37. Nacht

Scheich Ibrahim trinkt nun also mit dem Pärchen, und als ihnen der Alkohol schon völlig zu Kopf gestiegen ist, beginnen sie auch noch, sämtliche Lampen und Kerzen des Palastes anzuzünden.

Nun hatte Allah, der mächtig ist über alle Dinge, und der für jede Ursache eine Wirkung festsetzt, es so gefügt, dass der Kalif sich in ebendiesem Augenblick das Mondeslicht anschaute und durch eines der Fenster blickte, die nach der Seite des Tigris lagen.

Als er das Schloss hell erleuchtet erblickt, ruft er nach seinem Wesir Dscha’far, den er zusammenstaucht:

"Du Hund von einem Wesir, willst du mir diese Stadt Baghdad wegnehmen, ohne mir ein Wort davon zu sagen?" "Was mögen diese Worte bedeuten?", fragte Dscha’far; und der Kalif erwiderte: Wenn mir die Stadt Baghdad nicht genommen wäre, so wäre das Schloss der Bilder nicht erleuchtet…"

Ein Minister, der keine Ahnung hat, was in seinem Verantwortungsbereich geschieht, ist heutzutage bald ein Ex-Minister. Zu Haruns Zeiten bald ein toter Minister.

Und so legt er sich eine Ausrede zu: Der Scheich feiere das Beschneidungsfest seiner Söhne im Gartenpalast. Vor so viel Frömmigkeit hat auch der Kalif Ehrfurcht, und er beschließt, dem Scheich Gesellschaft zu leisten.
Dem Wesir Dscha’far geht nun die Muffe in der Frequenz des Mauseherzschlags, denn er und Masrûr der Eunuch müssen ihn – natürlich verkleidet – begleiten.
Vor dem Palast steht ein Walnussbaum, auf den der Kalif klettert, um das Fest zu beobachten, und er kommt gerade rechtzeitig, um den Scheich rezitieren zu hören:

Lass ihn kreisen, den Wein, in großen und kleinen Bechern,
Und nimm ihn aus der Hand des strahlenden Mondes, des Schenken!
Und trinke nie, ohne dass gesungen wird; denn ich schaute,
Wie selbst die Knechte pfeifen, wen sie ihre Pferde tränken.

Dass der Kalif, eine Beschneidungsfeier erwartend, ob des Trinkgelages irritiert ist, war zu erwarten. Aber er ist andererseits auch gebannt von der Schönheit des jungen Paares. Dscha’far schöpft ob dieses Vergnügens des Kalifen wieder Hoffnung für sein Leben, die der Kalif wieder zunichte macht, als das Mädchen zur Laute greift:

"Bei Allah", sagte der Kalif, "wenn dieses Mädchen schlecht singt, so lasse ich euch alle kreuzigen; doch wenn sie gut singt, werde ich ihnen verzeihen, und nur dich ans Kreuz schlagen lassen." Da rief Dscha’far: "Oh Allah, lass sie schlecht singen!" Der Kalif fragte: "Weshalb?" Und er antwortete: "Wenn du uns alle kreuzigen lässt, so leisten wir einander Gesellschaft." Da lachte der Kalif über seine Worte.

Kreuzigungen unter Harûn er-Raschîd?
Ich finde keinen Hinweis, der die bestätigt. Obwohl die Tötungsart im alten Persien entstanden und der Koran indirekt auf die Kreuzigung Jesu verweist, scheint es zur Zeit des Kalifats keine Kreuzigungen gegeben zu haben.

Dscha’far hat Glück: den Kalifen versöhnt der Galgenhumor des Ministers und der schöne Gesang des Mädchens. Währenddessen kommt ein Fischer des Wegs, der – obwohl es verboten ist – an dieser Stelle fischen will.

Da stand mit einem Male der Kalif allein dicht vor ihm. Jener erkannte ihn und rief: "He, Karîm!"

Eine höchst unwahrscheinliches Detail: Der historische Harûn er-Raschîd hat kaum je seinen Palast verlassen. Kaum vorstellbar, dass er einen solchen Fischer, dessen

Kittel aus grober Wolle, der an hunderten Stellen geflickt war und von geschwänzten Läusen wimmelte, und einen Turban, den er seit Jahren nicht mehr aufgewickelt,

persönlich kennt, und dann auch noch, um die Tarnung zu perfektionieren, seine Kleidung (von Seide ausAlexandrien und Baalbek) mit ihm tauscht.

Als Fischer verkleidet geht er nun ans Tor seines eigenen Palastes und bietet den Zechern Fische an. Nûr ed-Dîn bemängelt, dass sie noch nicht gebraten sind, und so geht der Kalif in die Hütte eines Gärtners und brät sie eigenhändig.
Dafür verwendete Zutaten: Salz, Safran, Thymian, Bananenblatt, Limonen, Fallobst, Zitronen.
Nûr ed-Dîn belohnt den verkleideten Kalifen mit drei Goldstücken, doch dieser bittet, Enîs el-Dschelîs noch einmal singen hören zu dürfen. Diese Bitte wird ihm gewährt. Der Kalif ist erfreut und Nûr ed-Dîn bietet ihm Enîs el-Dschelîs an:

"Sie ist ein Geschenk an dich."

Völlig unklar! Weshalb sollte Nûr ed-Dîn sie verschenken? Und sei es auch nur für eine Nacht! Und dann auch noch an einen verlausten Fischer!

Enîs el-Dschelîs singt abermals und diesmal ist von Trennungsschmerz im Lied die Rede. Der Kalif horcht auf und besteht darauf die ganze Story zu hören.

"O Fischer," fragte Nûr ed-Dîn, "willst du unsere Geschichte in Prosa hören oder in Versen?" Der Kalif antwortete darauf: "Prosa sind Worte nur, doch Verse sind eine Perlenschnur."

Nûr ed-Dîn das bisher längste Gedicht (32 Verse), das die bisherigen Geschehnisse zusammenfasst. Beispielvers:

Wie der Rufer auf dem Markte zum Verkaufe sie hielt feil,
Sieh, da bot ein alter Graukopf, der war schlecht und geil.

Etwas aus seiner Rolle als Fischer fallend bietet der Kalif Nûr ed-Dîn an:

"Wenn ich dir ein Schreiben an den Sultan Mohammed ibn Sulaimân ez-Zaini mitgebe, und wenn er es liest, so wird er dir keinerlei Leid antun."

36. Nacht

Günstige Winde tragen das Schiff mit Nûr ed-Dîn Alî und seiner Sklavin nach Baghdad.

Schau auf ein Schiff! Sein Anblick nimmt deine Augen gefangen.
Es überflügelt den Wind in seinem eiligen Flug.
Es gleicht dem schwebenden Vogel, den die gebreitete Schwinge
Aus dem Äther herab wohl auf das Wasser trug.

Für mich eine völlig neue Information: Dass Segelschiffe flussaufwärts fuhren.

Die Mamluken suchen vergeblich nach den beiden und brennen das Haus nieder. Der Sultan setzt ein Kopfgeld auf die beiden aus.
Unterdessen erreichen die beiden Baghdad.

Da sprach der Schiffsführer zu ihnen: "Baghdad heißt dieser Ort; es ist ein sicherer Hort. Von ihm zog er Winter mit seiner Kälte fort, doch das Frühjahr mit seinen Rosen hielt seinen Einzug dort. Die Bäume blühen all, und die Bächlein fließen zumal."

Vor seiner Zerstörung durch die Mongolen im Jahre 1258 war Baghdad eine prächtige Stadt. Bis auf kurze Unterbrechungen war es der Sitz der Kalifen. Das überaus komplexe Bewässerungssystem war einmalig, bis es bei der Einnahme der Stadt zerstört wurde. Da diese Baukunst aber nur mündlich weitergegeben wurde (und die Bevölkerung getötet oder vertrieben wurde) bzw. etwaige Dokumente vernichtet wurden, wurde Baghdad im wahrsten Sinne verwüstet. Bis heute hat man das Niveau der damaligen Bewässerung nicht wiederherstellen können.

Nûr ed-Dîn Alî zahlt dem Kapitän fünf Dinare und sie gehen über einen Platz in einen herrlichen Garten mit Bänken, um dort zu ruhen.

Oben war ein Gitterwerk aus Rohr über den ganzen Weg.

Ein Hinweis auf Bewässerungsröhren?

Die beiden legen sich auf eine Bank nieder, nicht wissend, dass dieser Garten und das darin befindliche Schloss dem Kalifen Harûn er-Raschîd gehört,

der diesen Garten und das Schloss zu besuchen und dort zu sitzen pflegte, wenn ihm die Brust beklommen war.

Der Hüter des Gartens – der alte Scheich Ibrahîm – entdeckt das schlafende Paar und hält sie für einen Freier und eine Prostituierte. Er beschließt, die beiden zu verprügeln.

So schnitt er eine grüne Palmenrute ab, trat zu ihnen hin und hob den Arm, bis man das Weiße seiner Armhöhle sah, und wollte eben zuschlagen; doch er besann sich.(…) "Es ist ein hübsches Paar, und es wäre unrecht, wenn ich sie schlüge."

Schönheit schützt einen auch hier vor Gewalt. Neuere Studien belegen übrigens, dass Lehrer hübsche Kinder bevorzugen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre: Die eigenen Eltern tun das auch. So haben mittelprächtige oder gar hässliche Kinder von vornherein schlechtere Startchancen. Allerdings bevorzugen Frauen unattraktive Männer, wenn diese einen höeren sozialen Status haben.
Zum Begriff der Palmenrute: Sie bezeichnet im Deutschen auch eine kongenitale flügelfellartige Verwachsungen zwischen Penis und Skrotum. Sonst auch ein Schlägel in der Perkussion.

Und so weckt der Scheich Nûr ed-Dîn Alî mit einer kleinen Fußmassage. Dieser erwacht und lässt sich und Enîs el-Dschelîs den Garten zeigen:

Das Tor war gewölbt wie eines Palastes Bogengang, darüber sich Wein mit Trauben von vielerlei Farben schlang: die roten glichen Rubinen, während die schwarzen wie Ebenholz schienen. Dann traten sie in eine Laube, und dort fanden sie Bäume mit Früchten, die hingen bald allein und bald zu zwein. Auf den Ästen die Vögelein sangen ihre Lieder so rein: die Nachtigall schlug ihre Weisen so lang; der Kanarienvogel füllte den Garten mit seinem Sang; der Amsel Flöten schien das eines Menschen zu sein; und der Turteltaube Gurren klang wie eines, der trunken von Wein. Die Bäume, die dichten, waren beladen mit reifen, essbaren Früchten und standen alle in doppelten Reihn: da war die Aprikose weiß wie Kampfer, eine andere mit süßem Kern, eine dritte aus Chorasân; die Pflaume war mit der Farbe der Schönheit angetan; die Weißkirsche leuchtete heller als wie ein Zahn; die Feigen sahen sich zweifarbig, rötlich und weißlich an. Und Blumen waren da, wie Perlen und Korallen aufgereiht, die Rosen beschämten durch ihre Röte die Wangen der wunderschönen Maid; die gelben Veilchen sahen aus wie Schwefel, über dem Lichter hängen zu nächtlicher Zeit; Myrthen, Levkojen, Lavendel, Anemonen, mit Wolkentränen geschmückt im Blätterkleid; es lachte das Zahngeheg der Kamille; die Narzisse schaute die Rose an mit ihrer Augen schwarzer Fülle; Bechern glichen die Limonen, goldenen Kugeln die Zitronen; die Erde war mit Blumen aller Farben wie mit einem Teppich bedeckt; der Frühling war gekommen und hatte dort alles zu frohem Leben erweckt, den Bach zum Springen, die Vögel zum Singen, den Lufthauch zum Klingen in der allermildesten Jahreszeit.

Unklare Details dieser Aufzählung:

  • Bäume in der Laube

  • weiße Aprikosen (es sei denn, die Blüten sind gemeint)

  • Aprikosen mit süßem Kern (statt Bittermandelgeschmack)

  • gelbe Veilchen


Gelbes Veilchen

Der Scheich führt nun die beiden gar ins Schloss und bietet ihnen Essen an. Nûr ed-Dîn Alî überstrapaziert die Gastfreundschaft und bestellt bei ihm noch Wein, aber der Scheich weicht zurück:

"Davor behüte mich Allah; seit dreizehn Jahren habe ich solches nicht mehr getan, denn der Prophet  – Allah segne ihn und gebe ihm Heil! – hat den verflucht, der ihn trinkt, keltert, kauft oder verkauft!"

Bislang spielte hier in jeder zweiten Geschichte Wein eine Rolle. Doch zum ersten Mal wird auf das Verbot durch den Propheten hingewiesen. (siehe z.B. Koran 5. Sure (90): O ihr, die ihr glaubt, siehe der Wein, das Spiel, die Opfersteine und die Pfeile sind ein Greuel von Satans Werk.)

Durch argumentative Tricksereien überzeugt Nûr ed-Dîn Alî den Scheich dennoch, Wein zu besorgen und am Gelage teilzunehmen. Enîs el-Dschelîs verführt ihn gar zum Trinken.

35. Nacht

Den nach diesem Vorfall um sein Leben fürchtenden Vater des Entjungferers beruhigt seine Gattin: Man möge die Sache vor dem Sultan geheim halten, dann würde ihm nichts geschehen.
Nûr ed-Dîn Alî hingegen versteckt sich aus Angst vor seinem Vater tagsüber im Garten und nachts in den Gemächern seiner Mutter. Doch nach einem Monat lauert ihm der Wesir auf

und als sein Sohn hereinkam, packte er ihn und tat, als wolle er ihm den Hals durchschneiden,

nur um sich kurz darauf mit ihm zu versöhnen.

Den König aber ließ Allah der Erhabene die Sache mit der Sklavin ganz vergessen.

Nach einem Jahr erkältet sich der Vater. Und nachdem er ein paar mittelmäßige Verse rezitiert und seinen Sohn ermahnt, Allah zu fürchten und sich der Sklavin Enîs el-Dschelîs‘ anzunehmen, stirbt er.
Nûr ed-Dîn Alî trauert sehr lange um seinen Vater, bis ihn zehn reiche befreundete Kaufmannssöhne auffordern, das Trauern sein zu lassen und es sich wieder wohlergehen zu lassen.

Er begann zu essen und Wein zu trinken, gab Gastmahl auf Gastmahl und streute seine Geschenke und Gunstbezeugungen aus.

Doch der Verwalter warnt ihn mit den Dichterworten:

Ich spare meine Gelder und bewahre sie sorglich;
Denn fürwahr, ich weiß, sie sind mir Schild und Schwert.
Würde ich sie vergeuden an den schlimmsten der Feinde,
so wendete ich mein Glück zum Unglück auf dieser Erd.
Also ess ich davon und trinke davon zur Gesundheit.
Und gebe niemandem einen Heller davon hin;
Ja, ich hüte mein Geld vor einem jeden Gesellen,
der meiner Freundschaft unwert und von niedrigem Sinn.
Das ist mir doch lieber, als dass ich zum Lumpen sage:
Leih mir einen Dirhem bis morgen, ich gebe dir fünf zurück,
und dass er sein Gesicht dann von mir wendet und umdreht
Und ich einem Hunde gleich dasteh mit betrübtem Blick.
Wie elend er geht es doch dem Menschen ohne Geld,
Wenn seine Tugend auch strahlt wie die Sonne in der Welt.

Abgesehen vom Lob des Geizes, ist dieses Gedicht auch interessant, weil es dem Geld einerseits einen Sinn zuschreibt, dieser Sinn bestünde aber im Horten und Zusammenhalten des Geldes. Von dem modernen Dreh, das Geld als Kommunikationsmittel so zu verstehen, dass es erst durch Investition und vor allem Kredit zum symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium wird, ist man hier noch weit entfernt. Und im Grunde müssen Moslems noch heute halsbrecherische Sinnverdrehungen anstellen, um die verbotenen Kredite nicht als Kredite erscheinen zu lassen. Kreditgeben kann in diesem Zusammenhang nur als Wucher, Kreditnehmen nur als törichter Leichtsinn aufgefasst werden.

Nûr ed-Dîn Alî weist den Verwalter von sich, doch schon bald tritt dessen Vorhersage ein: Nûr ed-Dîn Alî ist pleite, und seine Freunde lassen ihn nun mit fadenscheinigen Ausreden im Stich. Doch Enîs el-Dschelîs gibt ihm den Rat, sie selbst zu verkaufen und auf Allah zu vertrauen, dass er sie wieder zusammenführe.
Auf dem Basar lässt man sie für 4.500 Dinare ausrufen, in der Hoffnung 10.000 zu bekommen. Unglücklicherweise ist auch der böse Wesir el-Mu’in ibn Sâwa  anwesend, der für sich spricht:

"Was steht denn der Sohn des Chakân hier herum? Hat dieser Lümmel noch genug, um sich Sklavinnen zu kaufen?"

Doch er bemerkt, worauf die Sache hinausläuft, und bietet den genannten Preis. Keiner der anderen Händler wagt es, den Minister zu überbieten. Doch der Makler warnt Nûr ed-Dîn Alî, dass er niemals sein Geld bekommen würde, und er rät ihm zu einem Trick, den Nûr ed-Dîn Alî auch kurz danach befolgt:

Nûr ed-Dîn Alî trat an den Makler heran, riss ihm die Sklavin aus der Hand, schlug ihr ins Gesicht und rief: "Heda du Metze! Ich habe dich auf den Basar geschleppt, um mich von meinem Eid zu lösen; jetzt schere dich nach Hause und widersprich mir nicht mehr!" (…) Nun wollte der Wesir gewaltsam Hand an ihn legen. (…) Da sahen alle den Nûr ed-Dîn mit bedeutsamen Blicken an, als wollten sie sagen: "Rechne ab mit ihm!"

Tatsächlich verprügelt Nûr ed-Dîn Alî den Wesir und wirft ihn in eine Lehmgrube. Dieser klagt dem Sultan sein Leid, verrät die Geschichte des Sklavinnenerwerbs und fügt noch ein wenig Lüge hinzu:

"Doch als er meine Worte hörte, sah er mich an und schrie: ‚Du Unheilsalter! Den Juden und Christen will ich sie verkaufen, aber nicht dir!‘ ‚Ich kaufe sie nicht für mich‘, erwiderte ich, ‚ich kaufe sie für unseren Herrn, den Sultan, der so gütig gegen uns ist.‘  Als er gar diese Worte von mir hörte, füllte ihn die Wut…"

Der Sultan befiehlt vierzig schwerttragenden Männern, das Haus von Nûr ed-Dîn Alî zu plündern und ihn und seine Sklavin auf ihren Gesichtern zum Sultan zu schleifen. Doch ein Kämmerling, der schon für Nûr ed-Dîn Alîs Vater gearbeitet hatte, reitet zu ihm, um ihn zu warnen

und pochte an die Tür. Da kam Nûr ed-Dîn heraus, und als er ihn sah, erkannte er ihn und wollte ihn begrüßen; jener aber sagte: "O mein Gebieter, dies ist nicht die Zeit, um Grüße zu tauschen und Worten zu lauschen. Höre, was der Dichter sagt:

Rette dein Leben, wenn dir vor Unheil graut!
Lasse das Haus beklagen, den, der es erbaut!
Du findest schon eine Stätte an anderem Platz;
Für dein Leben findest du keinen Ersatz!"

Was mögen das für Grüße sein, die umständlicher sind als ein solches Gedicht.

Die beiden rennen aus der Stadt hinaus und finden am Ufer des Stromes ein Schiff, das zum Segeln bereit liegt und das sie besteigen. Es legt ab.

Da fragte Nûr ed-Dîn: "Wohin, o Kapitän?" Der antwortete: "Nach der Stätte des Friedens35, nach Baghdad."

Heißt das, man segelt den Tigris stromaufwärts?

مدينة السلام35

34. Nacht

Das Aussehen des Barbiers verwundert nicht nur den König, sondern auch den Leser:

Er war ein uralter Mann von über neunzig Jahren, mit dunklem Gesicht, weißem Bart und weißen Brauen, mit kleinen Ohren und langer Nase und einem Gesicht von albernem und eingebildetem Ausdruck.

Der Barbier nimmt legt den Kopf des getöteten Buckligen in seinen Schoß und lacht:

"O größter König unserer Zeit, bei deiner Huld, in dem buckligen Flunkerer ist noch Leben."

Mit einer eisernen Zange entfernt er eine Fischgräte aus des Buckligen Hals und dieser erwacht schneewittchenmäßig.

Dann lachte der König von China bis er auf den Rücken fiel, und ebenso taten es die anderen alle.

Ansteckende Ohnmacht?

An alle Beteiligten werden Ehrengewänder verliehen, der Bucklige und der Barbier werden zu Tischgenossen des Königs gemacht.

Und sie lebten das schönste und fröhlichste Leben, bis der Vernichter der Freuden und Trenner der Freunde zu ihnen kam.

Ende der gesamten Geschichte

 

Die Geschichte von Nûr ed-Dîn ‚Alî und Enîs el-Dschelîs

In Basra lebt ein König namens Mohammed ibn Sulaimân ez-Zaini, der zwei Wesire hat:

  • den guten el-Fadl ibn Chakân

  • den bösen el-Mu’in ibn Sâwa

Der gute Wesir wird beauftragt, für 10.000 Dinare dem Sultan die schönste Sklavin zu kaufen. Und tatsächlich findet er auf dem Sklavenmarkt eine solche Maid:

die war von edlem Wuchs und von schwellender Brust; ihr Blick von dunkler Gewalt, rund ihrer Wange Gestalt; ihr Leib war schmal, schwer die Hüften zumal; sie trug ihr schönstes Gewand, und süßer als Honigwasser war ihrer Lippen Rand; ihre Gestalt war ebenmäßiger als die sich neigenden Zweige und ihre Rede zarter als der Zephir des Morgens.

Außerdem ist sie bewandert in

  • Kalligraphie

  • Grammatik

  • Semantik

  • Auslegung des Korans

  • Jura

  • Theologie

  • Medizin

  • Zeitrechnung

  • Spielen der Musikinstrumente

Unklare Wissenschaft: Zeitrechnung (Vielleicht ist ja Astronomie gemeint?)

Die 10.000 Dinare decken nicht einmal die Kosten für ihre Ernährung (bestehend hauptsächlich aus Küken und Wein) und die Ehrengewänder ihrer Lehrer. Aber der

Perser, von dem nur noch wenig übrig war, den die Zeit aufbewahrt und abgenutzt hatte so manches Jahr,

überlässt sie dem Wesir trotzdem für den genannten Preis.
Damit sich die Sklavin von der Reise erholt, bevor sie zum Sultan gebracht wird, gibt man ihr ein paar Tage Zeit im Palast des guten Wesirs. Dieser warnt die Sklavin aber vor seinem umtriebigen Sohn

"Der lässt keine Jungfrau im Stadtviertel ungeschoren."

Das Wort "Ungeschoren" hat in diesem Zusammenhang einen seltsamen Klang…

Doch kaum ist der Wesir aus dem Haus, entdeckt sein Sohn Nûr ed-Dîn ‚Alî die Sklavin Enîs el-Dschelîs, scheucht die kleinen Aufpasserinnen fort,

nahm ihre Beine und legte sie sich um den Leib, und sie wand ihre Arme um seinen Hals und empfing ihn mit Küssen und Seufzern und dem Spiel der Liebe. Und er sog an ihrer Zunge, und sie an seiner, und schließlich raubte er ihr die Mädchenschaft.

Natürlich tut sie das nur in dem Glauben, Nûr ed-Dîn ‚Alî sei derjenige, für den sie gekauft wurde. Der Wesir und seine Gattin sind bei er Nachricht aus dem Häuschen und der Wesir fürchtet um seinen Hals, da der Feind el-Mu’inibnSâwa  gewiss schon auf seine Chance lauert.

33. Nacht

Der Bruder des Barbiers ergeht sich weiter in wilden Phantasien über seinen künftigen Reichtum und seine Brautnacht:

„… spricht sie zu mir: ‚Mein Gebieter, um Allahs willen, verweigere nicht, den Becher aus der Hand deiner Sklavin zu nehmen, denn siehe ich bin deine Magd!‘ Ich aber spreche nicht zu ihr, und sie bittet mich inständig, ihn doch wirklich zu trinken; und sie hält ihn mir an die Lippen. Ich aber schüttle ihr die Faust vorm Gesicht und stoße sie mit dem Fuß und mache so!“

Und da geschieht es – die gesamte Glassammlung geht zu Bruch wie in einem Laurel-und-Hardy-Film.

Aus diesem Grunde raten Anlageberater auch immer zu Diversifizierung des Kapitals.33**

Darauf, o Beherrscher der Gläubigen, schlug er sich ins Gesicht, zerriss seine Kleider33 und prügelte sich. (…) Siehe, da kam eine schöne Dame.

Man kann die Gefahr schon riechen. Ich warte noch auf die Erzählung, in der ein plötzlich auftauchende Dame wirklich Glück verheißt.

Moschusduft strömt von ihr aus.33*

Als sie den Glashändler jammern sieht, schenkt sie ihm fünfhundert Dinare, um ihn zu trösten. Kurz darauf taucht beim ein altes Weib auf, um bei ihm vorm Rak’a die religiöse Waschung vorzunehmen. Aus Dank leitet sie ihn ins Haus der Dame. Eine griechische Sklavin (!) öffnet, die Dame erscheint, und die beiden tändeln, bis sie kurz verschwinden muss. Ein riesiger schwarzer Sklave erscheint.

Da packte ihn der schwarze Mohr, zog ihm die Kleider aus und schlug ihn immerfort mit der flachen Seite seines Schwerts. Als der elende Neger meinte, es sei mit ihm zu Ende, hörte mein Bruder ihn rufen: „Wo ist das Salzweib?“

Ein Weib streut daraufhin Salz in seine Wunden, während er sich tot stellt. Das „Kellerweib“ (= die Alte) erscheint und wirft ihn

auf einen Haufen von Ermordeten.

Nach zwei Tagen flieht er, verkleidet sich als Perser, nimmt ein Schwert mit, dass er unter seinen Kleidern verbirgt und lässt sich von der Alten noch einmal in den Palast führen. Dort köpft er den Sklaven, das Salzweib und das Kellerweib. Das Mädchen hingegen berichtet, zufällig in die Fänge dieser Strolche geraten zu sein. Es zeigt ihm die Schatzkammer, deren Inhalt wohl von den Ermordeten stammt, doch als er Träger kommen lässt, um en Schatz fortzuschaffen, ist das Mädchen verschwunden. Stattdessen kommen Wachen, die ihn vor den Präfekten führen. Dieser begnadigt den Bruder, nachdem er die Geschichte erzählt, verbannt ihn aber aus der Stadt. Und auf seinem Weg fangen ihn Räuber, die ihm die Ohren abschneiden.

Das hätte nicht sein gemusst.

Des Barbiers Erzählung von seinem sechsten Bruder

Zur Orientierung

Schehrezâd
    –> Die Geschichte des Buckligen
                  –> Die Geschichte des Schneiders
                             –> Die Geschichte des Barbiers
                                          –> Des Barbiers Erzählung von seinem sechsten Bruder

Der sechste Bruder des Barbiers kam in Zeiten der Armut an das Haus eines Barmekiden, um zu betteln. Dieser bitten ihn einzutreten, und nachdem er von dessen Armut erfährt,

legte er Hand an sein Kleid, zerriss es33 und rief: „Wie! Bin ich in einer Stadt, in der dich hungert? So etwas kann ich nicht ertragen!“

Er ruft nun nach Essen, welches aber nicht erscheint. Der Bruder aber, um den Gastgeber nicht zu beleidigen, tut so, als äße er. Das ganze zieht sich über mehrere Menügänge:

  • Säuberungswasser

  • Weißbrot

  • Fleischpastete

  • Küken mit Pistazienfüllung

  • Waffeln mit Moschus und Ambra

  • Mandeln

  • Wein

Da er sich nun verspottet fühlt, spielt der Bruder, nachdem der „Wein“ serviert wurde, den Betrunkenen und schlägt ihm ins Gesicht. Der Gastgeber besitzt Humor:

„Lange habe ich die Menschen zum besten gehabt und meinen Freunden Streiche gespielt, aber nie noch habe ich einen getroffen, der Geduld und Witz genug hatte, um auf meine Launen einzugehen, außer dir.“

Er verleiht ihm ein Ehrengewand.33und macht ihn zu seinem Freund. Als er jedoch zwanzig Jahre später stirbt, erbt der Bruder zunächst alles, doch dann zieht der Sultan das Vermögen ein, und so – allen Vermögens beraubt – flieht er und wird von Beduinen überfallen, die ihm aus Ärger über mangelnde Beute die Lippen abschneiden. Dies hält aber die Gattin des Häuptlings nicht davon ab, mit ihm anzubändeln,

als plötzlich der Beduine hereintrat. Wie er meinen Bruder erblickte, schrie er ihn an: „Weh dir, verfluchter Schurke, willst du jetzt noch meine Frau verführen?“ Und er zog ein Messer hervor und schnitt meinem Bruder die Rute ab.“

Über Umwege gelangt auch dieser Bruder zu seinem Bruder, der ihn versorgt.

Ende der Geschichten der Barbierbrüder.

Der Kalif verbannt den Barbier lachend aus seiner Stadt.

(Vorher wollte er ihm noch Ehrengewänder schenken!)

Als ein neuer Kalif den Thron besteigt, kehrt er zurück und findet seine Brüder tot.

Ende der Geschichte des Barbiers

Die Gesellschaft sperrt den Barbier wegen Geschwätzigkeit ein.

***

Der König von China ist erfreut über die Geschichte des Schneiders und befiehlt, den Barbier aus seinem Verlies zu befreien.

33 Bisher an dieser Stelle unerwähnt: Das ständige Zerreißen der eigenen Kleider in Momenten der Verzweiflung, das wie ein erzählerischer Kontrast zum Verleihen von Ehrengewändern in Situationen großer Ehrbezeugung steht. Man fragt sich – ist der Wert der Kleider so gering, dass sie ständig zerrissen und verschenkt werden oder ist er umgekehrt sehr hoch, und das Zerreißen und Verschenken deshalb ein hoch dramatischer oder erhabener Akt?
Das Verschenken des Ehrengewand (Gala, Hil’a) kann als typische muslimische Tradition (wenn auch mit Ursprüngen aus vorislamischer Zeit) betrachtet werden. In den Erzählungen aus 1001 Nacht geht meist nicht die konkrete Bedeutung hervor, die sich ja im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat – reine Ehrenbezeugung, Gewand mit Schmuck und Waffen als Auszeichnung für Amtsträger, das Gewand als Amtsgewand usw. (Näheres: Springberg-Hinsen, Monika: „Die Hil’a Studien zur Geschichte des geschenkten Gewandes im islamischen Kulturkreis.“
Das Zerreißen der Kleider hingegen scheint aus der jüdischen Tradition zu stammen. Während heute viele islamische Theologen das Zerreißen der Kleider als übermäßige Trauer und Zeichen mangelnden Glaubens ansehen (angeblich verabscheute der Prophet diese Form der Trauer), ist doch festzuhalten, dass die Tradition zumindest aus dieser Ecke herrührt.

33* Moschusduft wird zu jener Zeit aus einer Drüse des Moschusochsen gewonnen. Eine goldene Nase haben sich damit die Perser verdient, an deren Reichsgrenze das arme Tier lebte, bevor es geschlachtet wurde.

33** Unser Glashändler macht aus unternehmerischer Sicht so ziemlich alles falsch, was man falsch machen kann:

  • Er setzt auf ein wenig gewinnträchtiges Produkt: Glas

  • Er setzt auf ein risikobelastetes Anlageprodukt.

  • Er diversifiziert nicht seine Anlage – umso schwerer trifft der Verlust.

32. Nacht

Der auf solch merkwürdige Weise verführte Bruder merkt nichts, selbst als die Dame zu ihm sagt:

"Nun halt dich bereit zum Lauf, ich werde auch laufen!" Darauf entkleidete sie sich ebenfalls und rief ihm zu: "Wenn du etwas willst, so folge mir." Und sie lief vor ihm her (…) mein Bruder hinter ihr her, wie ein Verrückter, überwältigt von Begier und mit stehender Rute.

Als er ihr in einen dunklen Gang folgt, tritt er auf etwas Weiches, bricht durch den Boden und landet auf dem Basar der Lederhändler. Man verspottet den Ärmsten, schlägt ihn, bindet ihn auf einen Esel und führt ihn zum Präfekten, der ihn zu hundert Peitschenhieben verurteilt.

Ich halte den Fall für wert, als schriftliches Thema in eine Strafrechtsklausur fürs erste Jura-Staatsexamen behandelt zu werden. Hat sich der bucklige Bruder strafbar gemacht? (Hat sich die Dame strafbar gemacht? Und die Alte?) Die Argumentationen möchte ich mal lesen.

Des Barbiers Erzählung von seinem dritten Bruder

Zur Orientierung

Schehrezâd
    –> Die Geschichte des Buckligen
                  –> Die Geschichte des Schneiders
                             –> Die Geschichte des Barbiers
                                          –> Des Barbiers Erzählung von seinem zweiten Bruder

Der dritte Bruder namens el-Fakîk bettelt eines Tages an der Tür eines reichen Hausherrn, der ihn zu sich in den obersten Stock bittet, um ihm dort zu sagen, dass er ihm nichts gebe. Er muss sich die Stufen allein heruntertasten, stürzt und schlägt sich dabei den Kopf auf. Mit seinen beiden blinden Kameraden trifft er sich, um das erbettelte Geld zu zählen und aufzuteilen. Aber der Hausherr war ihnen gefolgt, was sie bemerken:

"Oh ihr Muslime, ein Dieb ist unter uns gekommen, um unser Geld zu stehlen."

Der Hausherr schließt die Augen, tut so, als sei er einer von ihnen und ruft mit.

Der alte "Haltet-den-Dieb"-Trick.

Man führt sie vor den Präfekten, und jetzt wird der Betrüger wirklich perfide:

"Sieh selbst zu! Aber du wirst es nur durch Folter herausbekommen. Fang nur zuerst mit mir an und lass mich foltern, dann aber den da, meinen Anführer." (..) Und sie versetzten ihm vierhundert Schläge auf das Hinterteil. Und wie die Schläge ihn schmerzten, öffnete er das eine Auge, und als sie ihn noch kräftiger schlugen, öffnete er auch das zweite.

Nun "gesteht" er, dass sie eine Betrügerbande sei, die den Leuten das Geld raube und im eigenen Haus verstecke, dabei nennt er genau das Versteck der Blinden. Nun werden auch die Blinden geschlagen, doch wollen sie partout ihre Augen nicht öffnen, und so prügelt man sie in die Ohnmacht.
Der Barbier nimmt auch diesen Bruder bei sich auf

Eine Geschichte, die wie ein unanständiger Behindertenwitz daherkommt.

Des Barbiers Erzählung von seinem vierten Bruder

Der vierte Bruder arbeitet als Schlächter, und eines Tages kauft ein Alter Lamm bei ihm. Das tut er nun jeden Tag, und der Schlächter legt dessen Silbermünzen in eine Dose. Als er sie dann eines Tages öffnet, sind daraus lauter Papierschnipsel geworden. Daraufhin beschuldigt er den Alten, welcher ihm droht, ihn vor dem Volk bloßzustellen. Das ist dem Schlächter egal, und so behauptet der Alte, der Schlächter würde Menschenfleisch als Hammelfleisch verkaufen.

Da stürzte das Volk in den Laden meines Bruders, und alle sahen dort einen Menschen hängen, in den der Widder verwandelt war.

Der Alte schlägt ihm nun eine Auges aus, und der Emir32 verurteilt ihn zu fünfhundert Stockhieben, und für einen Teil seines Geldes kann er sich loskaufen, sonst schlüge man ihn tot.
Er zieht in eine andere Stadt, wo er als Schuhflicker arbeitet. Als eines Tages der Tross des Sultans vorbeizieht, bestaunt er diesen, doch der Sultan bekommt angesichts des Einäugigen schlechte Laune und lässt ihn kurzerhand verprügeln. Wenig später hört er wieder Pferdegetrappel, und in dem Glauben, dies seien wieder die Pferde des Sultans flieht er in einen Gang.

Doch ehe er sich versah, fielen zwei Männer über ihn her und schrieen ihn an: "Allah sei Dank! Drei Nächte lang hast du uns Ruhe und Schlaf geraubt. (…) Du spinnst Ränke, um den Herrn des Hauses zu ermorden."

Man führt ihn vor den Präfekten, der die Peitschennarben auf dem Rücken des Bruders als Indiz dafür nimmt, es hier ohnehin mit einem Kriminellen zu tun zu haben, und ihn zu hundert Geißelhieben verurteilt.

Der Barbier nimmt auch diesen Bruder bei sich auf.

Des Barbiers Erzählung von seinem fünften Bruder

Von den hundert Dirhems,32* die der fünfte Bruder geerbt hat, kauft dieser sich Glaswaren, die er zum doppelten Preis verkaufen will, davon will er wieder Glaswaren kaufen, die er zum doppelten Preis verkaufen will usw.

Das erinnert an die alten mathematischen Aufgaben: Hier könnte sie lauten: Wie oft muss der Glashändler seine Waren verkaufen, bis er sämtliche Dirhems dieser Welt besitzt?
Was einen als Leser natürlich stutzig macht, ist das Material der Waren: Glas! Das schreit ja förmlich nach einem Elefanten, der das alles kaputthaut.

Während er nun auf dem Basar auf Käufer wartet, träumt er sich bereits als reichsten Mann der Stadt, der die Tochter des Wesirs freien und in der Brautnacht demütigen will.

 

32 Bedeutung von "Emir" zu dieser Zeit: Gouverneur eines eroberten Gebiets. Scheint den hier öfters erwähnten Präfekten in der Funktion ähnlich, aber mit Vollmachten für ein größeres Gebiet. Weiteres (auch zu Emir –> Admiral) hier.

32* Zu den immer wieder erwähnten Währungen Dinar und Dirhem:

Dirhem (درهم)ist die kleinere der beiden Währungen. Sieben Dinare sind seit der Verfügung von Umar Ibn al-Khattab (580-644) zehn Dirhems wert. Die Bezeichnung kommt von der griechischen Drachme. Durch das byzantinische Reich wird sie in die arabische Welt eingeführt.
Der Dinar (دينار), heute noch in einigen arabischen Ländern sowie in Mazedonien und Serbien! verwendet, kommt von der römischen Münze Denarius.

Dirhem aus der Zeit Harun er-Raschids

 

31. Nacht

Der entsetzliche Barbier zwingt den nichtsahnenden Kadi, sein Haus zu öffnen und zu beweisen, dass er den Jüngling nicht geschlagen habe, und bringt ihn erst so in die Lage, sich verstecken zu müssen. Die Wahl fällt auf eine Kiste.

Als Kind ließ ich mich – quasi als Mutprobe – manchmal ins Klappbett meiner Eltern einsperren. Später tat ich das auch alleine, um zu testen, wie weit ich meine Klaustrophobie in Schach halten kann, und ich stellte mir vor, dass das Klappbett ein äußerst cleveres Versteck wäre, wenn mal die Einbrecher kämen (die in meiner Phantasie natürlich immer auch Mörder waren.

Der Schneider findet die Kiste,

hob sie sich auf den Kopf, da verlor ich fast die Besinnung. Dann rannte er spornstreichs davon. Weil ich nun wusste, dass er nicht von mir lassen würde, fasste ich mir ein Herz und sprang hinaus auf die Erde. Dabei brach ich mir ein Bein.

Um das Volk abzulenken wirft er Gold unters Volk, dass er für alle Fälle immer im Ärmel trägt. Dann versteckt er sich, macht sein Testament und flieht aus der Stadt. Nun trifft er seinen Unglücksbringer wieder.

***

Der Barbier verteidigt sich vor den Anwesenden, nur seine Schweigsamkeit habe dem Jüngling das Leben gerettet. Er beginnt

Die Geschichte des Barbiers

Ich lebte in Baghdad zur Zeit des damaligen Kalifen al-Mustansir-billah, des Sohnes von al-Mustadî-billâh.31

Dieser Kalif machte Jagd auf Wegelagerer, der Präfekt fängt die Bande und bringt sie auf ein Boot. Der Barbier hält das Ganze für eine lustige Ausflugsgesellschaft und wird gleich mit in Ketten gelegt. Da er jedoch Schweigen für eine Tugend hält, sagt er nichts dazu. Selbst als man den Räubern einen nach dem anderen den Kopf von den Schultern trennt, hält er den Mund, und es ist nur dem Henker zu verdanken, der die Räuber durchgezählt hat, dass er beim Köpfen des Barbiers zögert. Als er sich vor dem Kalifen für sein Schweigen rechtfertigt, amüsiert das den Beherrscher der Gläubigen und er lässt sich vom Barbier die Geschichten seiner Brüder erzählen.

Des Barbiers Erzählung von seinem ersten Bruder

Zur Orientierung

Schehrezâd
    –> Die Geschichte des Buckligen
                  –> Die Geschichte des Schneiders
                             –> Die Geschichte des Barbiers
                                          –> Des Barbiers Erzählung von seinem ersten Bruder

Der erste Bruder des Barbiers – ein Buckliger – ist ein Schneider. Eines Tages kommt eine schöne Dame an seinem Laden vorbei und lässt ihn ein Hemd schneidern. In den folgenden Tagen flirtet sie weiter mit ihm und lässt ihn auch Hosen schneidern. Als er das Gewünschte zum Gatten der Dame bringt, wirft sie ihm Blicke zu, kein Geld anzunehmen. Das Ganze ist aber eine zwischen Herrn und Dame abgekartete Sache, man hält den Schneider zum Besten, lässt ihn für umsonst Kleider nähen, immer in der Hoffnung auf ein Stelldichein mit der Dame. Ohne Geld verkommt er allerdings immer mehr. Um die Sache noch zu verschärfen, vermählt man ihn, der schon nichts mehr merkt, mit einer Sklavin. Während er auf die Vereinigung mit seiner neuen Frau in einer Mühle wartet, spannt ihn der Müller statt des Ochsen an. Zerschunden tritt er wieder vor das heimtückische Paar, die ihn verspotten:

"Allah gewähre dir ein langes Leben! Dein Antlitz sagt mir, du hast die Nacht vom Abend bis zum Morgen in Wonne und Scherzen und Kosen verbracht."

Der Schneider müsste nun, so meint man belehrt sein, doch gelingt es der Dame noch einmal, ihn zu betören. Sie bittet ihn es Nachts zu ihn, doch der Gatte "überrascht" den Schneider,

führte ihn vor den Präfekten, der ihn peitschen und auf ein Kamel setzen ließ, auf dem er durch die ganze Straße geführt wurde, während die Leute ausriefen: "Dies ist die Strafe für den, der in den Harem ehrenwerter Männer eindringt!"

***

Der Kalif will den Schweiger für diese Geschichte beschenken:

"Ich will nichts von dir nehmen, es sei denn dass ich dir zuvor erzähle, was meinen Brüdern widerfahren ist; doch glaube nicht, ich sei ein Mann vieler Worte!"

 

Des Barbiers Erzählung von seinem zweiten Bruder

Der zweite Bruder heißt Plapperer und ist gelähmt. Eines Tages spricht ihn ein altes Weib auf der Straße an, das ihm anbietet, ihn in einen Garten mit Früchten, Wasser und Mädchen zu führen. Er willigt ein, und so geschieht es auch, dass er sich einer Dame, die von Sklavinnen umringt ist, gegenüber wiederfindet. Die Mädchen lachen ausgelassen, und der Bruder bemerkt nicht, dass er es ist, über den gelacht wird. Nachdem sie ihn so eine Weile geneckt haben, ist er mit der Dame allein, die ihn bittet, sich die Augenbrauen zu färben, den Schnurrbart auszuzupfen, den Bart glatt zu rasieren und die Wangen rot zu bemalen.

Wenn man in bestimmte sexuelle Praktiken nicht eingeweiht ist, nimmt man ja erst mal so einiges ohne zu fragen hin, wenn der Lohn schon zu riechen ist.

Sie beginnt eine neckische Kissenschlacht. Und die Alte, die merkwürdigerweise immer noch da ist, muntert ihn auf:

"Sie pflegt sich im Rausche erst dann einem Manne zu ergeben, wenn sie ihre Kleider und Hosen abgelegt hat und splitternackt ist; sie wird dir befehlen, dass auch du deine Kleider ablegst und laufest, während sie vor dir herläuft, als ob sie vor dir fliehen wolle; du aber folge ihr von Ort zu Ort, bis deine Rute steht; dann wird sie sich dir ergeben."

 

 

31 Ein doppelter Widerspruch:
1. Dieser Kalif war nicht der Sohn, sondern der Urenkel von al-Mustadî-billâh.
2. Widerspruch zur Geschichte des Verwalters, die zur Zeit des Kalifen Harun er-Raschîd (768-809) spielt, während al-Mustansir-billâh 1036-1094 regierte.

30. Nacht

Eine böse Grippe verhinderte die Fortsetzung dieses Blogs.

Das Geplapper des Barbiers hält an, ohne dass er währenddessen Wesentliches seiner Arbeit leisten würde. Der Jüngling versucht alles, um ihn loszuwerden, bietet ihm Geld an, verflucht ihn in seinem Zorn. Der Barbier antwortet lächelnd mit Koran-Gleichnissen.

Aus der Mode gekommene Beschimpfung: "Du Eselsschwanz!"

Die Zeit vergeht, und die Zeit, die dem Jüngling für sein Treffen mit der Geliebten bleibt, verrinnt, je mehr ihn der Barbier zutextet und nun von ihm wissen will, wo er denn hin wolle. Der Jüngling belügt ihn und sagt, er veranstalte eine Gesellschaft bei sich zu Hause und beauftragt den Barbier mit der Besorgung von Fleisch, damit er ihn loswürde. Nun beginnt der Barbier davon zu erzählen, dass auch er eine Menge Leute kennte, die man gut zu einer Feier einladen könne, zählt sie auf und nennt ihre Vorzüge. Der Barbier riecht nun den Braten und ahnt, dass sich der Jüngling, mit einer Dame treffen will, er will ihn begleiten, um ihn vor Gefahren zu schützen.

So einen Begleiter wünscht man sich wohl bei einem Stelldichein.

Nun hat der Barbier endlich seine Arbeit getan. Es ist höchste Zeit, der Gebetsrufer hat bereits den Salâm des Freitags ausgerufen, es bleibt nur eine halbe Stunde. Der Jüngling läuft in den Palast. Doch da kommt auch schon der Kadi (القاضي) vom Gebet zurück, und man sieht auch schon den Barbier auf den Stufen hocken. Als der Kadi einen der Diener schlägt und dieser schreit, springt der Barbier auf und brüllt, man habe seinen Herrn ermordet.

"Wehe um den Ermordeten!" (…) Wie der Kadi das hörte, da schien ihm die Sache ernst, und er ergrimmte; so machte er sich auf, öffnete die Tür und sah eine große Menge; und er erstaunte und sprach: "Ihr Leute, was gibt es?" "Verfluchter! Hund! Schwein!", riefen meine Diener, "du hast unsern Herrn ermordet!"

29. Nacht

Natürlich ist es verdächtig, ein Halsband so billig zu verkaufen. Unser Jüngling wird vor den Wali gebracht und muss gestehen, dass Halsband gestohlen zu haben. Da er sich ziert, prügeln sie ein Geständnis aus ihm heraus, lieber will er wegen Diebstahls als wegen Mord verurteilt werden.

Ich habe mich immer gefragt, wie sich ein Richter fühlt, der sein Urteil auf Foltergeständnisse baut. Meint er wirklich, der Gerechtigkeit auf die Sprünge geholfen zu haben? Oder ist es für ihn einfach eine flinke Art, die Angelegenheit abschließen  zu können?

Man schlägt ihm die Hand ab und gießt siedendes Öl auf den Stumpf. Drei Tage später führt man ihn vor den Statthalter von Damaskus, es hatte sich herausgestellt, dass diesem das Halsband einmal gehört hatte. Überraschenderweise spricht dieser aber:

"Weshalb habt ihr diesem die Hand abgeschlagen? Er ist ein unglücklicher Mann, doch es ruht keine Schuld auf ihm."

Man lässt den Vorsteher des Basars kommen, der unseren Helden verleumdete und wirft ihn in den Kerker:

"Gib diesem Mannes das Blutgeld für die Hand; sonst werde ich dich hängen lassen."

Unklares Inventar: Blutgeld

Der Statthalter bittet um die wahre Geschichte:

Verkünde die Wahrheit, und möge dich auch
Die Wahrheit durch Feuer der Drohung verbrennen!

Als er eine Worte gehört hatte, schüttelte er sein Haupt, schlug mit der rechten auf die linke, legte ein Tuch über seinen Kopf und weinte.

Ein Tuch beim Weinen über den Kopf zu ziehen ist eine bemerkenswerte Handlung für einen Statthalter. Seit Helmut Kohls Abschied aus der Politik scheinen öffentlich vergossene Tränen geradezu schick geworden, auch Schröder weinte nach seinem Rückzug. Einer Frau würde öffentliches Weinen wohl eher schaden. Ich vermute aber, man darf nur weinen, wenn man es schon zu etwas gebracht hat, nicht, wenn man noch kämpfen will. Unwürdige Tränen vergoss z.B. Johannes Rau, als er die Wahl zum Bundespräsidenten gegen Roman Herzog verlor. Kein Zeichen von Verlierenkönnen.

Auch der Statthalter klärt nun sein Gegenüber auf. Die Dame, die das Unglück über ihn gebracht hatte, war des Statthalters Tochter:

"Sie hatte jedoch vom Volk von Kairo die Unzucht gelernt."

Natürlich – unzüchtig hat sich nur die Dame, nicht aber der Jüngling verhalten!

Die jüngste Tochter des Statthalter jedoch ist noch Jungfrau, da kann sie ja mit dem Jüngling vermählt werden.

***

Auch diese Geschichte behagt dem chinesischen König nicht. Und man kann nur hoffen, dass der Schneider aus den Fehlern seiner Schicksalsgefährten gelernt hat und nicht ebenfalls mit einer Slasher-Story beginnt. Wem SAW I, SAW II und SAW III nicht gefallen haben, wird sich wohl kaum für den vierten Teil erwärmen können.

Die Geschichte des Schneiders

Am Abend zuvor war der Schneider, wie schon in der 24. Nacht erwähnt, auf einer Feier gewesen. Zu dieser Feier kam ein lahmer Jüngling.

Immerhin nur lahm, nicht ohne Hand.

Der Jüngling erschrickt, als er in der Partyrunde einen Barbier sitzen sieht. Man beschwört ihn, zu erzählen, was ihn so verschreckt. Und so erzählt er:

Auch dieser Jüngling 29 war ein Erbe:

"Mein Vater (…) hinterließ mir Geld, Eunuchen und Diener… Allah aber hatte mich zu einem Hasser der Frauen gemacht.

Möglicherweise hier die erste Andeutung von Homosexualität in den 1001 Nächten.

Auf der Flucht vor einer Schar Frauen zieht er sich eines Tages zurück in eine Sackgasse, wo er ein Blumen gießendes Mädchen entdeckt, in das er sich verliebt. Er bleibt zu Hause und weint unglücklich in sich hinein. Selbst seine Sklavinnen können ihn nicht trösten. Aber eine (anscheinend aus dem Nichts auftauchende) Alte spielt Postillon d’amour. Die beiden Liebenden sind einander einig, dass sie sich treffen wollen, wenn ihr Vater am Freitag in der Moschee betet. Der Jüngling erholt sich von seiner Liebeskrankheit und kleidet sich fein. Dann lässt er einen Barbier holen, der ihn scheren soll:

"einen verständigen Burschen, der sich nicht in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen, und der mir nicht den Kopf spaltet mit seinem übermäßigen Schwätzen!"

Man mag es kaum glauben, dass dieses Laster des zweitältesten Gewerbes der Welt, ebenfalls so alt zu sein scheint wie dieses selbst.

Und tatsächlich fängt der Barbier, kaum dass er eingetroffen ist, an zu labern: Vom Propheten, von Krankheiten, er holt ein Astrolabium mit sieben Scheiben hervor
und beginnt erst mal ein bisschen mit astrologischem Geschwätz:

"Wisse, von diesem unserem Tage, der da ist ein Freitag, und zwar Freitag der zehnte Safar im sechshundertdreiundfünfzigsten Jahre nach der Hidschra des Propheten29/2 – über ihm sei herrlicher Segen und alles Heil! – und im siebentausenddreihundertzwanzigsten Jahr der alexandrinischen Zeitrechnung, dessen Tagegestirn nach den Regeln der Wissenschaft er Berechnung des Mars ist, sind verstrichen acht Grade und sechs Minuten. Nun aber trifft es sich so, dass in Konjunktion mit dem Mars Merkur steht, und das ergibt einen günstigen Augenblick für das Schneiden der Haare."

Wenn er doch nur schon angefangen hätte! In einem heute auf Radio Eins geführten Interview mit einem Soziologen gibt dieser Auskunft darüber, wie es einen regelrechten Mondboom in den letzten 20-30 Jahren gegeben habe. Haareschneiden, Wäschewaschen, Unkrautjäten, Sex, sogar medizinische Operationen richten einige danach aus. Zusammenhänge gibt es keine. Allerdings könnten diejenigen, die sich danach richten, sich schon mal subjektiv durchaus glücklicher fühlen, denn sie haben den meisten anderen Menschen voraus, dass sie überhaupt einen Plan über ihre Woche oder ihren Monat führen und nicht einfach in den Tag hinein leben.

Nachdem der Barbier dem Jüngling noch einen versteckten Wink gibt, dass ihm Unheil drohe, berichtet er nun auch noch von seinen Studien, wie sie unserem Howie in der Serie Ein Colt für alle Fälle Ehre gemacht hätte: Astrologie, Alchimie, Bedeutungslehre, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Theologie, Auslegung er Traditionen des Propheten und des Koran.
Die Höhe ist aber, dass dieser Laberkopf unter seinen Kollegen "Der würdevolle Schweiger" genannt wird.

 

 

29 Warum erfahren wir eigentlich nie die Namen unserer ich-erzählenden Helden? Möglicherweise sind diese Geschichten des Zyklus auch deshalb eher unbekannt geblieben, im Gegensatz zu Sindbad, Ali Baba, Aladdin.

29/2 Dies wäre der 20. März 1255. Ein schöner Rechner für arabische in christliche Zeitrechnung und umgekehrt hier.