigen jungen Männern verfolgt. „Schnappt ihn euch.“ Einer von ihnen schlug ihn nieder. Man trat nach ihm, schlug ihn mit dem Skateboard, griff nach seiner Waffe und richtete eine Pistole auf ihn.

Die Verteidigung im Mord-Prozess forderte den Staatsanwalt heraus: „Glauben Sie wirklich, dass Rittenhouse in dieser Situation, einfach seine Waffe hätte ablegen und die Hände erheben sollen? So ist das Leben auf der Straße nicht.“ Die Videos belegen die Gewaltbereitschaft des Mobs. Rittenhouse weicht immer wieder aus, versucht zu deeskalieren, flieht. Und erst als er sich physisch ernsthaft bedroht sieht, schießt er.

Die Bilder, die danach entstanden sind, gingen um die Welt: Ein desorientierter Jugendlicher, der eine AR 15 umgehängt hat und sich mit erhobenen Händen der Polizei nähert, aber von deren Fahrzeugen ignoriert wird.

Die deutschen Medien nehmen das Narrativ der amerikanischen Linken nur zu bereitwillig auf: Die Plünderungen und Brandschatzungen, die es in den Tagen zuvor gegeben hat, werden verharmlost oder gar nicht erst erwähnt. Die Bewaffnung der Protestierenden (darunter auch eines der Opfer) wird verharmlost oder nicht erwähnt. Die kriminelle Vorgeschichte von zwei der Opfer wird verharmlost oder nicht erwähnt.

Die politischen Reflexe rasten ein. Rittenhouse ist fraglos ein stramm rechts sozialisierter junger Mann. In der Interpretation wird daraus: Er muss ein White Supremacist sein. Der Richter hat auf einen für den Angeklagten fairen Prozess geachtet und den Staatsanwalt für die Nichtbeachtung von Verfahrensgrundsätzen gerügt: Also muss er wohl das Spiel Trumps spielen.

Die moralische Aufregung darüber, dass man einen Jugendlichen mit einer Kriegswaffe durch die Straßen einer Stadt spazieren lässt, entlädt sich in einer Wut über Jury, Richter und Staatsanwalt.

Im Krieg stirbt die Wahrheit als erstes. Im Kulturkrieg ist das nicht anders. In den USA verschärft er sich seit Jahren. Die Rittenhouse-Berichterstattung ist ein Beispiel dafür. Wir müssen aufpassen, dass dieser Krieg der ideologischen Verblendungen nicht zu sehr herüberschwappt.

480. Nacht

Fortsetzung der Geschichte vom frommen Israeliten, der sein Weib und Kinder wiederfand

Der auf die Insel verschlagene Israelit wird zum Weisen, betet zu Allah und preist ihn. Die Kunde über ihn verbreitet sich und so

kamen die Völker des Meeres heran und beteten wie er.

Unklar: Ist er Jude oder Konvertit?

Die beiden Söhne hören von diesem heiligen Mann.

Muss man da noch weiterlesen, da die Pointe schon in der Überschrift verraten wird?

 

481. Nacht

Die Frau des Israeliten war bei einem Kaufmann in Obhut gelangt, der nun ebenfalls den Weisen besucht. Die jungen Männer werden beauftragt, auf sie auf dem Schiff aufzupassen, finden heraus, dass sie Brüder sind. Und wenig später, wie angekündigt, sind alle wieder beisammen.

So waren sie nun alle wieder vereint, und alle lebten herrlich und in Freuden, bis der Tod sie abberief. Preis aber ihm, der Seinen Knecht rettet, wenn er Ihm naht, und keinen enttäuscht, der auf Ihn Hoffnung und Zuversicht gegründet hat.

Ein jeglich Ding hat seine Zeit allhier auf Erden;
Bald wird’s getilgt, o Bruder mein, bald bleibt’s bestehn.
Drum soll ein Kummer, der dich traf, dich nicht betrüben;
Im Leide können wir der Freude Zeichen sehn.

*

Die Geschichte von Abu el-Hasan ed-Darrâdsch und Abu Dscha’far dem Aussätzigen

Abu el-Hasan ed-Darrâdsch (wer immer das sein mag) berichtet diese Geschichte: Abu el-Hasan ed-Darrâdsch ist auf dem Weg nach Medina zum Grab des Propheten, und auf dem Weg bittet ihn ein Aussätzige, ihn mitzunehmen.

Ich aber sagte mir: “Ich bin den Gefährten entronnen; warum soll ich nun mit dem Aussätzigen zusammen sein.”

An den nächsten Rastplätzen trifft er ihn wieder. Der Aussätzige:

“Er tut an den Schwachen, was den Starken verwundert.”

("Er" = Allah)

Abu el-Hasan ed-Darrâdsch bittet nun den Aussätzigen, ihn begleiten zu dürfen. Dieser sträubt sich.

482. Nacht

[Die Grabstätte Mohammeds bestand ursprünglich aus Holz.]

Nun begegnet er dem Aussätzigen auf jeder weiteren Raststätte, nicht aber an seinem Ziel in Medina. Die Scheiche, denen er dort begegnet, raten ihm:

“Nimmermehr wirst du hinfort seine Begleitung gewinnen. Das war Abu Dscha’far, der Aussätzige; in seinem Namen flehen die Menschen um Regen, und das Gebet wird erhört durch seinen Segen.”

Erst auf seiner Rückkehr, bei einem Halt in Arafât, sieht er ihn wieder und bittet ihn dort, für ihn zu beten:

erstlich, Allah möge mir die Liebe zur Armut verleihen; zum zweiten, ich möchte mich nie mehr schlafen legen mit dem Bewusstsein, dass für mich gesorgt sei; und zum dritten, Er möge mir den Anblick Seines allgütigen Antlitzes gewähren.

Die ersten beiden Bitten wurden ihm gewährt. Auf die Erfüllung der dritten Bitte wartet er immer noch.

Das Konzept, jemand anderen für sich beten zu lassen, habe ich übrigens schon im Katholizismus nicht verstanden.

Es folgt die 150seitige

Geschichte von der Schlangenkönigin

Ein Weiser namens Daniel hat Schüler und Jünger, aber keinen Sohn. Er betet zu Allah, begattet seine Frau,

und sie empfing von ihm in derselben Nacht.

Hoffen wir, dass die Story nicht schneewittchenmäßig endet.

Fortsetzung der 1001-Nacht-Lektüre 478.-479. Nacht


Vor ziemlich genau fünfzehn Jahren begann ich den Lektüre-Blog. Damals hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag 20 Seiten aus den „Erzählungen aus den Tausendundein Nächten“ (Übersetzung von Enno Littmann in der sechsbändigen Insel-Ausgabe) zu lesen und launisch zu kommentieren. Meine Überlegung war die: Jeder Band umfasst ungefähr 800 Seiten, also insgesamt 4.800 Seiten insgesamt. Bei täglich 20 Seiten müsste ich nach acht Monaten fertig sein. Nach acht Monaten hatte ich aber erst drei Viertel des ersten Bandes geschafft. Ich rechnete: Wenn ich so weitermachte, würde ich beim Ende der Lektüre das stolze Alter von 43 Jahren erreicht haben. Ich musste mich also sputen.

Aber solche Mammut-Projekte, die ja nebenher zum „eigentlichen“ Schreiben, Improvisieren und Unterrichten laufen, tendieren dazu, auszulaufen. Vor allem hatte ich auch nicht beachtet, dass in den Tausendundein Nächten eine Menge „Füllmaterial“ steckt: Nicht enden wollende Abhandlungen darüber, welche Tugenden eine junge Frau haben sollte, Dutzende Anekdoten über die Gerechtigkeit Allahs, Variationen derselben Geschichte und so weiter. Mir war, als hätte jemand diese Passagen eingebaut, um meine Ausdauer zu testen. Nach und nach ließ die Energie nach.

Ich beendete:
– Die 21. Nacht am 31.1.2007
– Die 100. Nacht am 3.12.2007
– Die 200. Nacht am 12.7.2008
– Die 300. Nacht am 18.8.2010
– Die 400. Nacht am 24.10.2013
Und dann am 30.12.2014 war mit der 477. Nacht die Luft raus. Inzwischen war mein Sohn zur Welt gekommen und schon jedes Blättern in den luftigen Erzählungen waren Stunden, die ich nicht mit Kind oder mit wertvolleren Arbeitsprojekten verbrachte. Die Lektüre stand also unter enormem Rechtfertigungsvorbehalt.

Und da habe ich noch gar nicht von der Nischenhaftigkeit dieses Blogs gesprochen. Zum Zeitpunkt, da ich aufhörte, über die Tausendundein Nächte zu bloggen, hatte ich vielleicht dreißig einigermaßen regelmäßige Leser. (Dazu kamen monatlich noch zirka eintausend Zufallsleser, die durch spezielle Suchbegriffe – insbesondere „Sklaverei“, „Jungfrau“ und „Sexualität“ – auf meine Seite gestoßen waren und sie wahrscheinlich auch rasch wieder verließen.

Mittlerweile habe ich mir auch noch ein weiteres Extrem-Projekt auferlegt, das in seiner Nischenhaftigkeit vergleichbar ist: Ein auf zwölf Bände angelegtes Werk zum Thema „Improvisationstheater“, das ich im nächsten Jahr beendet haben wollte, was mich aber noch deutlich mehr Zeit kosten wird. In den ersten zwei Bänden hatte ich noch diesen sportlichen Zeitplan angegeben, auch um mich selbst unter Druck zu setzen. Das habe ich später nicht mehr getan – es wäre nur noch peinlich.

Hofstadters Gesetz besagt: Es dauert immer länger als du denkst, selbst wenn du Hofstadters Gesetz mit einberechnest.

Nebenbei musste übrigens der Blog zwei Mal umziehen, was einige Bilder zerstört und die Formatierung zerschossen hatte. Ich hatte vier verschiedene Schriftformatierungen: 1) Für meinen Text, 2) für Zitate aus dem Buch, 3) für Verse aus dem Buch und 4) für die Kommentare. Dies wiederherzustellen würde mindestens einen Monat dauern, aber wenigstens ein paar Fotos werde ich wieder hochladen.

Nun weigere ich mich aber, zu sterben, ohne die komplette Sammlung ausgelesen zu haben. Dafür sind sie doch zu gut. Und ich weiß, dass noch einige Leckerbissen auf mich warten. Also wage ich mich wieder heran und schiebe zwischen die Korrektur meines neusten („Schauspiel-Improvisation“) und dem Schreiben des folgenden Buchs („Storys Improvisieren“) wenigstens die Nächte 478 bis 719 (Ende des dritten Bandes und Band 4).
Auf geht’s.

478. Nacht

Nachdem die Christin geheilt ist, bittet sie:

“O Abu Ishâk, wann sollen wir nach dem Lande des Islam auswandern?”

Ich dachte, er hieße Sîdi Ibrahim el-Chauwâs. Sollte Abu Ishak Shami, der Sufi-Meister gemeint sein?

Und der Erzähler schloss mit den Worten: Nie habe ich einen Menschen gekannt, der fester als sie im Fasten und Gebet stand; sie harrte bei Allahs heiligem Haus sieben Jahr aus. Und nachdem sie aus diesem Leben geschieden, fand sie in mekkanischer Erde den Grabesfrieden.

Ist mit diesem heiligen Haus die Kaaba gemeint oder das Leben? Jedenfalls kann sie nicht besonders alt geworden sein.

*

Die Geschichte von dem Propheten und der göttlichen Gerechtigkeit

Einer der Propheten [welcher es ist, wird uns nicht mitgeteilt] lebt und betet auf einem Hügel und beobachtet, wie ein Reiter bei einem Brunnen absteigt, um zu trinken. Dabei lässt er versehentlich ein Goldsäckchen dort liegen und reitet fort. Es kommt ein zweiter Reiter, der das Säckchen an sich nimmt und verschwindet. Als drittes kommt ein armer Holzhauer an den Brunnen, der erste Reiter kehrt zurück, verdächtigt den Holzhauer des Raubes und tötet ihn. Der Prophet will einschreiten, doch Allah hält ihn zurück:

Kümmere du dich um deine Andacht; denn die Regierung der Welt ist nicht deine Sache! Wisse, der Vater dieses Reiters hatte tausend Dinare dem Vater des zweiten Mannes geraubt; deshalb habe ich dem Sohne über das Geld seines Vaters Macht gegeben. Der Holzhauer aber hatte den Vater dieses Reiters erschlagen; deshalb habe ich dem Sohne Gewalt gegeben, die Strafe zu vollziehen.” Nun rief der Prophet: “Es gibt keinen Gott außer dir! Dir sei Preis, du kennst die verborgenen Dinge.”

Unabhängig von dem seltsamen Dreh der Geschichte, ist doch eigentlich interessant, dass Allah an seinen Propheten appelliert, sich aus Regierungsdingen herauszuhalten.

*

479. Nacht

Es folgt ein längeres Gedicht, das mit folgenden Zeilen, die Allah in den Mund gelegt werden, endet:

O mein Knecht, von solchem Grübeln musst du deinen Sinn befrein;
Manch Geheimnis, das dem Blick entzogen, birgt die Schöpfung mein.
Drum ergib dich meinem Willen, unterwirf dich meiner Kraft;
Denn mein Wille ist es, der das Gute und das Böse schafft.

Hat hier Littmann bei Goethe geborgt oder ist die Parallele zufällig? Im Faust ist es ja der Teufel, hier Allah, der behauptet, das Gute zu schaffen.

*

Die Geschichte von dem Nilfergen und dem Heiligen

Ein Nilferge (Fährmann über den Nil) hilft einem Alten nicht nur durch die Überfahrt, sondern auch dadurch, dass er ihn beköstigt. Daraufhin bittet ihn der Alte, ihn am folgenden Tag, da er, der Alte, sterben würde, zu bestatten und demjenigen, der ihn am Stadttor anspricht, Lederflasche und Gewand zu übergeben.
Der Ferge tut dies, wundert sich aber weniger über den Tod des Alten als vielmehr darüber, dass ein “Schelm” die Habseligkeiten des Alten bekommen soll. Im Traum belehrt ihn Allah, dass alles so von ihm vorhergesehen war. Nach dem Aufwachen dichtet der Ferge spontan:

Wer liebt, darf beim Geliebten keine Wünsche haben.
Die Wahl ist dir versagt – o, dächtest du nur dran!
Will er dir gütig sein, dir deine Neigung zeigen,
Will er je von dir gehn, kein Tadel trifft ihn dann…

(Es folgen noch einige Zeilen.) Interessant ist aber, dass der im Gedicht erwähnte Geliebte natürlich Gott ist, gleichzeitig aber die Erwartungslosigkeit der Schlüssel zu jeder Liebes-Beziehung ist.

*
Die Geschichte von dem frommen Israeliten, der Weib und Kinder wiederfand

Wie die Lobesgeschichten über Israeliten ihren Weg in die Erzählungen, die ja nun gar nicht frei von Antijudaismus sind, gefunden haben, konnte ich nicht herausfinden.

Einem Juden, dessen Vater ihm auf dem Sterbebett bittet, nie bei Gott zu schwören, verliert seine materielle Habe, als angebliche Gläubiger seines verstorbenen Vaters ihn bis aufs Blut aussaugen. Ihm bleibt nichts übrig, als mit Weib und Söhnen zu fliehen, was mit einem recht hübschen Gedicht kommentiert wird:

O der du aus der Heimat fliehst aus Furcht vor Feindschaft:
Wer flüchtet, dem wird oft ein rasches Glück zuteil.
Sei nicht betrübt ob der Verbannung; oftmals findet
Der Fremdling, weit entfernt von seinem Heim, das Heil.
Denn müssten alle Perlen in den Muscheln wohnen,
So wäre ihre Stätte nicht in Königskronen.

Das Schiff aber geht unter, aber Vater, Mutter und die Söhne überleben und werden auf Planken in jeweils unterschiedliche Länder getrieben.

 

 

Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer

Beim parallelen Lesen von drei Büchern hat schließlich Allende ihre Konkurrentinnen Kathrin Passig und Camille Paglia überholt. Es war genau das Buch, was ich eben gebraucht habe. Vielleicht wäre es schon 2020 genau die richtige Corona-Lektüre gewesen: Draußen der schlimmste Schneesturm in New York, und drinnen finden drei gebrochene Menschen zueinander und entdecken ihre vernarbten Formen der Liebe.
Allende gelingt es, mit einer seltsam formalen Beschränkung, nämlich den Fokus auf drei Protagonisten zu richten, gleichzeitig ein kulturelles Panorama zu entfalten und dabei die psychischen Brüche zu beschreiben.
Ich wusste, dass das Ende auf unvorhersehbare Weise tröstlich sein würde. Und Allende hat mich nicht enttäuscht.

Einen Schlusspunkt setzen

Seit Ende Juni / Anfang Juli steigen in Deutschland wieder die Corona-Inzidenzen. Bei den letzten „Wellen“ folgte diesem Anstieg üblicherweise auch mit zwei bis drei Wochen Verzögerung ein Anstieg der Sterbezahlen. Dieser blieb aber diesmal aus. Seit dem vierzehnten Juli ist der Siebentage-Gleitschnitt der Sterbezahlen bei 21 gleichgeblieben. Der Grund ist nicht schwer zu erkennen: Die am meisten Gefährdeten – die Generation ab sechzig wurde prioritär durchgeimpft. Wie lange also bleiben die Einschränkungen noch bestehen?
Wenn ich mich mit Freunden unterhalte, meinen viele: „Mir macht es überhaupt nichts aus, im Supermarkt eine Maske zu tragen.“ In der Tat, diese Einschränkung ist fast vernachlässigbar. Die wirklich großen Einschränkungen finden anderswo statt: In der Schule, wo Kinder im Unterricht stundenlang Masken tragen müssen. Und dann sollen sie dort, wo eigentlich Sozialverhalten gelernt wird, nämlich in den Pausen, Abstand zu ihresgleichen halten. Wie gering soll denn die Wahrscheinlichkeit einer schweren Infektion denn noch werden, damit diese enormen physischen und psychischen Belastungen aufgehoben werden? Zum Vergleich: Im Jahr 2019 haben sich in Deutschland mehr als 2,8 Millionen Kinder unter 15 Jahren in der Schule oder in Betreuungseinrichtungen bei Unfällen verletzt.
Eine Einschränkung wird in den Diskussionen nur selten erwähnt: Nämlich das weiter andauernde Verbot von Tanzveranstaltungen. Kein Wunder, sie werden von den alten Entscheidern als nicht-prioritär, ja teilweise gar als überflüssig, allenfalls (wie in Berlin) als betroffener Wirtschaftszweig betrachtet. Denkt auch mal jemand daran, wie wichtig diese Veranstaltungen für Jugendliche und junge Erwachsene bei der Partnersuche ist? Oder auch dass Ausgelassenheit und das gezielte Entkoppeln von der Erwachsenenwelt Teil der Sozialisation sind? (Mal ganz abgesehen davon, dass Tanzen eine der schönsten Ausdrucksformen der Lebensfreude ist.) Nun ist klar, dass Corona-Infektionen in kaum einem anderen Bereich häufiger stattfinden als eben bei Partys. Aber wie lange wollen wir hier noch warten? Die Anzahl der Jahre, in denen man sich auf diese Weise austobt, sind für die meisten gering. Wieviel Zeit will man den Jugendlichen noch stehlen?
Sport, Theater, Musik, Demonstrationen, verschiedene Arbeitsbereiche – die Beschränkungen sind in enorm vielen Bereichen weiterhin spürbar. Menschen im Home-Office berichten von Vereinsamung am Arbeitsplatz. Wie lange sollen wir noch warten? Wer sich heute impfen lassen will, bekommt sehr kurzfristig einen Termin.
Wer Maske tragen will, soll Maske tragen. Für Diskotheken, Theater, sensible Arbeitsplätze usw. soll die 3G-Regelung gelten. Ansonsten sollten ab Anfang Oktober sämtliche Beschränkungen aufgehoben werden. Zwei Monate sollten reichen, damit jeder zwei Impfungen erwischt hat.
Die Beschränkung der Grundrechte stand immer unter dem Vorbehalt des Abwägens. Corona wird uns weiter begleiten, auch mit tragischen Fällen. Diese damit verbundenen Gefahren sind aber inzwischen überschaubar geworden, so wie andere Gefahren des Lebens, die wir in Kauf nehmen. Es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Einschränkung von Lebensfreude, demokratischen Grundrechten und persönlichen Freiheitsrechten.

Bücherstapel

Jahr für Jahr schaffe ich mir neue Ordnungssysteme in meiner Wohnung, die ihre eigene Dynamik entfalten und unausweichlich zur neuen Dystrophie führen. So wie neue Autobahnen zu mehr Stau führen, so entstehen hier wieder und wieder Scha-Ecken. Scha bezeichnet im Feng Shui die Bereiche der Wohnung, in denen sich die Energie staut bzw. das Chi nicht fließen kann, auf Deutsch könnte man auch einfach Dreckshaufen oder Rumpelecke sagen. Ein immer wiederkehrendes Problem des Intellektuellen ist der nicht abreißen wollende Zufluss von neuen Büchern. Gegen diesen Zustrom lässt sich kaum etwas ausrichten – man wird beschenkt, man ist neugierig und beschenkt sich selbst, man „braucht“ die Bücher für die Arbeit. Also muss man entweder immer mehr Regale anbauen oder gnadenlos ausmisten. Bei meiner letzten Buchentrümpelungs-Aktion vor knapp fünf Jahren musste etwa ein Drittel meines Belletristik-Bestandes dran glauben. Als nächstes wären wohl Sachbücher dran. (Auf E-Reader lese ich vielleicht 10-20 Prozent meiner Bücher, und zwar eher die leichteren. Ich kann mir das Gelesene anscheinend nur merken, wenn ich mich damit auch physisch auseinandersetze.)
Ein weiteres Problem besteht darin, dass ich gar nicht so viel lesen kann wie ich will. Die Corona-Zeit hätte ich eigentlich nutzen können – schließlich musste (oder konnte) ich weniger arbeiten. Aber die allgemeine leichte Verstimmung (die fast alle meine Bekannten erfasst hat), hat sich auch auf meine Leselust niedergeschlagen. Ganze fünfzehn Bücher habe ich bisher im Jahr 2019 beendet. Wenn es in dem Tempo weitergeht, müsste ich dieses Jahr noch drei schaffen. Mit etwas Glück vier, wenn ich mich an die angefangenen halte.
Auf meinem Stapel, den ich, als ich ihn angefangen hatte, auf drei Bücher begrenzen wollte liegen nun, in drei Sub-Stapel unterteilt:
Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur“ –ausgelesen, die Anstreichungen aber noch nicht exzerpiert
Lutz Seiler: „Stern 111“ – ausgelesen, zum Weiterverkauf abgelegt.
Thomas Mann: „Tonio Kröger“ – im März 2018 angefangen, kurz beiseitegelegt und aus unbekanntem Grund nicht weitergelesen.
Botho Strauß: „Der Park“ – Anfang des Jahres hatte ich mit großer Freude ein paar Stücke von Strauß gelesen. Dieses sollte folgen.
„Sin und Form. Juli/August 2020“. Die einzige Zeitschrift auf diesem Stapel. Wollte noch den herrlichen Artikel „Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur der DDR“ von Ulrike Köpp rezensieren.
Eva Strittmatter: „Sämtliche Gedichte“ – Am 20.10. letztmalig darin gelesen und „Mondschnee…“ fast beendet. Fast, wegen Übersättigung an Kreuzreimen.
Daniela Dahn „Spitzenzeit“. Aus einem Mitnehm-Stapel zum ruhigen Inspizieren herausgefischt. Noch nicht zum ruhigen Inspizieren gekommen.
Gustave Flaubert: „Drei Erzählungen“. Letztmalig am 22.11.2019 darin gelesen. Müsste man eigentlich auf dem E-Book-Reader lesen. Die Broschur ist schon völlig verwurschtelt.
John Cleese: „Creativity“. Am 12.9.2020 kurz vorm Schlafengehen reingeschaut habe. Dermaßen schmales Buch, dass ich glaubte, es en passant lesen zu können. Hätte ich vielleicht auch getan, wenn es nicht von anderen Büchern begraben worden wäre.
Malte Heynen: „Raubzug der Banken“. Irgendwann im Oktober durchgeblättert und Lektüre auf „Irgendwann demnächst“ festgelegt.
Alfred Lichtenstein: „Dichtungen“. Letztmalig wahrscheinlich Anfang dieses Jahres als Guten-Nacht-Lektüre in der Hand gehabt. Ist zu einem meiner Lieblingsdichter geworden. Um die Prosa allerdings habe ich mich bisher noch gedrückt.
Sjöwall/Wahlöö: „Der Mann auf dem Balkon“. Anfang der 90er ein Bibliotheksexemplar mit viel Freude gelesen. Jetzt in einer Ramschkiste auf der Straße gefunden und mich nicht mehr erinnert, um was es ging. Darin findet sich die handschriftliche Widmung „Für Doro. Ein Nikolausbuch zusammen mit dem Kartengeheimnis und kurz nach Bulgakow geschenkt von Johannes in der Nacht vom 5. zum 6.12.1998.“ Ich kann nicht glauben, dass Doro und Johannes noch viel miteinander zu tun haben.
Wolfgang Herrndorf: „Stimmen“. Kleines, hübsches Buch, das ich in viel zu kleinen Schritten gelesen habe. Letztmalig am 4.8.2020
Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“. Der Vollständigkeit halber gekauft. Noch nicht reingelesen.
James Joyce: „Ulysses“. Jährlicher Versuch, über die ersten 30 Seiten hinauszukommen, die ich jedem Buch zubillige. Meistens gebe ich müde auf. So auch in diesem Oktober.
Norman Fischer: „Unseren Platz einnehmen.“ Im Februar 2017 gekauft. Ich weiß nicht mehr, warum. Seitdem wandert es von einem Stapel auf den anderen.
Matthias Kopetzki: „Überleben im Darsteller-Dschungel“. Da darin auch ein Interview mit mir vorkommt, hatte ich vor, aus Höflichkeit auch die Beiträge einiger anderer Schauspieler zu lesen. Aber ich muss mir eingestehen – daraus wird wohl nichts mehr.
Stephen Kotkin „Magnetic Mountain. Stalinism as Civilisation“. Zuletzt im März 2020 bis zur Seite 100 gelesen. Kotkin hat hier noch nicht ganz den stilistischen Schwung, wie in seiner legendären Stalin-Biographie. Daher kann ich dieses großartige Buch über Magnitogorsk nur häppchenweise genießen.
Erika Fatland: „Die Grenze. Eine Reise um Russland“. Geburtstagsgeschenk von 2019. Bin neugierig, hab es aber noch nicht einmal angefangen.
„Konturen 155-1966. Ungarische Prosa“. Am 8. April eine Geschichte daraus gelesen. Davor das letzte Mal ca. 1987.
John Rewald: „Pissarro“ Bildband einer Ausstellung mit Gemälden meines Lieblingsmalers, den ich zur Hand nehme, wenn ich mich beruhigen will.“
Ryan Holiday: „The Daily Stoic“. Habe tatsächlich ein Jahr lang täglich zu diesem Buch meditiert und hatte vor, danach von vorn zu beginnen, dann aber Ende September aufgehört, ohne aufhören zu wollen.
Matthias Sutter: „Die Entdeckung der Geduld“. Muss ein Impulskauf gewesen sein.
Dirk Stermann: „Der Hammer“. Am 20. Juni 2020 begonnen und nicht weitergelesen. Weiß nicht warum. Es fing ja gut an.
Andrea Böhm: „Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Entdeckung auf vier Kontinenten“. Stand lange Zeit auf meiner Amazon-Merkliste, bis ich es dann endlich mal bestellt habe, weil dieser Kauf „erledigt werden musste“. Nur ist mir dieses Jahr eigentlich zu trübe, als dass ich mich auf noch mehr Welt-Kummer einlassen könnte.
Susanne Hake: „Selbstmarketing für Schüchterne“. Da ich auch Lampenfiebertraining und Moderation anbiete, hat es mich interessiert, wie andere an das Thema Schüchternheit herangehen, zumal mich Selbstmarketing ungeheuer nervt.
Silke Scheuermann: „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“. Am 1. August 2020 angefangen. Dann weggelegt, obwohl es mir gefiel.
„Der Sprach-Brockhaus. Illustriertes Wörterbuch von 1948.“ Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
„Grammatik-Bildwörterbuch von 1935“. Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
Christian Thomas Müller: „Tausend Tage bei der AscheUnteroffiziere in der NVA“. Im Oktober 2020 beendet und zum Exzerpieren beiseitegelegt.
Alexander Puschkin: „Erzählungen und Anekdoten“. Dieses Jahr aus einer offenbar nie genutzten Lese-Ecke geklaut und bisher nur flüchtig darin herumgeblättert. Ich weiß aber, dass, wenn ich es jetzt ins Regal stelle, ich es nie wieder herausholen werde.
Warlam Schalamow: „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1“. Noch nicht angefangen. Ich ertrage nur ein bestimmtes Maß an Stalinismus-Lektüre pro Jahr. Mit Bordihn, Kotkin und Yakhina Guzel habe ich für 2020 schon meine Portion gekaut.
Mark Galeotti: „The Vory. Russia’s Super Mafia“. Am 13. August 2018 das letzte Mal in der Hand gehabt. Sehr interessantes Buch zur Geschichte der Oberkriminellen in Russland, aber in seinem Ausmaß an Brutalität und Aussichtslosigkeit so bedrückend, dass ich darum einen großen Bogen mache wie um einen unangenehmen aber unausweichlichen Zahnarztbesuch.
Schwarzes Notizbuch einer Schülerin, die mal an einem Musik-Impro-Kurs bei mir teilgenommen hat. Ich habe wahrscheinlich schon zwanzig Personen angeschrieben, kann aber nicht herausfinden, wem es gehört. Wegen der Gedichte und kreativen Aufzeichnungen bringe ich es aber auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen. Liedtexte einer Kabarettistin, die aber in keinem meiner Workshops war.
Elfriede Jelinek: „Ein Sportstück“ und „Macht nichts“. Zwei Dramen, die ich im Februar las und mit denen ich womöglich noch etwas vorhatte.
Drei Amerikaner, eine Österreicherin, zwei Schweden, zwei Engländer, ein Ire ein Franzose, zwei Russen, und lauter Deutsche.
Ich kenne drei der Autoren persönlich.
Mit zwei Personen habe ich vor langer Zeit in nicht-literarischen Zusammenhängen gesprochen. Ich glaube nicht, dass sie mich wiedererkennen würden.
Fünf Bücher haben mit Russland zu tun.
Ein Lyrikband.
Nicht dabei meine tatsächliche aktuelle Lektüre, die auf einem ganz anderen Stapel liegt:
Monika Maron: „Endmoräne“
Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer“
Ahmad ibn Fadlan / James E Montgomery: “Mission to the Volga”

Morgen sind wir frei

Kommunistischer Iraner nimmt Frau und Kind nach der Revolution mit in den Iran, voller Hoffnung, der Ausgang der Revolution sei offen. Am Ende gelingt es ihr gerade so, mit der Tochter zu fliehen, während der Mann inhaftiert und später im Gefängnis von den Revolutionsgarden ermordet wird.
Die große Stärke des Films ist Katrin Röver, die die Mutter spielt – ein ausgeglichener positiver Character. Dass man weder das alte Ostberlin noch das alte Teheran einfangen kann, führt zu einem Studio-Minimalismus des Films, der aber nicht einmal stören müsste. Die wenigen Außendrehs für die Iran-Szenen wurden in Spanien produziert. Für die Demonstrations-Szenen griff man auf Fernsehbilder zurück. Auch das könnte ein raffinierter Kunstgriff sein.
Aber der Film hat ein paar große Probleme: Erstens bleibt Vieles schablonenhaft und unspezifisch. Die hölzernen Dialoge gehen selten über das hinaus, was man ohnehin schon sieht. Die iranische Zeitung hat keinen Namen, die Schule der Tochter auch nicht, Stadtteile bleiben unbenannt, man weiß nicht, auf welchem Gebiet die Chemikerin überhaupt tätig ist. Irgendwann wird mal Zink in einem Reagenzglas aufgelöst, damit man sieht, dass hier wirklich chemisch gewerkelt wird. Nicht einmal der Name der iranischen Kommunistischen Partei (Tudeh) wird erwähnt. Zweitens: Fast alle Details des Films sind plot-orientiert, wenige nur erzählerisch. Wir sollen glauben, dass das Puppenhaus der Tochter ein wertvolles Geschenk sei, aber es bleibt uneingerichtet, noch gibt es Puppen darin. Am Ende hat es nur dazu gedient, Dokumente zu verstecken. Wie so vieles im Film dient das Detail dem Zweck, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben wird, Poesie zu enfalten. Und da, wo sich die Poesie entfalten soll, wird sie gleich wieder zerstört. Das Paar badet (noch in Ostdeutschland) nackt im See. Später im Zelt schenkt er ihr eine Platte des Konzertes, bei dem sie sich kennengelernt haben. Wieder bleibt unerwähnt, was für Musik das war. Nicht dass das für den Plot eine Rolle spielt, aber für den poetischen Überschuss. Drittens versalzen einem die historischen Fehler bzw. Plattheiten gehörig den Genuss. Gleich zu Beginn läuft die Tochter zuhause in kompletter Pionierkleidung herum. Ja, für einen halben Nachmittag ist mir das als Kind auch ein oder zwei Mal passiert, aus reiner Faulheit, mich umzuziehen. Aber einen ganzen Abend lang? Selbst in einem stramm kommunistischen Elternhaus wäre das kaum denkbar (und dabei werden die Eltern durchaus als DDR-kritisch gezeigt). Ich behaupte, dass der Autor/Regisseur Pourseifi dafür nicht einmal hätte recherchieren müssen, sondern nur ein bisschen genauer überlegen. Die Schallplatte, die Omid seiner Frau im Zelt überreicht, hat kein Cover. Wer soll das glauben? Den Vogel schießt Pourseifi aber in einer der letzten Szene ab, als Beate und Omid sich am Teheraner Flughafen voneinander verabschieden. Die beiden küssen sich – wie als Reminiszenz auf die intime Szene am See – inniglich auf den Mund. Das ist zu jener Zeit, als Frauen und Männer verschiedene Ausgänge am Teheraner Flughafen benutzen mussten und jede Berührung zwischen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit zumindest unter Verdacht steht, wenn nicht gar illegal ist, völlig unglaubwürdig. (Die älteren iranischen Zuschauer stöhnten bei dieser Szene voller Unbehagen auf.) Darüberhinaus verschenkt der Regisseur genau das Potential, das darin gelegen hätte, die beiden in einer Mikro-Berührung zu zeigen, eben weil wir wissen, welche Innigkeit die beiden eigentlich miteinander verbindet. Die Geschichte hätte ein größeres Budget nicht unbedingt nötig gehabt. Eine sensiblere Hand beim Inszenieren aber gewiss.

Jordan Peterson – 12 Rules for Life

Auf Jordan Peterson bin ich erst in diesem Jahr auf Youtube aufmerksam geworden. Dieser kanadische Psychologieprofessor teilt einen Großteil seiner Vorlesungen als Video. Was ihn interessant macht, ist eine große Mühe um fachliche Redlichkeit, sowie seine Fähigkeit, über Fach-Grenzen hinweg zu denken. Seine gedanklichen Ausflüge berühren politische Themen, Fragen der Lebensführung und die Schnittstellen von Biologie und Psychologie. Kürzlich teilte ich eines dieser Videos in einer riesigen Improtheater-Gruppe auf Facebook. Das Thema war eigentlich, wann man von Kunst leben könne und wann nicht. Nicht besonders kontrovers, aber für Künstler eben doch interessant, so glaubte ich. Der Sturm der Entrüstung war ungeheuer. Niemand der Kommentatoren ging auf den Inhalt des Videos ein. Vielmehr entrüsteten sie sich darüber, dass ich überhaupt etwas von Peterson gepostet hatte, einem Rechtsradikalen, so die scheinbar konsensuale Meinung. Ich war völlig perplex. Zwar war mir bewusst, dass Peterson wegen seiner anti-ideologischen Haltung zum Thema freie Meinungsäußerung und Gender Studies unter einigen Linken nicht besonders beliebt ist. Aber rechtsradikal? Viele seiner Vorträge attackieren politische Extremismen. Und so konnten oder wollten meine Kritiker auch auf keine Äußerung – sei sie schriftlich oder mündlich erfolgt – , die Petersons angeblichen Rechstradikalismus belegen könnte, verlinken. Stattdessen verwies man mich auf ideologische „Analysen“ Dritter. Interessant war, dass zwei meiner kanadischen „Facebook-Friends“ ich aus ihrer Freundesliste strichen, dafür aber fünf andere mir über Privatnachricht zu meinem „Mut“ gratulierten. Ich selber hatte das Posten des Videos gar nicht als mutig empfunden. Aber niemand von meinen Lobern hatte selbst den Mut, mich öffentlich in diesem Forum zu verteidigen. Zu sehr war das Gelände vermint, zu hoch die möglichen Kosten des Verlustes sozialen Prestiges. Die Auseinandersetzung um politische Korrektheit in Nordamerika hat inzwischen Formen angenommen, in denen es nicht mehr nur um Sprachregulierung geht, sondern um die Frage, ob man überhaupt noch kontrovers diskutieren kann. (Dabei war mir, wie gesagt, in diesem konkreten Fall nicht einmal an einer Kontroverse gelegen.) Das Gegenüber wird für nicht satisfaktionsfähig erklärt. Man ist sexistisch, rassistisch oder sonst irgendwie -istisch. Oder man hat, da man männlich ist oder „weiß“ oder sonst irgendeiner angeblich privilegierten Sozialkohorte angehört, sowieso nichts zu melden, da man strukturell verblendet sei. Diese Etikettierung hat für den, der sie vornimmt, den Vorteil, dass man sich nicht mit den Argumenten des Gegenübers auseinandersetzen muss. Bei dieser Form des Streitens beginnt man zu verstehen, wie tief die politischen Gräben in den USA wirklich sind. Als Ostdeutschem kommt mir diese Art der Schein-Argumentation natürlich bekannt vor: Wer nicht unsere Linie vertritt, ist klassenmäßig verblendet. (Im Stalin- oder Pol-Pot-System gehören diese Personen dann auch konsequenterweise ausgerottet.)
Auf diese Weise sichern sich linke Sozialwissenschaftler/innen und ihre studentische Gefolgschaft ihre liebgewordenen Dogmen ab. Und nebenbei korrumpieren sie ihre eigene Wissenschaft: Statt kritisch die Ergebnisse der eigenen Forschung zu betrachten, gilt nur noch das, was die eigenen Annahmen bestätigt. Die Soziologie fällt in diesen Bereichen auf den Stand der mittelalterlichen Scholastik zurück: Es gibt keine neuen Erkenntnisse mehr, man kann das einmal als wahr erkannte nur noch auf immer wieder neue Art bestätigen. Das trifft natürlich vor allem auf die wohl politischste Disziplin der Sozialwissenschaften zu – die Gender Studies, die sich in ihren Annahmen eines Vulgär-Konstruktivismus verbarrikadieren. Wissenschaftliche Ergebnisse aus anderen Bereichen der Soziologie, der Psychologie oder der Biologie, die diesen Annahmen widersprechen, werden geleugnet oder einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und an dieser Stelle reichen die linken Ideologen unwissentlich den rechten die Hand: Fakten zählen nicht. Es geht nur darum, ob du für oder gegen uns bist – das postfaktische Zeitalter.
Und so öffnete ich das Buch „12 Rules for Life“ von Jordan Peterson, der letztlich der Auslöser für diese ernüchternde Erfahrung war.
Die meisten der zwölf Regeln, die uns Peterson nahelegt, kann man oberflächlich gesehen, als neu formulierte Binsenweisheiten betrachten. Was also hat er uns darüber hinaus zu sagen? Petersons Idealleser ist wohl ein westlicher halb-säkularisierter junger Mensch, der Orientierung sucht, weil die Postmoderne zum Anything-goes neigt und Orientierung dadurch verweigert, dass sie die Rebellion und die Infragestellung jedes Ordnungssystems präferiert. Insofern hat das Buch durchaus eine konservative Note. Aber es wäre zu einfach, die „12 Rules“ als Anker für verlorene Konservative abzutun. Dafür ist es erstens zu modern und zweitens sind darin viel zu viele progressive Ostereier versteckt.
Peterson balanciert immer wieder aus: Regel Fünf etwa lautet: „Lass deine Kinder nichts tun, was dazu führen würde, dass du sie nicht mehr magst.“ Diese Anweisung richtet sich an Eltern, die ihre Kinder einfach machen lassen. Sie fürchten sich, Grenzen zu setzen, da das dem Kind schaden würde. Es sind diese Kinder, die es im Alter von vier Jahren noch nicht gelernt haben, dass man auf Spielplätzen die Buddelschippe des anderen Kinds nicht einfach stiehlt, dass man nicht schlägt oder tritt. Diese Kinder erfahren nicht, was es bedeutet, mit sozialen Grenzen umzugehen, sie verwahrlosen. Die Grenzen schlagen dann umso stärker in der Pubertät auf sie ein, wenn die verzweifelten Eltern plötzlich bemerken, dass das Kind dabei ist, delinquent oder süchtig zu werden. Oft sind es dieselben Eltern, die ihr Kind übermäßig beschützen: Sie tun alles, damit es sich bloß nicht wehtut. Peterson fordert hier ein Umdenken. Setze dem Kind so wenig Grenzen wie möglich, aber so viele wie nötig. Diese Grenzen betreffen die körperliche Unversehrtheit des Kindes selbst aber auch die anderer Personen und deren Eigentum. Und diese Regel korrespondiert wiederum mit der Regel Nummer 11: „Stör die Kinder nicht beim Skateboardfahren“. Das heißt, lass sie Gefahren erleben und selbst austarieren. Gib ihnen die Freiheit des Spiels und die nötige Freiheit, um selbst Verantwortung zu übernehmen.
Aber so recht kann ich mich für Petersons Buch dann doch nicht begeistern. Seine Begleit-Storys geraten viel zu lang. Sie sollen wohl einen Punkt verdeutlichen, aber letztlich verdunkeln sie oft nur, was Peterson zu sagen hat. Außerdem hat Peterson eine von seinen Vorbildern Freud und Jung übernommene epistemologische Schwäche – die Mythologie. Die Mythen, von Kain und Abel bis zu Pinocchio, dienen ihm nicht nur zur anschaulichen Illustration seiner ethischen Argumente, sie geraten ihm teilweise zur Quelle oder gar zum Beleg eines Arguments. (Diese Art des Argumentierens legt nahe, wie stark Peterson um seinen christlichen Glauben ringt.) Es bedarf genauen Lesens, um hier die Spreu vom Weizen zu trennen.
Sein stärkstes Kapitel ist für mich „Bring dein Haus in Ordnung, bevor du die Welt kritisierst.“ Es befasst sich mit dem mörderischen Nihilismus, der aus der moralischen Orientierungslosigkeit geboren wird. Die nordamerikanischen Schulmassaker stehen hier in einer Reihe mit den riesigen Gräueln des 20. Jahrhunderts. Wie kann man angesichts der haarsträubenden Ungerechtigkeiten, die einem selbst und anderen Menschen widerfahren, nicht an der Menschheit oder seinem Gott zweifeln. Kains Früchte werden von Gott verschmäht. Er weiß nicht warum, und mit seinem Brudermord tötet er nicht nur das, was er liebt, sondern er bestraft Gott – sprich die Existenz selbst. „Bring dein Haus in Ordnung“ ist daher metaphorisch als auch konkret zu verstehen: Bring Ordnung in deine Gedankenwelt, in die Welt deiner Normen und Mitmenschlichkeit, aber schaffe auch Ordnung in deiner ganz konkreten Umgebung. Finde Freude an dem, was dich umgibt. Lerne, das Unperfekte der geordneten Welt zu schätzen, bevor zu dich anschickst, sie zu kritisieren.

Deutsche Demokratische Lektionen

An meinem ersten Poetry Slam nahm ich mit neun Jahren teil. 1978 in der DDR. Um sich zum „Rezitatorenwettstreit“ der Schule zu qualifizieren, mussten erst mal zwei von unserer Lehrerin ausgesuchte Schüler ein Gedicht vortragen. Ich weiß nicht, woher ihre Laune kam, aber Frau Held entschied 1978, die Klasse über den besten Rezitator abstimmen zu lassen. Den Kindern waren die Gedichte piepegal. Und daher ich ging mit achtzig Prozent der Stimmen als Sieger hervor, da ich in der Klasse mehr Verbündete hatte als Anke. Doch nun geschah etwas Seltsames. Frau Held meinte, das sei ja alles schön und gut, aber besser vorgetragen habe ja nun mal Anke, die somit qualifiziert sei. Das war eine meiner wichtigsten Lektionen in Sachen Demokratie – nämlich, dass sie in der DDR nur eine ornamentale Floskel war.
An diese Episode musste ich denken, als ich vom Poetry Slam in Speyer las. Unter dem Motto „Zivilcourage“ sollten Jugendliche Texte vortragen, und man erhoffte sich einen Wir-sind-mehr-Gänsehaut-Effekt. Der Schuss ging nur leider nach hinten los, denn eine Teilnehmerin, die Tochter einer AfD-Bundestags-Abgeordneten begann mit: „Multikulti-Tralala, hurra die ganze Welt ist da“. Sie kam in die zweite Runde und legte nach mit „Der Neger ist kein Neger mehr“. Die Lösungen der Veranstalter für dieses Dilemma: Erst wird der Lautsprecher abgeschaltet. Dann wird sie von der Veranstaltung ausgeschlossen, da sie provozieren wolle und ihre Texte nichts mit dem Thema zu tun gehabt hätten.
Man mache sich nichts vor: Dieser Poetry Slam hatte nicht nur den Zweck, das Wir-sind-mehr-Kuschel-Gefühl herzustellen, sondern er war pädagogisch gemeint: Steht auf und zeigt Zivil-Courage. Was aber haben die vierzehnjährige Ida-Marie Müller und ihre Freundinnen bei dieser Veranstaltung gelernt? Genau das, was ihnen ihre Eltern wahrscheinlich andauernd predigen: Dass die Demokratie in Deutschland eine Farce sei bzw. von den Linken nur instrumentell eingesetzt würde. Dass Dissens nicht erwünscht ist. Dass die, die wirklich mutig sind und gegen eine Mehrheit stellen, selbst auf einer Veranstaltung, die sich Courage zum Thema macht, ausgegrenzt werden.
Und so widerwärtig die Gedichte sein mögen: Entweder du spielst Demokratie und Poetry Slam oder du spielst Diktatur, so wie Frau Held 1978 und gibst den AfD-Anhängern indirekt Recht.

Stalin – Waiting For Hitler

Stalin – Waiting For Hitler

„Stalin. Waiting For Hitler“ ist für sich genommen schon ein ungeheures Werk. 900 eng bedruckte Seiten plus einem 200 Seiten umfassenden Anhang in einer Schriftgröße, die eigentlich niemand mehr lesen kann. (Im Normaldruck würde der Umfang des Buchs sich wohl noch mal verdoppeln.) Vier Minuten habe ich pro Seite gebraucht. Dabei war das Historiker-Englisch nicht einmal das Problem. Aber konnte ich es nicht lassen, den einen oder anderen Character doch noch intensiver in der Wikipedia zu studieren. Vier Monate habe ich mir Zeit gelassen (mit einer Handvoll belletristischer Verschnaufpausen, wenn es gar zu düster wurde).
Und dabei ist dies nur der zweite Teil der umfangreichsten Stalin-Biographie, die je geschrieben wurde. (Und es ist nicht anzunehmen, dass sich noch einmal jemand diese Fleißarbeit aufbürdet.)
Im ersten Teil sahen wir, wie sich ein junger, ideologisch beseelter Mann in den Tumulten seiner Zeit im Zentrum einer Großmacht wiederfindet. Stalin weiß seine Macht zu nutzen, aber sie ist ihm nicht, wie es der populäre Mythos will, Selbstzweck. Er nutzt sie aus, weil er durch und durch Kommunist ist.
Der zweite Band beginnt mit der schonungslosen Durchsetzung der landwirtschaftlichen Kollektivierung in der Sowjetunion. Kotkin zeigt, dass wenn Stalin wirklich nur der zynische Machtmensch wäre, er dieses Unternehmen gar nicht eingegangen wäre. Denn nie wurde ein politischer Schritt mehr opponiert als diese radikale Verstaatlichung, die zu einer der größten Hungerkatastrophen des 20. Jahrhunderts führte.
Die Folgen dieser Maßnahme sind noch nicht überwunden, da fällt sein Freund Kirow einem Attentat zum Opfer. (Kotkin beweist anhand der neu zugänglichen Dokumente, dass Stalin nicht der Drahtzieher dieses Anschlags war.) Aber ähnlich wie der Reichstagsbrand für Hitler nutzt Stalin die Gelegenheit aus, um alte Rechnungen zu begleichen. Es beginnen die Jahre des Terrors. Stalin schlägt erst links zu, dann rechts, dann im „Zentrum“. Es ist in den 30er Jahren in der Sowjetunion lebensgefährlich, ein Kommunist zu sein. Und je höher man in der Machtpyramide steht, umso unwahrscheinlicher ist es, dass man das Jahrzehnt überlebt. Vom alten Politbüro überlebt Stalin allein. Von den knapp 2.000 Delegierten des „Parteitags der Sieger“ überlebte nicht einmal die Hälfte. Es gab keine gesellschaftliche Sphäre, die der Terror unberührt ließ. Fabrikdirektoren wurden bei kleineren und größeren Problemen der Sabotage bezichtigt, vom Land fliehende Bauern erschoss man kurzerhand, das Militär erlitt kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs einen enormen Aderlass, ethnische Minderheiten wurden der Spionage beschuldigt, und schließlich wendete der Terror sich gegen die eigenen Bluthunde – der NKWD brachte seine eigenen Leute um, bis auch Jagoda und Jeschow hingerichtet wurden. Über allem schwebte der Geist Trotzkis. Dieser wäre ein völlig bedeutungsloser Intellektueller geblieben, hätte ihm Stalin selbst nicht diese Wichtigkeit verliehen. Ein Trotzkist zu sein war in den 30er Jahren in der Sowjetunion ein schlimmeres Verbrechen als der Faschismus.
Kotkin theoretisiert redlicherweise kaum über das, was er nicht belegen kann. Und so bleiben auch Stalins Motive für dieses sinnlose Morden etwas im Unklaren, aber es zeichnen sich doch Konturen ab. Stalin wurde in einer Atmosphäre der Konspiration politisch sozialisiert. Die Partei selbst war konspirativ organisiert, und Russland war nach der Revolution von potentiellen Feinden umzingelt. Dazu gesellte sich bei Stalin eine Düsternis des Denkens, das noch verschärft wurde, seit sich seine Frau das Leben nahm.
Stalin hatte praktisch kaum noch ein Privatleben. Im Gegensatz zu Hitler (und erst Recht zu Mussolini) regierte er wirklich und delegierte nicht nur. Er las Bücher und Massen an Dokumenten. Selbst in sein georgisches Urlaubsdomizil ließ er sich regelmäßig Unterlagen schicken und arbeitete praktisch pausenlos. Sein Gedächtnis war phänomenal. Auf jeden Gesprächspartner, ob Künstler, Diplomat oder Flugzeugkonstrukteur stellte er sich ein. Allerdings, und dies ist die Achillesferse des Systems, ließ Stalin kaum andere Sichtweisen zu. (Die einzige Ausnahme war anscheinend Molotow.) Die Parteidiktatur entwickelte sich zum Despotismus. So konnte und wollte Stalin im Gefolge des Pakts mit Hitler nicht sehen, dass die Sowjetunion als nächstes angegriffen würde. Das weltweite Netzwerk an sowjetischen Spionen arbeitete unentwegt unter Einsatz des Lebens aller Beteiligten. Aber der, der die angemessenen Entscheidungen treffen konnte, hielt alles für Desinformation.
Kotkin schlägt, wie schon im ersten Band einen riesigen Bogen – die Ereignisse, von denen die Rede ist, haben teilweise kaum mehr mit Stalin direkt zu tun, sondern dienen eher dazu, sein Handeln und Denken einzuordnen. Darauf muss man sich einlassen. Belohnt wird man mit einer spannenden und analytisch präzisen Biographie.