Wie wo weiter

Und nun? Zurück zu den “Tausendundein Nächten”? Zum angefangenen Aladin? Wenn es nach den anfänglichen Vorsätzen gegangen wäre, hätte ich die Lektüre schon vor über einem Jahr abgeschlossen. Aber im Gegensatz zu Jochen, der sich beharrlich auch durch die zähesten Stellen von Proust kämpfte, gebe ich immer wieder schnell auf. Klar, man weiß auch, dass man in einigen Erzählungen nur Gerede oder billige Storys erwischt, die sich dann auch noch in die Länge ziehen.
“Was man angefangen hat, soll man auch beenden.” Diese großelternhafte Weisheit hockt einem natürlich im Nacken, und ich weiß, dass einige der schönsten Erzählungen erst noch kommen werden. Wozu sollte ich mich dann mit den schlechten abgequält haben?
Die Schmidt-liest-Proust-Lektüre hat natürlich viel mehr Spaß gemacht. Gerade beim Buch. Und die Parallelmontage mit den eigenen Aufzeichnungen und der Korrespondenz von vor zwei Jahren ebenfalls.
Ich hatte schon überlegt, die Tausendundein Erzählungen erst einmal völlig beiseite zu legen und mich stattdessen Luhmann oder Shakespeare zuzuwenden. Aber mit Luhmann könnte hier wohl niemand etwas anfangen, und was hätte ich schon zu Shakespeare zu sagen, was nicht jemand anders schon besser gesagt hätte?
Aber warum bräuchte man überhaupt externe Lektüre, um das Blog weiterzuführen? Haben die ersten Blogger nicht einfach nur ihre Beobachtungen beim Internetsurfen notiert. Bov tut das ja oft immer noch.
Man liest ja auch stimmungsabhängig. Nach all der Innenschau ist mir eigentlich wieder ein bisschen nach Handlung zumute. Patricia Highsmith habe ich nach zehn Seiten aus der Hand gelegt. Nun bei Konstantin Simonows “Die Lebenden und die Toten” gelandet. Ähnlich wie bei Jochen Schmidt ein Buch aus dem Regal meiner Eltern, und als Kind wunderte man sich, warum Erwachsene, die den Krieg erlebt haben, über diese schlimme Zeit auch noch lesen wollen. Die Lektüre dann schon enttäuschend, die Schwarzweißzeichnungen der Figuren grenz oft ans Lächerliche, auch in ihren Brechungen. Nach dem ersten Kapitel habe ich es schon beiseite gelegt. Und doch zieht er einen immer tiefer in den Kriegsverlauf. Man will wissen: Schafft Sinzow es denn nun nach Grodno oder ist da schon Krieg? Landet er bei der Zeitung oder an der Front? Sind sie jetzt von den Deutschen eingekesselt? Kommen sie aus dem Kessel raus? Kommt er jetzt in deutsche Kriegsgefangenschaft, womöglich gar ins KZ? Schafft er es bis nach Moskau? Halten ihn die eigenen Leute für einen Spion? Trifft er seine Frau wieder? Spielt Stalin noch eine Rolle? Bekommt er sein Parteibuch wieder? Die Erzählung wird natürlich immer grotesker. Um ihn herum sterben alle, und es ist klar, dass wir von seinem Tod erst am Ende der Trilogie lesen werden. Oder vielleicht ist die letzte Szene auf dem Soldaten-Friedhof. Und dennoch liest man immer weiter. Man will es wissen, weil man nicht dabei war.
Wieviele Seiten sollte man eigentlich einem Buch geben? Sicherlich hält man bei Empfehlungen länger durch. Dem “Namen der Rose” oder den “Satanischen Versen” gönnt man auch schon mal 50 Seiten, um dem Buch eine Chance zu geben. Aber ein Krimi sollte einen schon nach 5 Seiten hineinziehen. Stephen Kings “Shining” habe ich tatsächlich 200 Seiten weit gelesen und mich immer wieder gefragt: Wann wird es denn nun spannend. Bei “Der dunkle Turm” hat eine halbe Seite genügt, mich zu verschrecken. Aber, wie Jochen Schmidt richtig bemerkte, man muss auf spezielle Weise gestimmt sein, um sich überhaupt auf ein großes, wirklich gutes Werk einzulassen. “Hundert Jahre Einsamkeit” habe ich in der Mitte unterbrochen, und dann dauerte es ein halbes Jahr, bis ich mir die Zeit nahm, es wieder anzufangen.
Eine heikle Frage betrifft natürlich die Bücher von Kollegen: Welche liest man, welche nicht? Ich bin da sicherlich fleißiger als die meisten. Selbst die Kurzgeschichten habe ich oft noch einmal gelesen. Die CDs höre ich mir allerdings überhaupt nicht an. Ich würde nicht soweit wie Jochen gehen und behaupten, Hörbücher seien etwas für Idioten, aber das Meiste habe ich ja bereits auf der Bühne gehört. Und von hörbücherhörenden Autofahrern halte ich viel, ich bin bloß kein Autofahrer.

26.-27.1.07

Es mag so scheinen, als drücke ich mich vor dem letzten Kapitel, den letzten sieben Seiten. Nonsense. Meine Auf- und Ausräumwut nimmt beinahe überhand. Das CD-Regal schaut schon fast traurig leer. Inzwischen sammelt sich nach vier Wochen schon wieder Staub auf den leergeräumten Regalflächen. Trotzdem hält das Gefühl, sich zu befreien an. Ebay dient weiterhin als vorletztes Stadium für Dinge, die mir zum Wegschmeißen zu schade sind. Selbst wenn der Aufwand bei einigen Objekten immens ist, dafür dass man dann nur 1 Euro verdient. Neben Jazz- und Klassikplatten, Punk- und Pop-CDs sind derzeit im Angebot:

eine Wasserpfeife, die ich mir 1996 im Iran gekauft habe. Zwei Mal habe ich versucht, sie in Gang zu setzen. Amateurhaft. Und für einen Nichtraucher ist es letztlich doch nur Müll. Schlimm genug, dass so ein Gerät Jugendlichen das Gefühl vermittelt, rauchen tue nicht weh. Ich fühle mich wie Philip Morris persönlich, der sicherlich auch unter Gewissensbissen litt. Dabei rede ich mir ein, dass die Pfeife sicherlich von einem Schmerzpatienten ersteigert wird, der darauf Haschisch zur Linderung seiner Qualen inhalieren wird.
Schlittschuhe, die mir zu klein sind und die ich zwar gern aber letztlich doch falsch benutzte. Ob ich es in diesem Leben noch mal lerne?
Noch kleinere Schlittschuhe
Zwei Russenkoppel und eine Matroschka. Einen Monat lang fand ich, dass Russenkoppel schick seien. Aber einerseits besaß ich nicht die richtige Kleidung dafür, andererseits widerstrebte es mir, Armeekleidung zu tragen. (Andererseits hatte ich kein Problem damit, eine russische Gasmaskentasche als Tragetasche zu verwenden. Aber woher ich die hatte, weiß ich auch nicht mehr). Ich fand, dass Russenkoppel und Matroschka zusammengehören. Und das sehen anscheinen außer mir noch 11 weitere Leute so, die zwei Tage vor ihrem Ende diese Auktion beobachten.
Eine Zehner-Gruppenkarte für den Besuch einer Impro-Show bei Foxy Freestyle.
 Zugegebenermaßen hat das nicht viel mit dem Ausmisten meiner Wohnung zu tun, sondern eher damit, dass wir eine am 13. März in der Alten Kantine startende Impro-Show bewerben wollen.
Dass jemand den Volleyball, den ich schon zwei Mal eingestellt habe, noch kaufen wird, werde ich mir wohl abschminken müssen. Keinen einzigen Euro hat jemand darauf geboten, niemand beobachtet die Auktion. Vielleicht müsste ich ihn auch "Sexy DDR Volleyball" nennen. Das Ding hat damals 40 Mark gekostet, und ich habe fast nie damit gespielt.
Und schließlich das Armee-Telefon, dass mir mein Freund Willy, der damals seinen Wehrdienst bei der Auflösung des Standorts der US-Army in Berlin verbracht hat, schenkte. Mit diesem damals schön transportablen Gerät zapften wir regelmäßig eine Telefonleitung an, die in einem leerstehenden Gebäude aus der Wand guckte, z.B. wenn man etwa nach Russland telefonieren wollte. Damals kostete die Minute Telefonieren noch über vier Mark. Schon ein Ferngespräch nach Leipzig kostete 92 Pfennig. Wahrscheinlich tut es mir um das Telefon am meisten leid, weil so viele Erinnerungen daran hängen. Aber wie sehr hängen sie daran, wenn das Ding in einer Kiste im Keller rumliegt. Wie man sich erinnert, müsste man ja nun bei Proust gelernt haben. Sollte das die Konsequenz meiner Schmidt-liest-Proust-Lektüre sein? Dass ich lerne, mich effektiv zu erinnern. Produktives Erinnern durch Wegschmeißen. Aussterbende Geräusche: Das Ratschen der Telefonwählscheibe. Aussterbende Gefühle: Die Ungeduld beim gemächlichen Zurückklackern der Wählscheibe, wenn man dringend jemanden anrufen musste, dessen Nummer fieserweise aus vielen Achten, Neunen und Nullen bestand. Vielleicht erfinden die Sounddesigner in den Handyfirmen nach dem authentischen Klingeln auch einen Ratsch-Sound, wenn man die Nummern tippt, so wie es ja auch die Digitalkameras das Klacken der Blende schon integriert haben.

***

26.1.07

Rundmail von Falko, in der er die Premiere des großen Projekts Weltchronik bewirbt, für das Jochen und er nu schon so lange zittern. Aber auch hier kann er es sich nicht verkneifen, noch all seine anderen Termine ebenfalls zu bewerben und so das Einzelne zu verwässern.
Ben zieht von Liverpool in die Schweiz. Wer hätte 1997 gedacht, dass er ein so begehrter Professor würde.
Hatte ich früher immer einen kurzen Fußweg von der Chaussee-Show in der Tagung oder im RAW nach Hause in die Libauer Straße, so muss ich mir nun Gedanken machen, wie ich fahre. Der Weg ist zwar nicht weit, aber umständlich. Mit der S-Bahn von Warschauer nach Ostkreuz, dort umsteigen und zum Treptower Park weiterfahren, dann eine Station mit dem Bus. Dauert fast eine halbe Stunde, die man auch laufen könnte. Im Sommer natürlich mit dem Fahrrad, aber wenn’s so wie jetzt schneit?
Nach mindestens zwei Jahren besuche ich mal wieder V., die ein Drama um ihr Kinder durchlebt. Eine "moderne" Richterin glaubt, Partei für den Borderline-Kranken Ehemann ergreifen zu müssen. Die Kinder lernen lügen. Dabei hatte es nach einem so glücklichen Start ausgesehen, als sie 1991 nach Deutschland kam. Alles schien ihr regelrecht zuzufliegen. Bis sie ihn kennenlernte, in einen Vorort zog und mit ihm Kinder machte, die er zu misstrauischen Wesen umzumodeln versucht. Traurig übernachte ich dort und erinnere mich kurz vorm Einschlafen, dass ich immer, wenn ich bei V. übernachtete, an den Ohren fror, die warmen Decken aber einem die notwendige Nachtwärme spendeten.

*

Auf einmal ein Wechsel in der Zeitform. J.S.: "Eisiger Wind blies mir ins Gesicht,…"
Leiden am Wetter. Plakatekleben mit Falko für die Weltchronik gerät zur "Clownsnummer".
Im Babylon eine fast zärtliche Episode mit Judith Hermann. Ein schöner Weg vom Jule-Lehmann-Neid bis zu diesem Punkt.
Eigentlich seltsame Formulierung fürs Schreiben: "Tippen", die wir inzwischen fast abwertend benutzen, so als tippe man nur irgendwelche Daten ein.
Die letzten Seiten bei Proust verlangen dem Leser offenbar noch einiges ab: "Als hätte er noch tausend Seiten Zeit, ergeht er sich in geschwätzigen Details." Das wäre schon ein Witz, wenn Jochen die Lektüre hier beenden würde, so wie ich längere Zeitungsberichte oder -kolumnen oft vor dem letzten Absatz abbreche, was ich aber erst vor Kurzem bemerkt habe. Ich blättere um, so als wolle ich dem Reporter das Wort abschneiden. Was würde man verlieren, wenn "Schmidt liest Proust" hier endete. Auf jeden Fall eine großartige Kurzgeschichte, mit der er die letzten Seiten einleitet. Aber zur eigentlichen Proust-Lektüre? Werden wir erfahren, wer der Mörder war? War Proust die ganze Zeit tot? Werden die Geister der Verstorbenen auftauchen? Wird Marcel in den Sonnenuntergang reiten?

*

J.S.: "Ich sagte es schon, der Reiz langer Serien, die unerschöpflichen Möglichkeiten, jeden mit jedem zu verbandeln." Herzog von Guermantes ist nun in Odette verliebt.
J.S.:" Vier Seiten braucht Marcel inzwischen, um stichpunktartig seine Beziehung zu den einzelnen Figuren des Buchs und wie er von der einen zur anderen gelangt ist, zu rekapitulieren. Das Schlimme ist, dass ich das alles in einem halben Jahr vergessen haben werde."
Unklar, warum ein Vertiko als unklares Inventar geführt wird. Sollte Jochen es wirklich nicht kennen?

***

 

Sa., 27.1.07

Probe der "BÖ". Es ist wie bei den auseinanderfallenden Beatles. Man spielt zusammen in dem Bewusstsein, dass man sich wohl bald trennen wird. T. abwesend, C. leitet an, obwohl sie eigentlich pausiert.
Kantinenlesen. Die Probe hat mich sehr angestrengt, ich bin müde und ruhig. Jochen herausragend. Seine Texte sind vielleicht die beste Werbung für die Weltchronik, die Falko und er an diesem Sonnabend zu promoten versuchen.

*

Verdichteter Monolog von Jochens Tochter. Ein Stück Poesie jenseits von "Lustiges aus Kindermund". Man kann nur hoffen, dass sie nicht, wenn sie ihre Pubertätskrise kriegt, das peinlich findet, ihn verklagt und das Buch einstampfen lässt.

*

In der sechzehnjährigen Tochter Gilbertes und Saint-Loups materialisieren sich die "verflossenen Jahre in einer jungen Person." (J.S.)
M.P.: "dass dieses Leben, dass man unaufhörlich fälscht, in einem Buch verwirklicht werden könnte."
J.S./M.P.: "Denn was wir unser Leben nennen, ist nur eine unaufhörliche Fälschung der wirklichen Version, die wir eigentlich in uns spüren, und der man nur in einem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen kann!" (Man beachte: Das bei Jochen Schmidt sonst so rare Ausrufezeichen.)
Am Ende der vielen tausend Seiten haben sich also zwei gefunden. Das Buch, das Schreiben als Aufheben der verlorenen Zeit, als Jungbrunnen, das Gelebte wird verewigt durch pedantisches Aufschreiben. Jede mühsame Suche nach dem passenden Adjektiv, das einen Geruch beschreiben soll, jedes Ringen nach einem Halbsatz, der den "kommunikativen Knackpunkten" und seelischen Leiden nachspürt ist vom Anspruch der Authentizität beseelt. Die aktuelle Hirnforschung bringt die von den Philosophen abgeschriebene Suche nach dem Ich wieder auf die Tagesordnung. Das Ich, so sagen die Psychologen, kann letztlich nur durch die Erinnerungen aufrechterhalten werden. Wie "wahr" diese sind, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Und spielt es für den Leser eine Rolle, ob sich Proust beispielsweise bei der örtlichen, zeitlichen und farblichen Zuordnung der Sommerlevkojen irrte?
Wir haben (zumindest aus Jochen Schmidts Lektüre) nie erfahren, ob Proust mit einem Notizbuch bewaffnet war. Oder sollte es tatsächlich der Lindenblütentee gewesen sein, der all die Erinnerungen wieder hervorzaubert.
Können wir Prousts Erinnerungen trauen? Und wenn nicht – welchen Unterschied macht das? Wäre das Lesevergnügen ein anderes, wenn der fiktionale Anteil größer wäre?
Ist Proust-Lektüre – angesichts der von kaum jemandem geleugneten endlos langen Langweilerpassagen – am Ende ein großangelegtes Exerzitium in Stil und geistiger Ausdauer?
J.S.: "Man könnte sagen, dass man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren." Bewirbt dieses hübsche Bonmot nun Schmidt oder Proust? Nachdem ich Schmidt gelesen habe, brauche ich den Proust nicht mehr. Man könnte das natürlich auch als Marketing-Kniff auslegen: Er bewirbt Proust und weiß doch, dass die meisten den nicht in die Hand nehmen. Aber so eine Gerissenheit darf man Jochen Schmidt nicht unterstellen. Dafür ist er dann doch als Künstler zu aufrichtig.
Ich habe "Schmidt liest Proust" zwei Mal gelesen. Damals als Blog, heute als Buch. Im Buch habe ich die Proust-Passagen auch mehr genossen. Aber man möge mich in einem halben Jahr noch mal fragen, wer Swann, Odette, Gilberte, Saint-Loup, Charlus sind.

24.-25.1.07

Nach mehreren Nächten mit schrecklichen 2.-Weltkrieg-Träumen, in denen ich entweder an der Front oder im KZ leide, mildert sich die Heftigkeit meiner nächtlichen Erlebnisse. (Vor ein paar Jahren stellten wir in einer After-Show-Diskussion bei der Reformbühne fest, dass sämtliche anwesenden Ostler schon von Hitler geträumt hatten, die Wessis hingegen noch nie.) In der letzten Nacht wollte mir lediglich die Stasi an den Kragen. In einem dramaturgisch gewagten Cut wechselte der Schauplatz zu einer S-Bahn, in der mein vor nunmehr sechzehn Jahren verstorbener Freund Ralf Gitarre spielte. Und zwar eigenartigerweise so, wie er immer Gitarre spielte. Ich muss dazu sagen, dass die akustischen Facetten meiner Träume eher verschwommen sind. Ich träume eher, dass jemand etwas sagt, als dass ich träumend hören würde, wie er das sagt. Aber das Gitarrespiel hörte ich genau. Wenn ich von Verstorbenen träume, wollen sie meistens verschwinden, also das, was sie ja in der Wirklichkeit auch getan haben – Verschwinden. Leise ahnend, dass es ja doch nur ein Traum ist, wage ich dann erst gar nicht zu fragen, wie es denn sein könne, dass er sich in all den Jahren nicht gemeldet habe, wenn er nun doch lebe. Diesmal aber war es anders. Ralf nahm seine schlecht gestimmte Gitarre, quetschte sich in eine vollbesetzte S-Bahn-Bank und improvisierte dudelnd auf einem D-Dur-Akkord herum. Selbst seine Stimme hörte ich deutlich.

***

Mi, 24.1.07

E-Mail Diskussion über die anstehende Geburt von Stephans Tochter – soll man ihr, solange sie noch im Mutterleib ist, eher Mozart oder Tocotronic vorspielen?
"Theatersport Berlin" kündigt die Premiere von "Bühnenpiraten" am Kudamm an.
Schöne Impro-Show mit der Bö im Zebrano.

*

Über die Schönheit der DDR-Kindermärchenplatten, die von den Schauspielstars gesprochen wurden. Fred Düren, Rolf Ludwig, Klaus Piontek, Elsa Grube-Deister, Kurt Böwe, Dieter Mann, Dietrich Körner, Jutta Wachowiak. Klaus Piontek hatte ein Abonnement auf die kindlich-jugendlichen Helden wie Zwerg Nase.
"Der Froschkönig" umgeschrieben auf das Leiden des Jochen Schmidt.
Bemerkenswerte Änderung vom Blog zum Buch: Aus dem "eisernen Dan" wird nun doch der "eiserne Heinrich". Gut, die Leser hätten "Dan" nicht verstanden. Ich aber schon.

*

Und Marcel beschließt nun tatsächlich, jeglicher sozialen Kontakte zu entsagen und sich allein dem Schreiben zu widmen. Im Grunde ist jeder Künstler ein Autist auf Zeit, man betreibt sein Spiel und muss nicht mehr auf die anderen hören. In Abstufungen natürlich. Aber bei Schriftstellern vielleicht am ehesten.
Marcel beschließt, niemanden mehr zu empfangen, da er "ein Rendezvous mit meinem Ich" habe.
Die "große Berma" (nur eine versuchsweise Suche im Blog gibt mir Aufschluss darüber, dass schon mehrfach von ihr die Rede war) vereinsamt, da alle sich den Guermantes zuwenden. Warum funktioniert die eine Lesebühne und die andere nicht. Wenn ich beim lebendigen griechischen Schnellrestaurant einen Schweinespieß esse, fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Seite zum Türken, der sich wirklich alle Mühe gibt, bei dem sich höchstens zwei Teenager mit einer Cola langweilen. Sein Leiden dürfte nicht geringer sein als das der großen Berma.

Do, 25.1.07

Vollständige Besetzung bei der Chaussee. 240 Zuschauer. Die Enthusiasten in Hochform. Schöner kann es kaum sein.

*

Man höre, so Jochen, Schriftstellern lieber zu als Bekannten, die ja dieselben Tragödien erlebten.
Und Schreiben? "Wozu soll man Prousts Experiment beim Schreiben wiederholen? Der Rückzug in die Erinnerung ist ja eher ein menschliches Schicksal als eine freie Entscheidung." Im Blog schreibt Jochen noch treffender: "Der immer zwanghaftere Rückzug in die Erinnerung…" Mit anderen Worten, unser Hang, die Vergangenheit zu verklären, den "verlorenen Paradiesen" nachzutrauern, ist eher ein Zwang. Und was zwanghaft ist, ist nicht schicksalhaft. So wie wir uns eher nach dem Sofa als nach den Laufschuhen sehnen und es eine magische Anziehungskraft ausübt, ist es auch mit der paradiesischen Vergangenheit – wir verklären die Zeit, die sorglos war, da wir nicht handeln mussten. Und um das Bild vom Paradies zu schärfen – ähnlich wie Adam und Eva waren wir blind für die wirklichen Grenzen aber auch die wirklichen Möglichkeiten. Das ist, je nach Perspektive, anstrengend, traurig, beängstigend oder leicht, erfreulich, ermutigend.

*

Die Herzogin von Guermantes lebt vom Ruhm vergangener Zeiten. J.S.: "Vielleicht werde ich so meine Tage als vorlesender Autor beschließen, einfach nur noch die Bühne betreten, schweigen und damit noch einmal den Glanz früherer Darbietungen heraufbeschwören."

22.-23.1.2007

Der Schnee schmilzt. Ich entdecke erste weiße Härchen im Bart. Wer mich künftig noch als "jungen Autor" bezeichnet, verdient es, Ausmecker zu kriegen.

Mo, 22.1.07

Die Reckstange im Flur ein gutes Trainingsgerät, so dass ich wenigstens ein kleines bisschen zum Sport komme, denn Sport scheint mich doch immer wieder aus Phasen der Demotivierung emporzuholen.
Angenehme Routinen nach großen Aktionen wie Reisen oder eben einem Umzug wiederherzustellen, scheint schwer, man muss sich aber bemühen. Montags Website aktualisieren.
Das Goethe-Institut will von uns wissen, wieviel Geld wir wollen. Immer dieses Hickhack. Warum können uns Veranstalter nicht einfach ein faires Angebot machen, und dann kann man sagen, ob das geht oder nicht. Wir können doch deren Budget nicht erraten.
Meine alte Telefonnummer funktioniert wieder. [Nachtrag 2009: Dass ich drei Wochen lang nur unter einer anderen Nummer erreichbar war, hatte zur Folge, dass mich bis heute noch einige Leute versuchen, unter dieser zu erreichen.]

*

Jochen über die Achtzehnjährige, die ihm (wie und wann auch immer) berichtet, was sie liebt und was sie hasst. Man liest die Liste und taucht in ein Universum. Soll man sie um die Eindeutigkeit der Urteile beneiden oder froh sein, dass man diese adoleszente Radikalität hinter sich gelassen hat.
"Sie (…) mag Donald Duck, aber nur von Carl Barks gezeichnet."
"Sie mag keine Comics mit sprechenden Tieren."
Welche widersprüchlichen Vorlieben und Animositäten ließen sich bei mir finden? Ich arbeite ja daran, vor allem meine Mäkligkeiten abzubauen. Jedes Jahr mindestens einmal Fisch essen. Bei Ingwer hat es schon geklappt. Aber: Ich kann über Orthographie-Fehler und -Schwächen anderer leicht hinwegsehen. Aber es macht mich wahnsinnig, wenn jemand die Akzent-Taste ´ statt der Apostroph-Tastebenutzt.

*

J.S./M.P.: "’Unverschämte Domestiken’ dringen in die Salons ein und trinken dort Orangeade."
Wie im Atelier89 oder im Knaack. Als man in diese Welten stieß und auf Ältere stieß, berichteten diese davon, dass es früher cooler, besser, aufregender gewesen sei. Und selbst hatte man mit Ende Zwanzig auch das Gefühl, die jetzigen Besucher seien viel zu kindisch und verstünden nicht, worum es ging. Sie tranken die falschen Getränke, tanzten zur falschen Musik, bewegten sich falsch und waren so unangenehm jung. Wie aber soll man bei etwas, das einem so viel bedeutet hat, die Vogelperspektive einnehmen und sich sagen, dass es diese brutalen Routinen des Generationenwechsels immer gegeben hat?
Die Kategorie "Verlorene Praxis" wird immer mehr in Richtung "bemerkenswertes Verhalten" erweitert. Schadet nix.

***

Di, 23.1.07

Mein altes Nokia-Handy wird unbrauchbar. An das kaputte Display hatte ich mich schon gewöhnt. Die Akkudauer ist nun aber völlig inakzeptabel. Die Schwierigkeit besteht nun darin, ein Handy zu finden, das einerseits sehr gut ist – gute Bedienbarkeit, leichte Handhabung, das mich aber vor weiteren Zusatzfunktionen wie Fotoapparat und und mp3-Player verschont, das habe ich schon, und zwar besser als in der Quasi-Funktionalität bei Handys.

*

Überraschende Information: Auch Jochens Eltern spielen Skat. Ich hatte eher Dame oder vielleicht sogar Bridge erwartet.
J.S.: "Seit ich mit achtzehn ausgezogen bin, habe ich im Grunde kein Zuhause mehr." Ist Zuhause, wo Familie ist?
Die ewige Partnersuche. Die lauernde Angst im Hinterkopf, es könnte die Falsche sein. Oder die Angst vor der Trennung, weil es ja vielleicht doch die Richtige ist. Vor was für Qualen einen die Freiheit der Wahl setzt. Wären wir unglücklicher, wenn wir, eine sexuell autoritärere Gesellschaft vorausgesetzt, die Erste geheiratet hätten und mit ihr alt geworden wären?
All die Freiheiten, die einem die Gesellschaft bietet, führen zu psychischen Verwerfungen, an denen die Ratgeberbuch-Industrie verdient:
– Aufräumen
– Partnerwahl
– Konzentriert arbeiten
– Gesundheitstipps
– Aufmerksam und freundlich sein
Vieles davon würde sich ja schon erledigen, wenn man die Ratschläge der Eltern stur beachten würde. Aber die spielen ja auch nicht mehr ihre Rolle als Autoritätsfiguren, sondern kicken ihre Kinder in die Freiheit.

*

Marcel erkennt in der dicken Dame seine Jugendliebe Gilberte nicht wieder.
Unklar: Für Jochen ist der "Aufbruch à l’anglaise" unklares Inventar.

21.1.07

Nicht nur schweren Herzens, sondern auch schlechten Gewissens setze ich das Entrümpeln fort. Ungefähr 120 Kassetten, die das letzte Ausräumen überstanden haben, finden nun ihre vorletzte Ruhe im Müllcontainer hinter unserem Haus, darunter solche, für die ich damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt habe. Die UB40-Kassette, die mich Jakob Hein, der einen Doppelkassettenrekorder besaß, überspielen ließ. Die vielen "Aquarium"-Kassetten, die ich von lieben Moskauer Freunden geschenkt bekam und die ich nun handlich als mp3 besitze. Die Dutzenden Rolling-Stones-Raritäten-Kassetten. Und so weiter. Es bleiben übrig absolute Ausnahmen: Der wahrscheinlich zu Recht vielfach wegen seiner Fascho-Nähe in den 90ern und seinem häufigen Rumgebrülle gescholtene Jegor Letow, von dem ich sieben Stücke auf Kassette habe, die großartig sind Wsegda budu protiv, Russkoje pole eksperimentow, My ujdjom is zooparka, und natürlich das legendäre "Wsjo idjot po planu", eine sarkastische Hymne auf die Perestroika, die ja schließlich auch planmäßig abgewickelt wurde. (1991 sang ich dieses Lied auf der Krim und gewann ein Schwein. Danke, Jegor)

Lales Persisch-Lektionen. Und völlig unerwartet: Verzerrte Aufnahmen der Quatsch-Interviews, die Ralf Petry und ich 1986 in einem Haus der Harnackstraße machten: "Was halten Sie davon, dass die Friedrichstraße jetzt überdacht werden soll." Wenige Jahre später wurde das populär – Quatschinterviews führen und Teile der Friedrichstraße überdachen.

Unangenehmes von der Ebay-Front. Ein "Käufer" beantragt bei Paypal Käuferschutz, kaum dass der Kauf über die Bühne gegangen ist. Nach kurzer Recherche bei Google stellt sich heraus, dass er bereits wegen Misshandlung verurteilt wurde und mit der Super-Geschäftsidee auf den Plan getreten ist, bei Ebay Händler zu verklagen, die urheberrechtlich geschützte Fotos in der Produktbeschreibung einstellen, er bräuchte nur noch einen Anwalt. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht der Einzige bin, mit dem er diesen Trick versucht.

Aber das neue Foxy-Freestyle-Projekt kommt ins Rollen. Am Freitag eine wunderschöne Horror-Show gespielt. Die Alte Kantine hat grünes Licht gegeben. Und am 13. März starten wir freitags an diesem schönen Ort mit einer wöchentlichen Impro-Show.

*

So, 21.1.09

*

Jochen über die Annehmlichkeiten, die es mit sich bringt, wenn man sagt, man sei ein Autor. Im Gegensatz zu früher, als man stolz (in Wahrheit aber in Angst, sich festlegen zu müssen) behauptete, man mache nichts. "Es ging doch darum, was man ‘war’." Es könnte natürlich sein, dass wir auch aus diesen Berufsbezeichnungen und Titeln versuchen, unseren Status festzunageln. "Ich bin Schriftsteller", damit erübrigen sich einige andere Fragen. an macht sich unangreifbar, wenn man vielleicht noch von der Frage absieht, ob "man" denn davon leben könne. Interessanter ist es aber allemal, was einer "macht", denn daraus zeigt sich doch viel eher, was er "ist" als durch die Selbst- und Fremdzuschreibungen. Nichtsdestotrotz funktionieren die Bezeichnungen als Türöffner, "weil man sozusagen seine Qualifikation schon nachgewiesen hat."
Selbst Helge Schneider spricht, je älter er wird, immer häufiger von seinem "Beruf", so als befürchte er, mit den Comedy-Ganoven in eine Schublade gesteckt zu werden. Bei den Lesebühnen, selbst den erfolgreichen, wird man ja auch, vor allem deswegen immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob man davon leben könne, weil wir uns unprätentiös geben. Schlimmer noch beim Improtheater, wo man bei manchen Zuschauern ein Erkennen im Gesicht aufblitzen sieht, wenn man sagt, man habe eine Gesangsausbildung ("Das hört man.") und die Enttäuschung, wenn man sagt, dass man keine Schauspielschule besucht habe ("Wie kann denn das sein, dass ich mich da so getäuscht habe.")
Zum Wohnungsstil: "Ich wüsste nicht, was mir lieber wäre, Reduktion oder Unübersichtlichkeit." Gute Frage zur richtigen Zeit, da ich gerade am Reduzieren bin. Unübersichtlichkeit wäre mir wahrscheinlich auch lieber. Am liebsten eine indisch angehauchte Kuschelstyle-Wohnung, mit lauter Polstern, kleinen Glöckchen, Tüchern an den Wänden usw. Nur leider fiele es mir äußerst schwer, so etwas überhaupt umzusetzen, außerdem kann ich schon kaum meine ohnehin sehr reduktionistisch angelegte Wohnung einigermaßen ordentlich zu halten. Die Vermüllung bei anderen ist nur schwer zu ertragen, schlimmer noch die eigene.

*

Weiter auf der Matinée. Gruselige Beschreibungen des Alters, und man fragt sich, ob das am Ende Marcels Selbstporträt inzwischen ist. Aber wie immer wissen wir ja nicht, ob es Marcel ist, der uns hier etwas verschweigt, oder Jochen.

19.-20.1.07

Ähnlich wie vor zwei Jahren steht ein großes Aufräumen und Ausmisten ins Haus. Im Gegensatz zu Jochen kann ich meine Wohnung nicht als Archiv des eigenen Lebens betrachten, auch wenn es zu einem solchen quasi ungewollt und automatisch wird. Aber wenn man zwischendurch immer wieder mit seinen Gedanken mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart hängt und die Zukunft aus Mauern von Gegenständen verdeckt wird, die einem als Teenager oder Twen etwas bedeutet haben, dann nimmt einem das regelrecht die Luft zum Atmen und Handeln. Natürlich ist all das auch "Material", aber als künstlerisches Material existiert es ja in meinem Kopf weiter. Wir wissen, dass Kleinkinder von massenhaften Beschenkungen regelrecht erschlagen werden. Warum sollte das bei uns anders sein? Bertolt Brecht: "Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts!" (Was mögen die anderen gewesen sein, fragte ich mich immer.)
Mindestens so beeindruckend wie die bibliotheksartigen Zimmer sind doch die fast buchleeren Wohnungen jener Menschen, die jedes Buch, das sie gelesen haben, jemandem verschenken, von dem sie glauben, es interessiere ihn. Bücher, die ein Jahr lang ungelesen in der Wohnung verweilen, werden ebenfalls verschenkt oder weggeworfen. Zu einer solchen Radikalität kann ich mich nicht entscheiden, nur ein paar drittklassige Ostbücher fallen der Auräumwut zum Opfer. Wieviel das Wert ist, erkennt man an den niedrigen Preisen bei Ebay für Bücherpakete. Aber ich weiß ja heute noch nicht, welche Bücher ich aus irgendeinem Grund in zwei Jahren wieder in die Hand nehmen will.
Teil des Aufräumprogramms 2009: Ordner entmisten. Darunter den Ordner "Dokumenty", tatsächlich in kyrillischen Buchstaben beschrieben. (Ein Ratgeberbuch, zum Thema aufräumen, das mir in diesen Tagen in die Hände fiel, rät genau dazu: Ordner nicht mit langweiligem "To do" oder "Ablage XIV" beschriften, sondern knackige Bezeichnungen). 1990 habe ich ihn angelegt, als meine Kiste zu klein wurde für all die Papiere von Uni, Vermieter und Versicherung. Wie optimistisch von mir zu glauben, das würde in den kommenden Jahren genügen. Bei meinen Eltern, die bei mir wie bei den meisten anderen sicherlich auch, die Erwachsenenwelt repräsentierten, standen schließlich keine Ordner rum. Inzwischen brauche ich jeweils mehrere Ordner für Geschäftliches, Versicherungen, Bankenkorrespondenz, Miete und Strom, Korrespondenz mit Verlagen, Veranstaltern und Kollegen. Aus dem Dokumenty-Ordner entferne ich:
– Mietvertrag mit Videothek
– mehrere Überweisungen
– Registrierungsbescheid des DPMA
– Negativdiagnose des Krankenhauses
– Vorbereitungsblatt zur Untersuchung
– mehrere Zahnarztrechnungen
– kuriose Rechnung über 0,00 Euro der großzügigen Firma "Derby Cycle", die mir eine gestohlene Fahrradpumpe gratis ersetzt.
– Kreditkarteninfo
– Info über ein ergonomisches Telefon
– mehrere Praxisgebührquittungen
– Bestätigung eines Nachsendeauftrags 2006
– Info der DiBa über "Zinsanpassungen"
– Ablehnungsschreiben des Senats zum Antrag auf ein Autorenstipendium 2005
– Auftrag für Stampit (die mir immer noch Geld schulden)
– unangenehme Korrespondenz mit einer Inkasso-Firma
– Nachricht über Verfahrenseinstellung wegen meinem geklauten grünen Nishiki
– mehrere Schreiben zur Höhe des Dispokredits mit der Sparkasse. (Nach dem letzten wechselte ich die Bank.)
– Schreiben der Einkaufsgemeinschaft "Wurzelwerk e.V."
– Korrespondenz mit Finanzabteilung von amnesty international
– Buchungsunterlagen meiner Amerika-Reise 2003
– Unterlagen und Korrespondenz zum Einbruchdiebstahl in Malta (Laptop, Geld, Fotoapparat, u.a.)
– Info-Briefe der Hausrat/Haftpflicht-Versicherung
– Antrag auf Einsicht in Stasiunterlagen (Vom Amt bekam ich später eine Kopie einer Vorgangsnummer mit dem Jahr 1986 und der Aufschrift "Lbg. grün", wobei Lbg wahrscheinlich für Lichtenberg steht. Außerdem der Name eines ausreisenden Mitschülers. Ob ich den ausspionieren sollte? Oder er mich?)
– Korrespondenz mit dem Bundesverwaltungsamt über Bafögrückzahlung
– Reklame der Telekom
– Telekomabrechnungen von 2001
– Online-Banking-Vereinbarung mit der Sparkasse
– Vordrucke über Bescheinigung von Nebeneinkommen des Arbeitsamts
– Laborrechnung für den Test
– Bibliotheksausweise: Ibero-Amerikanisches Institut, Lichtenberg, FU – JFK-Institut für Nordamerikastudien, FU, HU, Staatsbibliothek, Seumestr., Friedrichshainer Phonothek
– Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1999 (??)
– Absage von Salbader 2001
– Zusage für Werbezuschuss für Kantinenlesen vom Beckverlag
– Fischotterschutz-Werbung
– Einladung nach Moskau von 2000
– Meldekarte Arbeitsamt
– Info über Kabelanschluss
– Verschiedene Briefe der GEZ
– Rechnungen von Bewag, Gasag, Vattenfall
– Kündigung der AOK
– Kopie Arbeitsvertrag von 1989
– diverse Schreiben der AOK
– Zeugniskopien
– Alte Mietverträge und -erhöhungen. (Den ersten mit der Miethöhe von 28 Mark = 7 Euro hebe ich allerdings auf.)

***

Fr, 19.1.07

Teil des Aufräumprogramms 2007: Schallplatten und Kassetten wegwerfen, auch wenn’s schmerzt. Welche Mühe ich mir 1988 gemacht habe, an "London Calling" von The Clash ranzukommen und mir zu "überspielen" und dann auch noch die kompletten Texte Wort für Wort abgeschrieben. Aber es hilft ja alles nichts, die Erinnerung an den Nachmittag, an dem ich mir auf der Wachstube bei der NVA eilig den Text von "Lost in the supermarket" abschrieb wird ja nicht dadurch intensiver, dass ich dieses karierte holzige Papier behalte. Und meine Liebe zu "The Clash" hat von Jahr zu Jahr abgenommen. Irgendwann wäre die Wohnung voller riesiger Objekte, die reinen Erinnerungswert und überhaupt keinen Gebrauchswert mehr haben. Die Vergangenheit wird so zu einem riesigen Ballast, der einem im wahrsten Sinne die Bewegungsfreiheit nimmt. [Nachtrag 2009 – Jochen Schmidt, Falko Hennig und sicherlich auch Marcel Proust dürften das anders sehen, aber die Nostalgiestrahlung von Gegenständen beraubt uns oft des Blickes auf die Gegenwart oder die Zukunft. Der Gegenstand verklärt die Vergangenheit, und selbst wenn er für uns damals Leid symbolisierte, steht er heute für das schöne Damals, und das Heute wirkt nur Grau.]
Der Kompromiss sieht nun so aus: Schallplatten bei Ebay versteigern, Kassetten wegwerfen, die entsprechenden CDs bei Ebay kaufen, die Musik entmaterialisieren und die CDs wieder verkaufen.
Am heutigen 19.1.07 kaufe ich bei Ebay und Amazon
– "London Calling" von The Clash
– "The very best of" von Buddy Holly
– Billy Bragg: "Victim of geography"
– Einstürzende Neubauten: "Halber Mensch
– Eros Ramazotti: "Tutte Storie"
– Prince: "Grafitti Bridge"
– Ton Steine Scherben: "Keine Macht für niemand"
– Johnny Cash: "The greatest years"
– Buckshot Lefonque: "Music evolution"
– Janis Joplin: "Anthology"
– Men at work: "Cargo"
– The Beatles: "Yellow Submarin"
– Billy Bragg: "William Bloke"
– Edith Piaf: "The Golden Greats"
– AC/DC: "Powerage"
– The Cure: "Staring At The Sea"
– Ofra Haza: "Yemenite Songs"
– Nena: "Wunder gescheh’n"
– Nena: "Bongo Girl/Eisbrecher"
– Sade: "Diamond Life/Promise"
– Einstürzende Neubauten: "Zeichnungen des Patienten O.T."
– The Pogues: "Rum, Sodomy & the Lash"
– Stevie Wonder: "Innervisions"
Ab 1980 habe ich meine ersten Kassettenrekorderversuche auf dem Gerät meiner Eltern unternommen. Bis dahin hatte ich nur ein paar Schallplatten. 1984 durfte meine Oma das erste Mal nach Westberlin, und ich beauftragte sie, mir eine Bob-Marley-Platte zu besorgen. Der praktische Vorteil: Den Namen dieses Interpreten konnte auch meine des Englischen nicht mächtigen Oma problemlos aussprechen. Bis zur Wende hatte ich aber, von der einen oder anderen DDR-Lizenzplatte abgesehen, meine gesamte Musik auf Kassetten (man bedenke: Eine 60-Minuten-Kassette kostete 20 Mark). Ab 1990 behielt ich meinen Kassettenfanatismus bei. Bis auf wenige Platten – vor allem Tom Waits und Rolling Stones – besaß ich fast nur Kassetten. Bis ich mir 1999 (im Alter von 30 Jahren!) einen CD-Player kaufte, den ich inzwischen kaum mehr benutze, weil ich nun völlig auf mp3s umgestiegen bin. Und jetzt? Wird das das definitive Format bleiben? Man möchte es hoffen. Jede Formatumstellung ist ja wie ein großer Umzug.

*

Lob von Kriegsfilmen, Madame Bovary, La piscine und Ironija sudby.
"Im Moment scheint mir, daß mir auf ähnliche Weise mein Vergnügen an französischen Eifersuchtsdramen schwinden könnte." Ich müsste ihn mir erst erarbeiten.
Zu Ironija Sudby: "Ach, Liebespaare, ihr seid so öde in euerm vorhersehbaren Glück, die eigentlichen Helden sind die Betrogenen, denen niemand aus dem Publikum die Frau gönnen würde!" Wieder der Proustsche Blick: Die Liebe hat einen oder sie hat einen nicht. Aber die Paare sind eben nicht vorhersehbar in ihrem Glück, bis auf die Frischverliebten vielleicht. Alle anderen werden ohne aktives Tun nicht lange über die Runden kommen, da es keine Liebe ohne Lieben gibt. Allerdings haben wir es in diesem Fall ja wirklich mit dem klassischen Fremdgeh-Schema zu tun. Die Frau sucht das, was ihr der Mann nicht geben kann, hier Poesie. Aber sie wird sich eines Tages auch freuen, wenn er im nächsten Jahr nach der Banja wieder schön besoffen an einem unbekannten Platz auftaucht, womöglich gar erfroren oder überfahren.

*

Die den Schriftsteller umgebenden Personen sind für Proust und Schmidt "Material". Unklar für beide, wenn sie sich beschweren, da man sie "nur" als Material betrachtet habe. Das ist natürlich eine spezifische Schwierigkeit des Künstlers, rechtzeitig umzuschalten, d.h. im direkten Umgang das Künstler-Ich abzulegen, und dann man selbst zu sein, vor allem wenn es um den direkten Zugang geht, also in Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen. (Als Kunde, Klient oder in der Sphäre des Politischen schadet man in der Regel weder sich selbst noch dem Gegenüber, wenn man noch auf "Kunst" gepolt ist.) Sonst aber muss man das wohl genauso lernen, wie ein Psychologe, von dem man ja auch nicht andauernd analysiert werden will. Oder ein Frauenarzt, der beim Sex immer nur daran denken muss, dass er mit einem Gynäkologenstuhl jetzt besser dran wäre oder ein Geschäftsmann, der jede seiner Handlungen nach Kosten und Nutzen abwägt oder ein Politiker, der in der Familie immer darauf achtet, die richtigen Machtkoalitionen zu schmieden usw. usf. Was aber macht man, wenn man am Schreibtisch sitzt? Mit seinem Ezra-Roman, der ja vorhersehbare juristische Folgen hatte, hat der "Schriftsteller", dessen Namen man nicht mal mehr in einem Blog erwähnen will, uns allen die Zukunft versaut.
M.P.: "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich, eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können." Man spürt den regelrechten Zwang zur Selbstinszenierung. Aber vielleicht ist das auch üblich in der Zeit, da der Geniegedanke schon am abklingen ist, man aber als Künstler dem Rezipienten doch noch nicht über den Weg traut.

*

Sa, 20.1.07

Anfragen der Potsdamer Uni an die Chaussee einerseits (150 Euro, falls einer von uns kommt) und an ausgewählte Einzelne von uns (350 Euro) andererseits. Kann man den Organisatoren das vorwerfen? Sie haben eben auch ihren Geschmack oder glauben, dass bestimmte Autoren "teurer" sind als andere. Vielleicht wissen sie nicht einmal, dass wir zusammengehören. Oder sie sind durch ihre BWL-Kurse schon völlig verdorben.
Hingegen eine freundliche Anfrage der TU Freiberg. Auch wenn es nur wenig Geld gibt, ist man viel eher bereit, da man das Engagement spürt, dem keine Hinterfotzigkeit im Nacken sitzt.
Wir bekommen ständig Post für eine schon lange Mitbewohnerin meiner Schwester – Rechnungen, Mahnungen, Gerichtsaufforderungen. Sie geht nicht ans Telefon. Und "PIN" kennt keinen Nachsendeauftrag.

*

Erstaunliche Behauptung: "Wir hatten nämlich auch zwei Stunden BRD im Geographie-Unterricht." Das hat in meiner Erinnerung allein in der 6. Klasse mindestens drei Monate gedauert – Ruhrgebiet, Niederrheingraben, Alpen, Nordsee, politische Geographie. All das komischerweise bevor die sozialistischen Bruderstaaten in Osteuropa drankamen. Vielleicht folgte man da ja noch dem Unterrichtsaufbau aus der Vorkriegs-Volksschule, zumindest deutet mein alter Atlas von 1934 darauf hin.
J.S.: "Der Blick vom Hof des Admiralspalasts auf den S-Bahn-Bogen war dann überraschend schön, weil die Perspektive ungewohnt war. Gleich um die Ecke habe ich früher immer auf die Straßenbahn Nr.22 gewartet, dort sind jetzt nur noch ein paar Gleisreste. Das Geräusch der um die Kurve biegenden S-Bahn war tröstlich, es ist schön, daß es noch Geräte gibt, deren Geräusche man nicht attraktiver für die jugendlichen Konsumenten machen kann."
War es nicht eine Straßenbahn, die da um die Kurve quietschte? Eine der schön alten, natürlich. Am meisten machte es Spaß, in der Kurve, wenn die Bahn langsam fuhr und einen der Fahrer nicht sehen konnte, auf die Wagontürschwelle zu springen und bis zur Haltestelle mitzufahren. Wir wurden zuvor von Professor Nietsch bei der MSG in die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt, aber was wir hinterher anstellten, hätte uns mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben kosten können, denn auch bei der S-Bahn fuhr ich mit, sprang in den U-Bahn-Schacht, kletterte auf einen Schornstein. Ich bekomme heute nasse Hände, wenn ich daran denke. Die aktuelle Gehirn und Geist meint dazu, dass wir, je sicherer wir uns fühlen, sozusagen als Ausgleich den Kick suchen.

*

Ein Treffen mit alten Bekannten. Proust lässt einen wieder im Unklaren über die verstrichene Zeit, seine Bekannten von damals sind steinalt geworden. Über sein eigenes Altern schweigt Proust (wenn wir Jochen glauben wollen) sich aus. So erscheint er ohne Alterung, wie man es von Comicfiguren kennt.
Aber heißt dieser Band nicht "Die wiedergefundene Zeit"? Wir finden sie wieder auf den früher schönen Gesichtern.

16.1.-18.1.07

 

Den Aufräum-Anfall darf ich nicht ungenutzt aussitzen. Ich entrümple wieder meine Wohnung, das letzte Mal hab ich das vor zwei Jahren gleich nach dem Umzug getan und habe dann, als Jochen und ich im Frühjahr 2007 nach Russland fuhren, damit aufgehört. Wie aber wird man den alten Kram los? Müll? Manches hat einem ja wenigstens ein bisschen etwas bedeutet, man hofft, jemand anders könnte damit noch was anfangen, aber im Freundeskreis herumzufragen und das zu verschenken, ist auch mühselig, also Ebay. In den letzten Wochen habe ich verkauft:
– Eine zum letzten Geburtstag bekommene Hörbuch-CD. Ich behalte nur noch sehr wenige CDs, meistens solche, die mir sehr am Herzen liegen – Tom Waits, Fiona Apple, Kurt Schwaen, Laura Veirs – und die ein schönes Booklet haben – Johnny Cashs American Songbook. Für den Sound gibt es raumsparendere Speichervarianten. Hörbücher höre ich ohnehin so gut wie nie. Vielleicht eine Berufskrankheit. Wenn man pro Woche 25 Texte hört, und das schon über 10 Jahre, bedarf es einer gewissen Mühe, sich dafür frisch und offen zu halten. Und mit "Schauspieler lesen Klassisches” kann man mich ohnehin jagen. Immerhin – ich weiß, wo ich nachhören kann (dies nur für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass die Schenkerin der Hörbuch-CD diesen Blog liest).
– CD Nneka: "No Longer". Neu erworben, hübsches Cover, ansonsten s.o.
– WISO Sparbuch 2009 – Steuererklärung 2008. Ist wahrscheinlich demnächst auch dran. Unter Lesebühnenkollegen gelte ich deshalb bestimmt als Streber. Wahrscheinlich wird jetzt ein Steuerberater arbeitslos. Aber das muss ja nichts schlechtes sein.
– Fuji FinePix Digitalkamera – Nachdem ich Steffi eine schöne neue Kamera zum Geburtstag geschenkt hatte, verkaufe ich ihre alte. Darf man das? Ist aber auch schon wieder ein Jahr her.
– Externe Festplatte 160 GB. Eine riesige externe Festplatte, die nur mit externer Stromquelle funktioniert, ist für jemanden, der nur mit Laptop arbeitet, unhandlich. Außerdem wächst mein Speicherbedarf exponentiell, zum Glück parallel zur Speicherfähigkeit neuer Medien. (Das Angebot bestimmt die Nachfrage??)

Und jetzt laufen die Auktionen weiter:
CD Buddy Rich vs. Max Roach. Diese Platte hat mich Jazz gelehrt. (Die CD brauchte ich allerdings nur mal kurz.)
97 Buttons "amnesty international". Was wollten wir damals damit machen? Verkaufen? Unters Volk bringen? Die Dinger sind ein wenig veraltet, da sie das alte Logo benutzen. Auffällig ist natürlich die Zahl 97. Einen Button hatte ich. Haben wir die beiden anderen, die noch zur Hundert fehlen, tatsächlich für 1 DM verkauft?
37 Yuan, 1,72 Pfund, 10 Rappen und 1,10 Rubel. Andere heben ihr Geld für etwaige spätere Reisen auf oder werfen es in die riesigen Boxen am Flughafen, wo für humanitäre Aktionen (meist irgendwas mit Kindern) gesammelt wird. Für das Eine lasse ich mir meine Wohnung nicht mehr verramschen. Für das Andere habe ich meistens keine Zeit, denn die Boxen stehen meistens an Stellen, wo man es eilig hat, zum nächsten Flugsteig zu kommen oder das Portemonnaie ist in der falschen Tasche.
Gregory Bateson: "Geist und Natur". Empfehlung von Stephen Nachmanovitch. So verpeilt war ich letzten Frühling, dass ich es doppelt kaufte, einmal bei Amazon, einmal bei unserem armen alten Buchhändler in der Plesserstraße, der mir so leid tut, dass er seine vergilbenden Bücher im Schaufenster immer auswechseln muss, ohne sie verkauft zu haben.
Eine Kirgisische Filzkappe. Ein Geschenk meines russischen Freundes V. Nett gemeint, aber obwohl ich ein Mützen-, Kappen- und Hüte-Narr bin, werde ich dieses Ding wohl doch nie tragen. Und Andenken habe ich viele andere von V.
Russisches Holzgeschirr und Matroschka-Set. Von meiner Oma 1981 aus der Sowjetunion mitgebracht. Es soll ja Leute geben, die sich so etwas nicht nur in ihre verstaubenden Vitrinen stellen, sondern damit auch essen. Von meiner Oma fand ich es beachtlich, dass sie 36 Jahre nach ihren schlimmen Erlebnissen wieder nach Russland reiste. Und das Land sogar mochte.
Karl May: "Winnetou II" (das Buch, in dem Old Shatterhand mit den Pfählen in die Wüste geführt wird und sich dann als Regenmacher erweist), "Winnetou III" (in dem Winnetou stirbt und Christ wird). Ich fürchte, ich werde beides nicht los. Diese Bücher waren ja im Osten absolute Raritäten, und gerade als ich aus dem schlimmsten Karl-May-Alter raus war, kamen sie im Osten in den Buchhandel. Bei Ebay bringen selbst die gut erhaltenen nur mit Glück 1 oder 2 Euro.
Deckenlampe Cittra von Ikea. Nachdem ich jahrelang einfach nur eine 100-Watt-Lampe in den nackten Flur gehängt hatte, leistete ich mir, als ich einen Job und etwas Geld hatte, eine schöne Lampe.
Garderobe mit Spiegel schwarz. Beides hing schon im Flur meiner Großeltern in Ebersbach, und ich verbinde sogar einen bestimmten Geruch damit – Kleidung, Kohleofenwärme, Schnee, Außen-WC und eben den typischen Wohnungsgeruch meiner Großeltern, dieses Spezielle, das der Wohnung einer bestimmten Person anhaftet, manchmal auch einer Familie. Wenn ein Familienmitglied auszieht, nimmt es ein Geruchselement mit, das man in dessen neuer Wohnung wiederfindet, vom Gesamtgeruch der alten Wohnung wird dieses subtrahiert, wenn auch nur allmählich. Der Geruch meiner Schwester, ihres Mannes und ihres Kindes brauchte fast vier Monate, um sich aus der Wohnung, die wir dann bezogen hatten, zu verabschieden.
Mini-Volleyball. Im Alter von 13 bis 16 Jahren spielte ich jede Woche Volleyball. Ich beneidete immer die, die lässig einen eigenen Volleyball mitbrachten, weil der "sich besser spielte". Am Strand waren Volleyballbesitzer sowieso die Kings. Und so investierte ich ganze 70 Mark in dieses Lässigkeits-Accessoire, das dann so lässig auch wieder nicht war, da ich mir eben nur einen Mini-Volleyball leisten wollte, den ich seit über 25 Jahren höchstens zwei Mal benutzt habe. Aber gelernt habe ich dadurch, dass man Lässigkeit nicht kaufen kann, zumindest dann nicht, wenn man pfennigfuchserisch mit Geld umgeht. Eine 70 Mark teure Lektion. (Wie man Accessoire auf Anhieb richtig schreibt, werde ich in diesem Leben hingegen wohl nicht mehr lernen.)
Eine sehr gute R&B-CD (auch ein Geschenk), von der ich mich nur ungern trennte, aber Not kennt kein Gebot.
Eine echte Sichel. In meiner Russlandphase hielt ich es irgendwann mal für eine witzige Idee, über meine Tür einen Hammer und eine Sichel zu hängen. Ich setzte alle möglichen Leute in Bewegung, um mir eine echte Sichel zu beschaffen. Als ich sie dann hatte, sah es doch irgendwie blöd aus. Vor drei Jahren hatte ich schon mal versucht, sie zu verkaufen. Ohne Erfolg. Ich hoffe nur, dass der Ersteigerer, wenn es ihn denn gibt, kein "The fog"-Fan ist.
Harman Kardon Multimedia HD720 CD Player. Eigentlich ein audiophiles Gerät für Leute, die glauben, der Sound würde sich verbessern, wenn die Ausgänge des CD-Players mit Gold veredelt würden. Ich kann ihn nicht gebrauchen, weil er meine mp3s nicht abspielt. Jetzt habe ich mir ein kleines tragbares Gerät gekauft, und ich werde mich umgewöhnen müssen, denn irgendetwas tief in mir, sagt mir, dass Audio-Geräte groß, schwer und schwarz sein müssen, wenn sie was taugen.
Ein olles Sideboard aus DDR-Zeiten, das schon meinen Eltern als Ablage diente und eigentlich rather unsexy ist. (Bisher 0 Beobachter)
Ein Gutschein der Deutschen Bahn über 50 Euro, den ich netterweise vom Kundenservice für eine zuviel gekaufte Fahrkarte bekommen habe, den ich aber nicht einlösen mag. Tatsächlich steht der Preis schon acht Stunden vor Auktionsende bei 48,53 Euro. Der Gewinner hätte also 1,49 Euro gewonnen. Wieweit würde ich selber bieten?

***

Di, 16.1.07

Anfrage für einen Auftritt von "Paula P.", die es schon seit fast zwei Jahren nicht mehr gibt. Ich sage trotzdem zu. [Nachtrag 2009: Nicht wissend, dass auch "Die Bö" diesen Auftritt kaum überleben wird.]

*

Jochen leidet am absehbaren Ende der Lektüre. Wie sähe das Leben in einem Jahr aus, wenn es ihn dann noch gäbe? Depressiv oder Luhmannianer? Zumindest das Luhmannprojekt scheint eingeschlafen zu sein. Falls er es in Angriff genommen haben sollte, um seinen Kummer damit abzutöten, war es auch die falsche Wahl der Waffen. Eines von Luhmanns eher unscharfen Büchern. Ich finde seine Werke überhaupt erst ab den 90ern lesbar, so alt musste er werden, um locker und souverän mit der eigenen Begrifflichkeit umzugehen. Was er in den ihm verbleibenden Jahren dann noch geschaffen hat, dafür bräuchten andere sechs Leben.
Das Happy End sei "in unserer Kultur desavouiert". Jochen zitiert Dido und Aeanas, Werther, Jesus. Dabei wird doch gerade die Jesus-Geschichte in "unserer Kultur" als Happy End angesehen, denn sie endet ja nicht mit der Annaglung, sondern der Auferstehung (was eigentlich noch märchenhafter als die 1001 Nacht Geschichten ist). Ich würde es sogar anders herum sehen: Es ist fast unmöglich geworden, noch eine echte Tragödie zu erzählen. Selbst "Schindlers Liste" endet happyendig. Und in der Literatur? Kann man da überhaupt vom Happy End sprechen? Stammt der Begriff nicht aus der Film-Welt? Rasches Wiki-Googeln ergibt: Ja. Und: Es ist ein Schein-Anglizismus.

*

J.S.: "Viele Jahre hat Marcel im Sanatorium verbracht, nun kehrt er zurück nach Paris." Hab ich was verpasst? Wo sind wir? Wann sind wir?
J.S.: "Unterwegs zu einer Soirée des Prinzen von Guermantes erreicht er im Wagen die Champs-Elysées." Ich muss mir auf den letzten Metern eingestehen, dass ich immer noch nicht verstanden habe, welche Rolle der Adel im Frankreich der Jahrhundertwende spielt, ich hatte immer angenommen, die wären alle geköpft oder enttitelt worden. Aber wenn ich ehrlich bin, könnte ich das nicht einmal von Deutschland sagen. Aber wahrscheinlich läuft es auf genau das, was Marcel beschreibt: Salons unterhalten, Kunst fördern, Stil und Haltung bewahren, obszön reiche Stiftungen für kleine, aber enorm wichtige Zwecke gründen, Wagner-Opern besuchen.
J.S./M.P.: In einer Kutsche sitzt ein Mann mit weißem Haar und langem, weißem Bart, es ist Charlus, der sich nach einem Schlaganfall aufrecht zu halten bemüht, "wie ein Kind, das man zum Bravsein ermahnt hat." Noch ein Geständnis: Alle paar Seiten vergesse ich, wer wer war. Aber von Zeit zu Zeit wird’s einem wieder erklärt. Also Charlus – der masochistische Opa, der darunter leidet, dass man ihn nur noch als Opa wahrnimmt, obwohl er, wie wahrscheinlich jeder Opa, an der Opa-Tragik leidet, sich immer noch wie 25 zu fühlen.

***

Mi, 17.1.07

Anscheinend ist Jochen sehr in Sorge, dass die Videoprojektionen für die Weltchronik nicht funktionieren. Man spürt die Nervosität in den scheinbar harmlosen Fragen zu Technik.
Zwei Mails, die zeigen, dass ich schon wieder ungefragt in Newsletter-Verteilern gelandet bin. In einem wird der scheinbar individuelle Empfänger angeduzt, obwohl sämtliche hundert Empfänger sichtbar sind.

Ein knappes Jahr ist vergangen, seit ich den Waschtrockner gekauft habe. Kurz vor Garantieablauf gibt er auf, der türkische Händler holt ihn zur Reparatur ab und sagt dabei Freundlichkeiten in angepisstem Ton. Wir bemühen uns, das als interkulturelle Missverständnisse einzuordnen.

*

Überraschende Behauptung bei Jochen: "Die Welt der Kneipentische, von deren Schätzen ich aufgrund meiner angeborenen Alkoholunverträglichkeit leider immer weitgehend ausgeschlossen geblieben bin." Dabei gibt es unter den Lesebühnenautoren nur wenige, die keinen Alkohol trinken, davon die meisten, weil sie trocken bleiben wollen. Und außer mir wohl niemanden, der erst nach der Lesung trinkt.
Wo Jochen Wörter zum ersten Mal aufschnappt – Bestseller, Macke, urst, Lunte, Rowdy, feuchter Kehricht, Bastonade, Oxer, Striptease.
"Urst" habe ich ebenfalls im heute nicht mehr gebräuchlichen Zusammenhang "Ditt is urst!" gehört. Im Kindergarten, wo ich auch das erste Mal von "echten Steinen" erfuhr. Spezialisten erkannten sogar den Unterschied zwischen "Feuersteinen" und "echten Steinen". Ich gehörte nicht zu ihnen. Das Mosaik, aus dem Jochen, wie ich auch, von der "Bastonade" las, ist übrigens auch Schuld daran, dass ich, wenn ich nicht aufpasse, mir beim Wort "Türke" immer einen Menschen mit Turban vorstelle – ein Opfer der Prototypensemantik oder der Schablonenhaftigkeit der DDR-Comics?

*

J.S./M.P.: "Analyse der Natur des Glücks, die ihm die Madeleine-Eindrücke verschaffen, nämlich daß er in ihnen "die Essenz der Dinge genießen konnte, das heißt außerhalb der Zeit."
So weit, so gut; aber er geht einen Schritt weiter – das momentane Erleben zählt gar nicht: "Alle anderen Vergnügungen, wie große Gesellschaften oder Freundschaft, sind nur Täuschung. Wer mit Freunden redet, erliegt dem Irrtum eines Narren, "der etwa glauben würde, die Möbel könnten leben und mit ihm sprechen.""
Abgesehen davon, dass auch das Mit-Möbeln-Sprechen ein Quell der Freude sein kann, (warum sollten Madeleine-Eindrücke weniger närrisch sein?) Es ist alles eine Frage der Bewusstheit der Wahrnehmung. Bin ich wach genug beim Imaginieren, beim Bücherlesen, beim Sprechen mit Freunden. All das kann oberflächliches Plappern, dümmliches Entertainment oder dunkles Starren bleiben – oder eben produktives, buntes Leben.

***

Do, 18.1.07

Logge mich in einem Mieterforum ein. Die Türen dieser Wohnung treiben mich in den Wahnsinn. Mindestens ein Mal am Tag stoße ich mir den Kopf auf dem Weg ins Bad, ins Schlafzimmer oder ins eigene Zimmer. Ich habe das Gefühl, geduckt durch meine eigene Wohnung zu laufen. Angeblich ist das aber meine Sache. Wenn ich die Wohnung bei Besichtigung so akzeptiert habe, muss der Vermieter nichts ändern. Heißt das, die Vermieter könnten theoretisch auch 1 Meter hohe Türen einbauen?
Robert hat erst PC-Probleme, die es ihm verbieten, Musik aufzulegen. Dann gesundheitliche Probleme, die es ihm verbieten vorzulesen. Ein starker Wind pumpt sich auf zum Orkan. Stephan, der den kürzesten Weg zum RAW hat, befürchtet (zu Recht?), davongeweht zu werden ("von einem von einem baum erschlagenen oder weggewehten stephan habt ihr ja auch nichts"). Sind wir anderen zu leichtsinnig? In Darmstadt hatten wir auch bei Orkan gelesen. Man geht immer davon aus, dass Brände, Überschwemmugen, Orkane, Erdbeben in anderen Teilen dieser Welt stattfinden, so als ginge es einen nichts an, was die Natur da an Kapriolen vollzieht. Jochen dazu: "daß wegen sturm veranstaktungen ausfallen habe ich noch nie gehört." Volker: "absagen wegen Sturm? So ein Blödsinn." Im U-Boot wird berichtet: "Alle kommunalen
Sportstätten inklusive Schwimmbäder sind geschlossen worden und die TU hat auch sämtliche Sportkurse abgesagt.", "Laut Spiegel herrscht auf den Berliner Straßen eine gespenstische Leere.", "dass die BVG um 20 Uhr ihren Betrieb einstellt".
Y. lädt wieder zu einer seiner Shows ein. Es kling fröhlich, verbindlich. Es wänken 50 Euro. Er ahnt wohl nicht, was jeder weiß.
Am Abend tatsächlich nur 65 Zuschauer, aber doch noch halbwegs unterhaltsam.

*

J.S.: "Im Internet-Café ganz allein, der Wind reißt die Türen auf. Korrigiere meinen Proust-Eintrag, während der Betreiber höllisch laut Death Metal hört, als könnte die Welt nicht untergehen, solange solche Musik läuft."
Und von all meinen Freunden wäre Jochen der einzige, dem es, wenn er allein im Internet-Café sitzt, peinlich wäre, den Betreiber zu bitten, seine Höllenmucke leiser zu drehen.
Jochen wird zum Klassentreffen eingeladen. Das erstaunlich mangelhafte Gedächtnis der Mitschüler. Ich weiß noch genau, wann wer in unsere Klasse kam und uns wieder verließ, ich weiß sogar noch, wer uns wann in welchem Fach unterrichtete. Aber ein paar Lücken habe ich auch: Wer hat uns in Geschichte und in der 5. unterrichtet? Wie hieß noch mal die attraktive ESP-Lehrerin? Und der witzige Astronomie-Lehrer? Die Hefter alle weggeschmissen, bis auf die aus der Ersten, die meine Notizen ob ihres Niedlichkeitswerts behielten.

*

Prousts Fokus auf die Erinnerung als wesentlichen Teil des Selbstbewusstseins ist inspirierend, die Ausschließlichkeit provokant: "nicht die alten Bücher wieder in die Hand nehmen, weil "solche vom Geiste hinterlassenen Bilder vom Geiste ausgelöscht werden. Den alten schiebt er neue unter, die nicht mehr die gleiche Macht der Wiederauferweckung haben." Das war immer meine Angst, neue Bilder über die alten zu legen." Aber selbst die alte Erinnerung wird geformt, wie uns die neuere Psychologie und Hirnforschung lehrt. "Zeitzeugen" sind deshalb für Historiker meist ein Greuel, weil sie oft mehr verfälschen als zur Wahrheit beitragen. Man könnte es auch so sehen: Goethe hat es nicht verdient, dass seine Gedichte nur von Schulkindern gelesen werden. Und ich schulde es mir selbst, neu zu lesen. Denn die Zeit und das Erzählen filtern ebenfalls. Wenn ich alte Zeitschriften in die Hände bekomme oder Bücher lese oder oder oder, es ist doch ernüchternd, manchmal heilsam, manchmal schmerzhaft, zu sehen, wie einen die Erinnerung trog.

12.-15.1.2007

Fr, 12.1.07

*

Archäologie des Jochen Schmidt. Wäre es möglich, einen Lebensstil nachzuvollziehen, anhand des Müllbefundes? 52 Objekte. Auffällig die Wiederholungen:
– 1 Bananenschale
– 2 Bananenschalen
– 1 Bananenschale
– 1 Bananenschale
– 1 Bananenschale
– 1 flüssig gewordene Banane in einer zugeknoteten Plastetüte
– 1 Verpackung Tip Takis Balkankäse
– 1 Verpackung Tip Takis Balkankäse
Fast alles sind Nahrungsmittelreste oder Verpackungen von Nahrungsmitteln. Ausnahmen:
– Papiertaschentücher
– Shampoo
– Geschenkband
Differenzen. Was man in meinem Mülleimer nie finden würde:
– Würstchenglas
– Speckziegenkäse
– Grießpudding
– Kaffeeweißer

*

J.S./M.P.: "Zur Phänomenologie des Händeschüttelns: "Einen Augenblick jedoch noch, während er sich von mir verabschiedete, drückte Monsieur de Charlus mir die Hand, als wolle er sie zerquetschen, was eine deutsche Eigentümlichkeit aller Leute ist, die so geartet sind wie der Baron, und ein paar Sekunden noch ‘massierte’ er sie mir, wie Cottard es ausgedrückt hätte, als wolle er meinen Gelenken eine Geschmeidigkeit wiedergeben, die sie durchaus noch nicht eingebüßt haben.""
Es gibt Techniken, sich vor dem Zerquetschtwerden zu schätzen, z.B. so tief wie möglich in die Hand des anderen zu greifen und dabei selbst recht fest zuzudrücken. R., den ich drei Mal pro Jahr treffe, ist dazu in der Lage, diese Defensive auch noch aufzubrechen. Schön auch in Anonymus’ Mit aller Macht: "Wir gaben uns die Hand. Es ist bedauerlich, daß ich mich an diesen Moment nicht deutlich erinnere: Das Händeschütteln ist der Schwellenakt, der Beginn aller Politik. Seither habe ich ihn millionenfach Hände schütteln sehen, trotzdem könnte ich nicht sagen, wie er es macht, das mit der Rechten. Aber ich kann einiges darüber sagen, was er mit der anderen Hand tut. Mit der ist er ein Genie. Er faßt dich am Ellbogen oder weiter oben am Bizeps: Er interessiert sich für dich; es freut ihn, dich kennenzulernen. Wenn er noch höher geht, wenn er dir etwa den linken Arm um die Schulter legt, ist das irgendwie weniger intim, ehr beiläufig."
J.S.: "Unter der makellosen Sichel des Monds geht Marcel, wie ein Kalif aus seinem geliebten "Tausendundeine Nacht" durch das düstere und verdunkelte Viertel, und gelangt schließlich auf der Suche nach Bewirtung an ein zwielichtiges Hotel, das auf ihn wie ein Spionagenest wirkt."
Auf den letzten Seiten noch diese Überraschung: Es gibt eine Klammer zwischen dem Proustblog und dem 1001-Nacht-Blog, den ich wenige Wochen vor Jochens Lektüre dieser Zeilen begonnen hatte. Mit "ein Kalif" ist natürlich Harûn er-Raschîd gemeint, dem man, wie schon erwähnt, unterstellte, mit seinem Schwertträger und seinem Wesir in verschiedenen Verkleidungen die Stadt zu durchforsten. Der Unterschied zu Marcel ist natürlich, dass der Kalif seine Beobachtungen in Handlungen umsetzen kann. Man hat ihm auf diese Weise Volksnähe attestiert, die er nie hatte. Vermutlich kam er so gut wie nie aus seinem Palast hinaus, von ein paar Feldzügen abgesehen. Die Kehrseite ist natürlich das Gefühl der Überwachung. Das Motiv hätte auch gut zu Stalin passen können. Und tatsächlich gibt es auch ein lächerliches Propagandafilmchen über Ulbricht in den frühen 60er Jahren, die ihn zeigen, wie er im Auto durch die DDR fährt, und in Betrieben, Behörden und Häusern nach dem rechten sieht, und eben auch kurzerhand mal eine schlampig arbeitende Sekretärin entlässt.
Das "zwielichtige Hotel" beherbergt offenbar einen S/M-Schuppen, in dem sich Charlus foltern lässt.
J.S.: "Überraschende Information: – Marcel läßt nebenbei fallen, daß er irgendwann beim Militär war.", was man sich aber eigentlich die ganze Zeit schon gefragt hatte.

***

Sa, 13.1.07

Ikea. Sammle mich, um ruhig zu bleiben und mich nicht von der Hektik der anderen anstecken zu lassen. Es gelingt mir 90 Minuten, dann habe ich keine Nerven mehr, mich auf Neues einzulassen oder auch nur meine Phantasie anzustrengen, um mir vorzustellen, wie irgendetwas aussehen könnte. Am Ende kaufen wir nur eine Tasche voll Kleinkram. Keine Einrichtung. Diesen Ikeatrick habe ich auch noch nicht durchschaut. Selbst wenn man nichts anderes kaufen will, geht man doch mit einem Haufen Schnickschnack, der für sich ganz billig wirkte, aus dem Gebäude und hat dann dort doch wenigstens 50 Euro gelassen.

***

So, 14.1.07

*

Selbständig lebensfähiger Absatz des Proust-Blogs: "ich denke nicht, daß Menschen, nur weil sie nicht schreiben, stumm bleiben. Viele Bauwerke, die in den letzten Jahren in Berlin errichtet wurden, kommen mir vor wie der Hilfeschrei eines unglücklichen Architekten. Da hat jemand seinen ganzen Kummer und Weltekel in seine Entwürfe gelegt. Und vielleicht kommt deshalb auch manchmal die Bahn zu spät, oder man wird auf einem Amt schlecht behandelt. Alles Liebeskummer. Nur daß, was den einen unsterblich macht, den anderen zur Plage für den Kunden werden läßt."
J.S.: "Sie kommt genau dann wieder, wenn sie spürt, daß du dich endgültig von ihr freigemacht hast, hat man mir gesagt. Das klingt immer, als sei meine Leidenschaft ein Grippevirus, den man auskurieren kann. Dabei denke ich immer noch an meine Krankenschwester von vor 17 Jahren…" An die unerfüllten Lieben denkt man wahrscheinlich sehnsüchtiger als an die gescheiterten. Sie erscheinen wie unausprobierte Lebensentwürfe, die einen im besten Falle daran erinnern, wenigstens einen durchzuhalten. Für mich war es immer gleich attraktiv, junger Vater zu sein oder das promiskuitive Leben eines Rockstars zu führen, und jetzt war ich weder das Eine noch tue ich das Andere. Ich werde wohl nie Bergsteiger werden, was mich nicht beunruhigt, aber ich werde auch nie ein Jahr lang auf einem Boot über Wasserstraßen die Länder Europas besichtigen. Ich werde kein großer Pianist mehr sein, und auch kein großer Sänger, kein Jurist. Ich werde nicht in den USA studieren, ich werde kein Leichtathlet. Und ich werde nie erfahren, wie es gewesen wäre, wenn ich es geschafft hätte, X zu überreden, mich zu ehelichen. Solche Gedanken lassen sich relativieren durch die Negativszenarien – ich wäre ein unreifer Vater gewesen, wäre als Penner geendet, wäre ein verstaubter Jurist, ein nur halbwegs guter Sänger, der Angst haben muss, von der Kleinstadtbühne entlassen zu werden, ich hätte dopen müssen, oder würde an X Alimente für unsere früher niedlichen, jetzt aber mit zig Traumata belasteten Kinder zahlen. Oder man fokussiert auf das Glück der Gegenwart: Ein schöner Beruf, eine schöne Arbeit, eine schöne Freundin, ein Körper, dessen Ausfälle sich in Grenzen halten, gerade so viel Geld, dass man sich nicht zu sorgen braucht, ob es noch reicht und nicht so viel, dass man sich fragen muss, ob man es denn auch wirklich gut angelegt hat.

*

Zärtlichkeit entsteht im Luftschutzkeller wie im Darkroom – man überspringt das Vorgeplänkel

***

Mo, 15.1.07

Eine jener Anfragen an die Chaussee, die eher abschreckt als neugierig macht:

"gern würde ich in Erfahrung birngen, ob ihr euch grundsätzlich – und nach genauer Inaugenscheinnahme des speziellen Vorhabens natürlich- vorstellen könntet, eure Donnerstagsveranstaltung einmal in einen  Ausstellungskontext zu transferieren und bei anderen zu Gast zu sein. Wir sind eine Gruppe von Künstlern und Projektmanagern, die bei der NGBK für 2008 eine Ausstellung mit dem Arbeitstitel "Oasen in den Wüsten (nicht-)medialer Kommunikation" planen und zur Förderung eingereicht haben. Da die nun folgende Recherchephase nicht nur Künstlerauswahl etc erfordert, sondern auch das ausstellungsbegleitende Rahmenprogramm gedanklich vorbereitet werden will, würden wir uns lieber früher als später mit euch austauschen, ob so etwas denkbar wäre."

Jeder einzelne dieser verbalen Attacken lässt das künstlerische Immunabwehrsystem auf Hochtouren laufen:

  • "in Erfahrung bringen"

  • "Inaugenscheinnahme"

  • "eure Donnerstagveranstaltung"

  • "Ausstellungskontext"

  • "Projektmanager"

  • "NGBK" [als ob man diese Abkürzung kennen müsste]

  • "Recherchephase"

  • "Rahmenprogramm"

Die Krönung ist natürlich der Arbeitstitel. Klammern in Titeln sind natürlich ohnehin absolut Tabu. Dann aber noch ein "nicht". (nicht-)mediale Kommunikation? Was denn nun – medial oder nicht-medial? Und was sind bitteschön Kommunikationswüsten. Gibt’s da gar keine Kommunikation? Oder total viel (analog zu "Sandwüsten")?
Diesmal ist es Jochen, der trotzdem höflich antwortet.
Andererseits, man weiß nie, was dann wirklich dahintersteckt. Vor längerer Zeit schrieb uns ein Praktikant an, dessen Gruppe ein Comedy-Format für MTV entwickeln wollte. Ich war der Einzige, der sich hatte breitschlagen lassen – übernächtigt und unvorbereitet las ich ein eigentlich sehr lustiges Gedicht in die Kamera, das keiner witzig fand. Die Toningenieurin hat fast gekotzt. Später wurde daraus Comedy Central. Ohne uns.
Man weiß ja inzwischen, dass die Telekom mit dem sozialen Phänomen Wohnungswechsel überfordert ist. Aber dass wir erst jetzt – nach drei Wochen – einen Anschluss bekommen, ist schon überraschend, und dann auch noch die falsche Nummer. [Nachtrag 2009: Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahne – die Organisation unseres DSL-Anschlusses wird 9 Monate in Anspruch nehmen.] Aber was sind schon drei Wochen im Gegensatz zu 16 Jahren? So lange mussten meine Eltern auf ihren Telefon-Anschluss in der Wilhelm-Guddorf-Straße warten. Angeblich litten wir unter der unmittelbaren Nähe der Stasi-Hauptzentrale, die all die Anschlüsse benötigte. Wozu nur?

*

Die Liebe zu Tarkowskij-Filmen. Oder war es die Liebe zu Filmen, die im Babylon gezeigt wurden? Bei mir begann die Babylonphase 1985 und endete kurz nach der Wende, als Alternativkultur an zu vielen Orten geboten wurde, als dass man sich aufs Babylon beschränken wollte. Vielleicht ist das so wie mit den hartnäckigen Stammzuschauern bei der Chaussee der Enthusiasten. Gerade die eingefleischten Zuschauerinnen, die fast jede Woche kommen, sind dann eines Tages für immer weg. Ich hab mir in der Zeit alles angetan – thematische Reihen und Reihen zu Regisseuren, ab und zu ein Stummfilm. Man kann sagen, dass ich dem Babylon mindestens ein Viertel meiner Filmbildung verdanke (obwohl sie dort wahrscheinlich "kinematographisch" sagen würden). Bunuel, Eisenstein, Fritz Lang, Valentin, Marlene Dietrich, Chaplin. Tja, und dann gab es Tarkowskij. Stalker mochte ich. Bei "Andrej Rubljow" bin ich eingeschlafen. Und bis eben dachte ich, "Agonie" wäre auch von ihm. Der einzige Film, bei dem ich während der Vorstellung aus dem Babylon gegangen bin.

*

Über Ausdifferenzierung des Angebots in der pornographischen Industrie. J.S.: "Wobei mir diese Kombination von Reizen immer zweifelhaft vorkam, wie es doch auch verlogen scheint, Pizzen Namen zu geben, wenn sie sich nur in der Kombinatorik ihrer Zutaten unterscheiden, weil eine Pizza in meinen Augen noch keine zu einem Namen berechtigte Individualität besitzt, wenn sie statt mit Pilzen, Oliven und Schinken mit Pilzen, Oliven und ohne Schinken serviert wird.
Es fragt sich dann natürlich, ob das Gericht "Pizza" über genügend Individualität verfügt, um den Namen "Pizza" zu tragen.
Saint-Loup ist gefallen.

9.1.-11.1.06

Di, 9.1.07

Allmählich lichten sich die Kistenstapel, und so erscheint mein Zimmer grau, im Gegensatz zu Steffis, wo ein lebensfrohes Orange dominiert.
M im Krankenhaus. Wir drücken die Daumen. Was sonst könne wir jetzt tun?
B. in Berlin. Nicht viel Zeit, um die wichtigsten Informationen abzugleichen. Freundschaft braucht auch immer gemeinsames Erleben. Wenn man nur vom Alten zehrt, dünnt die wärmende Decke aus. Diskutieren über Religion. Ein ungünstiger Zeitpunkt. Er ist ein großer Fan von Benedikt. “Deus caritas est”. Ich will ihm ja nichts kaputtmachen, aber gegenwärtig geht mir beim Thema Kirche das Messer auf.
Sch.s Übersetzungen, den ich als Fachmann gebeten hatte, wirken bizarr; das, so denke ich, hätte ich besser hingekriegt. Vier Monate habe ich darauf gewartet. Wie ihm sagen, ohne ihn zu verletzen?
Anfrage, ob die Website Jurtenland meinen Pfadfindertext benutzen darf. Erstaunlich.
Wurschtelnde Mails, wie wir nach Neubrandenburg kommen, wer was wie ausdrückt, was eindeutig und was missverständlich sei.

*

Vielleicht braucht ja Jochen tatsächlich die Katastrophen und Depressionen, um schreiben zu können. Die Dichte der herausragenden Texte nimmt in Schmidt liest Proust gegen Ende deutlich zu. Hat er seine Antenne für negative Empfindungen derart sensibilisiert, so dass das Schöne nur noch als Vergangenes wahrgenommen oder als Utopie projiziert werden kann? Die zum Haare sträuben aufregende Geschichte eines Draufgängers, der mit dem SV-Ausweis durch die Sowjetunion reist, ist für ihn nur erzählenswert, weil er sich fragt, ob “sie” lieber solch einen Mann hätte haben wollen. Man könnte es natürlich auch als erzählerischen Trick auffassen – das lyrische Ich wird doppelt interessant durch den Vergleich mit solch einem Typen.

*

Saint-Loup auf Fronturlaub. Ästhetische Betrachtung á la Jünger, ob die Kriegsflugzeuge beim Starten oder beim Landen besser aussehen. Und Jünger war eben nicht der Erste. Vielleicht wäre Proust als Soldat der französische Jünger geworden? Oder ist es überhaupt die gleiche, ästhetisierende Sichtweise, nur von der anderen Seite, nämlich des Daheimgebliebenen? J.S./M.P.:”Madame Verdurin betrachtet den Krieg im übrigen “als eine Art von gigantischem ‘Langweiler'”, der ihr ihre Getreuen abspenstig macht.”

***

Mi, 10.1.07

Schöner Auftritt an der Hochschule Neubrandenburg. Die Organisatoren müssen einen ihrer Professoren auch auftreten lassen, sonst hätte es wohl nicht mit der Finanzierung geklappt. Irgendwie hatten sie nicht recht verstanden, dass wir dort weder eine Unterkunft haben noch selber mit dem Auto zurückfahren. Recht unkompliziert ist die Lösung: Man fährt uns nach Hause. Auf der Landstraße überrollen wir einen Fuchs. Es fühlt sich harmlos an, wie eine Schwelle, und doch ist jetzt ein Leben vorbei. Man ist müde, einige wurden aus ihrem Schlummern geweckt, und man grinst ein wenig verstohlen, wie Kinder, die ein Tier getötet haben.

*

Jochen über die Entstehung der “Weltchronik” ist ein Lob auf Falko Hennig und dessen Erfolglosigkeit. Einer von Falkos Lieblingstexten ” Wiedersehen in der Hölle – Stefan Meiser” ist fast eine Eigensatire. J.S.: “Seine Chronik ist ein Lebensroman von Katastrophen, Zumutungen und Selbstbeschwörungen zur Arbeit, sie enthält aber auch herrliche Beschimpfungen, Drohbriefe und Krankheitsbeschreibungen. Die tröstliche Komik des Lamentos ist hier zu bewundern.”
Dass die Weltchronik gescheitert ist, ist wirklich sehr, sehr schade. Es wäre zu einfach, es an der Pointe festzumachen, dass Jochen es ja hätte wissen müssen, wenn er sich mit ihm zusammentut, aber das wäre unfair, denn die beiden haben in das Projekt mehr Arbeit und Geld hineingesteckt als in sonst eine Veranstaltung. Es scheiterte dann wahrscheinlich weniger an den Absagen der Promis, von denen man sich Zulauf versprach, sondern wie so oft am Detail – dem inkompetenten Techniker, dem mangelnden Timing, der Fahrigkeit auf der großen Bühne. Der Abend, den ich erlebt hatte (mit Gaststar Katrin Passig) war eigentlich sehr schön und sogar aufregend, aber wenn man im großen Babylon sitzt, erwartet man schon, dass das Licht im Zuschauersaal abgedimmt wird…

*

Cottard ist zwei Mal gestorben und zwei Mal wiederauferstanden.
Charlus behauptet, die Herrscher Österreich-Ungarns, Deutschlands, Bulgariens und Griechenlands seien alle “so”, was ihre Allianz begründet.

***

Do, 11.1.07

Fast mechanisch tippe ich die Worte “Open Space Project” in die Tastatur. Schon gehen bei mir die Assoziationen los: Ein völlig neues künstlerisches Projekt, das improvisatorische Fähigkeiten auf allen Ebenen miteinander verschmelzen soll. Etwas völlig Neues starten, das auch wirklich trägt, anstatt sich mit Pillepalle rumzuschlagen. [Nachtrag 2009: Ein wirkliches Improvisations-Institut wäre ja der Traum, vielleicht mit einem ähnlichen Anfangs-Drive wie bei Compass, und eben auf allen künstlerischen Levels und in allen Disziplinen. Genaugenommen ist ja sogar der Blues Brothers Film eine Folge dieses Schwungs der späten 50er. Aber man stößt eben doch hauptsächlich auf Leute, die in “Strukturen” arbeiten: Theaterprojekte, Förderanträge, Schulkooperationen usw. Staub statt Witz. Immerhin haben wir heute Foxy, was mehr Möglichkeiten eröffnet als jedes Impro-Projekt zuvor.]
Bei meinem Text komme ich nicht über die ersten drei Wörter hinaus. Jochen hingegen macht allein aus dem Umstand, dass er bei dem Auftritt (aus seiner Sicht!) nicht so gut ankam und wir auf dem Rückweg den Fuchs überfahren haben fast eine Story!
Zum Mothers-Little-Helpers-Managment, die auf einem Schiff auf der Spree sitzen. Es ist dunkel. Schneeregen. Finde es nicht und werde nass. Nach 20 Minuten Herumirren im Park habe ich es. Das Schiff voller Musikerdevotionalien. Goldene Platten der Ärzte, Plakate, massenhaft Presseausweise und VIP-Plaketten vergangener Konzerte. Normalerweise würde ich ihm das Geld geben, mir die Rechnung geben lassen und verschwinden, wärme mich aber erst mal auf und überbrücke mit Smalltalk.
Eigentlich eine angenehme Show, aber ich verzettele mich mit meinen Ansprüchen und denen der anderen: Auflegen, weil Robert Musik vergessen hat, mp3 rippen für Jochen, Bohni will eine DVD zeigen, ich will parallel meinen Joggingfilm zeigen, den Doppelbildschirm nutzen und an die Wand projiziert in Word Kommentare schreiben. Mein Laptop fängt an, mir leid zu tun.

*

Jochen wie gesagt über seinen scheinbaren Misserfolg. Für eine kleine Depression genügt bereits,

  • dass er nur den zweitstärksten Applaus bekommen hat oder
  • dass ein absichtlich pointenarmer Text leises Schmunzeln statt schenkelklopfendes Lachen hervorgerufen hat oder
  • dass unter den zehn Frauen, die nach der Lesung das Gespräch mit ihm gesucht haben, nicht diejenige dabei war, von der er sich das gewünscht hatte oder
  • dass sie, falls sie doch dabei war, sich dadurch diskreditiert, dass sie “an Ostern” sagt.

Seltsamerweise liebt er es, sich gewohnheitsmäßig mit dem Faecke-Zitat “Erfolg ist immer ein Mißverständnis” (oder ist das von Müller?) zu trösten. Natürlich kann es ein Missverständnis sein, aber es ist dem Künstler auch möglich, mit den verschiedenen Vorkenntnissen inhaltlicher oder formaler Art zu spielen, wie man eben z.B. bei Mozart sehen kann: Viele Werke locken einen mit einfachen, fast kindlichen Motiven und man wird regelrecht ins Mozartsche Universum der Dissonanzen hineingerissen, um später wie ein aus dem Trance Erwachter, sich die Augen zu reiben und “War was?” zu fragen. Ähnliches gilt natürlich auch bei Goethe, vor allem seinen Gedichten. Aber hier findet man auch das Gegenbeispiel: “Faust 2”, den man zwar immer wieder versucht aufzuführen, der aber eigentlich als Theaterstück nur im Kopf funktioniert, wenn überhaupt.
Nicht nur, ist das Glas halbleer, es tut einem leid, dass er nicht einmal das halbe Glas genießen mag.

*

Charlus macht Marcel beim Spaziergang durch Paris darauf aufmerksam, wie unattraktiv die Stadt aus schwuler Perspektive geworden sei.

5.1.-8.1.07

7. Buch: Die wiedergefundene Zeit

Fr, 5.1.07

Stehe nach 6 Stunden Schlaf auf, und mir ist alles zuwider: Die Wohngegend, die Zukunft und Gegenwart der Bö, dass ich mit meinem Geschreibe nicht vorwärts komme, dass mein Schreibtisch wieder wie Müll aussieht, dass es keinen Schnee gibt, dass meine Sachen immer noch unausgepackt rumstehen, dass die Wohnung definiert wird durch ihren Kleinkram. Hab ich meine Tage?
Im Laufe des Tages bekomme ich doch einen Arbeitsanfall und räume sieben Kisten aus.
Und der Tag endet versöhnlich mit einer schönen Dunkeltheater-Show – mitmachfreudiges, niveauvolles Publikum und ein Abendessen mit Steffi beim Mexikaner.

*

Er habe seinen Steuerberater nicht wechseln gewollt, weil dann die Angestellte enttäuscht sein könnte. Schönes psychologisches Rätselraten: Ist das nun pointierte Soziophobie oder als pointierte Soziophobie getarnte Trägheit?
Bis auf das allererste Mal habe ich es auf eine gewisse Weise auch immer als befriedigend empfunden, die Steuererklärung selbst anzufertigen. Inhaltlich ist das mit der Software heute ja kein Problem für Freiberufler, sofern man nicht gerade nebenbei mit Immobilien, Abschreibunsgobjekten usw. handelt. Man lässt das Jahr noch einmal vorbeiziehen, die Einnahmen erinnern einen an schöne Auftritte oder Veröffentlichungen, die Ausgaben richten die Aufmerksamkeit auf schöne oder notwendige Anschaffungen. Ein persönlicher Jahresrückblick, den man sich nicht von Zetteln, Belegen und Zahlen trüben lassen sollte. Die Hälfte der Kollegen verstaut Belege, Quittungen und Rechnungen in Schuhkartons, die sie dann dem Steuerberater übergeben. Als ob schon das schiere Lochen und Einheften eine des Künstlers unwürdige Arbeit sei. Aber natürlich ist meine Haltung zumindest ungewöhnlich, und ich kann hier einen gewissen Hang zum Strebertum nicht abstreiten, denn in diesem Jahr [2009] habe ich mir die Steuer-CD schon Anfang Januar gekauft.
Der Refrain von Jochens Mutter sei “Frauen wollen Sicherheit”. Jochen interpretiert das finanziell. Sicherlich meint sie es auch so, vielleicht denkt sie aber eher an die Hausratversicherung.
Am Ende des Lebens schaut man auf das verpfuschte Schicksal zurück und macht seine Verwandten dafür verantwortlich. Und wenn von denen keiner mehr lebt, muss eben die Nichte hören, dass ihr Vater es besser hatte, der ja, da er Tanzunterricht genossen habe, auch eine Frau finden und also heiraten und also eine Familie gründen und also ein glückliches Leben führen gekonnt habe. Und so gibt sie nun an Jochen skurrile Ratschläge weiter.
Selber erwärmt sie sich gerade lieber für den TV-Liebeskummer als für den ihres Sohnes. Womit sich der Kreis schließt.

J.S./M.P.: “Ich werde zum Schreiben niemals befähigt sein”, kein guter Satz für die erste Seite eines Buchs, würde man heute sagen. Oder es ist eine gezielte Demütigung desjenigen Lesers, der sich schon durch sechs Bände gekämpft hat. Oder es ist noch einmal ein Spreu-vom-Weizen-Filter, durch den nur die hartgesottenen Proust-Fans kommen, die nie einen Funken Zweifel an Prousts Schreibbefähigung gehegt haben.

***

Sa, 6.1.07

Lasse meine verflossenen Beziehungen im Geiste vorbeiziehen und beobachte, dass keine von diesen Frauen eine Schwester hatte. Wenn das mehr als ein Zufall sein sollte, so müsste man fragen, ob Frauen mit Schwestern mich abstießen oder ob diese mich unattraktiv fanden. Aber ich weiß ja nicht einmal, was Frauen mit Schwestern auszeichnet. Ein Artikel in Die Freundin hilft da auch nicht weiter mit den küchensoziologischen Betrachtungen.
Alle paar Monate bekommt man von Studentinnen Fragebögen zugeschickt. Meist geht es um die Situation Kultur-, Theater- oder Literaturschaffender in Friedrichshain. Manchmal will man ihnen ja helfen, aber wenn ich dann die Attachments ausgepackt habe (die ich dann auch noch ausdrucken, ausfüllen, eintüten und per Post zurückschicken müsste, da ich keine Acrobat-Profi-Version habe, die ausgefüllte Formulare speichern würde), müsste ich auf 90% der Fragen mit “trifft nicht zu” antworten. Methodisch kräuseln sich meinem Soziologen-Ich bei diesen Fragebögen ohnehin die Zehennägel. So auch heute.

*

J.S.: “Heute denke ich, daß es vielleicht ein Fehler war, mich nie für Autos zu interessieren. Wenn es mir kein Glück gebracht hat, mich in der Sprache der Frauen zu üben, sollte ich vielleicht die Sprache der Automobile lernen und die Autobeilage der Berliner Zeitung lesen”.
Es folgt die typische Poesie (oder das Kauderwelsch – je nach Perspektive) einer Beilage oder Zeitschrift, die sich mit Technischem befasst.
Und doch ist es wohl immer noch ein Unterschied, ob der man sich für Autos oder für Software interessiert. Autonarren werden seltener als Nerds angesehen, vielleicht weil die Beschäftigung mit schwerem technischen Gerät eher körperlich konnotiert ist. Wem würde man eher Masturbations-Sucht unterstellen – dem KFZ-Mechaniker oder dem Programmierer?

*

J.S./M.P.: “Außerdem ist er lediglich “unfähig, selber etwas zu sehen, wonach nicht durch meine Lektüre das Verlangen in mir wachgerufen wäre und wovon ich mir nicht im voraus eine Skizze angefertigt hätte.” So ist es immer beim Reisen, man muß von den Orten schon geträumt haben, und auch der Tag gewinnt, wenn man gewohnt ist, darüber zu schreiben. Kommen alle Interessen aus einem selbst und müssen sie mit der eigenen Herkunft in Beziehung stehen (mit anderen Worten: wird mich Asien jemals interessieren?)”
Diese Frage dürfte sich für Jochen geklärt haben. Im Herbst 2007 erreichte uns die Einladung des chinesischen Goethe-Instituts, aber erst als wir in Shanghai landeten, war unser Interesse wirklich geweckt. Man kann sich Orte, Erlebnisse (oder wie bei Marcel die Berufung) zurechtträumen, und dadurch erhält das tatsächliche Erlebnis einen bestimmten Schwung, aber enttäuscht wird man so oder so. Sich immer wieder neu zu öffnen, ist die große Kunst des Alters.
Aus dem Blog (nicht im Buch): “die Gemütsarbeit, die ich leisten mußte, um mir Mannheim zu einem Erinnerungsort umzuschaffen.”
Für das Kind ist es relativ wurscht, ob es in Mannheim, Berlin-Buch, Prenzlauer Berg oder Rosenheim aufwächst. Die Welt an sich ist spannend. Unsere Urteile fräsen sich aber zu tief ein, (und seien es die Urteile über Mannheim und Asien), um die Orte auf sich wirken zu lassen.

***

So, 7.1.07

ich liege noch im Bett, als K. klingelt, um den Schrank, an dem auch so viele Erinnerungen hängen, abzuholen. 20 Mark hatte ich für das IDEAL-Poster bezahlt, das sich darauf richtig schön machte. Von Fats Domino gab’s keine Poster, also musste ich mit dem 3x3cm-Mini-Bildchen aus der Melodie&Rhythmus vorlieb nehmen. Ich bitte um Ruhe, aber die beiden Mädels zerren ihn schon in den Flur, im Glauben, ihn zu zweit die Treppen runterwuchten zu können. Resigniert ziehe ich mich um und packe mit an. Prompt verletze ich mich: Mein Daumen wird zwischen Wand und Schrank eingequetscht und schrappt an der geriffelten Wand des Hausflurs entlang. Eine schöne Art, den neuen Tag zu begrüßen.
Wir frühstücken in Ruhe weiter.
Es ist anstrengend und aufwendig, die Persisch-Tastatur zu bedienen und ich fürchte, diesen Teil der 1001-Nacht-Lektüre-Aufgabenliste nicht durchzuhalten.
Langer Winterspaziergang im Treptower Park. Ausführliches Trost-Bad in der Wanne. Was für ein Luxus, und für wie selbstverständlich ich den in der Guddorfstraße immer hingenommen habe!

*

Ein ausgekoppelter Hit-Text: “Ich bin der…”

*

Man schreibt das Jahr 1916, Marcel bedauert die Soldaten, die auf Fronturlaub durch die Fenster der Restaurants schauen. Der Krieg sei das Thema, dass ihn am meisten beschäftige.
Warum ist Marcel eigentlich nicht an der Front?

***

Mo, 8.1.07

Meine Replik wollen sie bei der Zeitung nicht. Wahrscheinlich haben sie sogar recht. Am Abend Andrés bei uns, der noch bis nach Zwölf Klavier spielt – beim langsamen Satz der Sonate Facile kommen mir die Tränen.

*

Quälende Texte für Jochen im Lateinkurs – der Raub der Sabinerinnen (bei Jochen “Sabinierinnen”)
Auch Roms Geschichte beginnt (wie die der Menschheit im Alten Testament) mit einem Brudermord. Aber im Alten Testament treibt den Mörder Neid an, hier ist es die reine Provokation. Man kann sich vorstellen, dass Remus seinem Bruder beim Überqueren des Grabens noch eine lange Nase machte.

*

J.S./M.P.: “Marcel nennt diese Form sorgsam unterdrückter Neigung zur Männlichkeit “hassenswert”. Rührung werde erzeugt, indem man sie verbirgt, das sei “widerwärtig und häßlich, weil nur solche Leute in dieser Art trauern, die der Meinung sind, daß Kummer nicht zählt, daß das Leben ernster als Trennung und alles übrige ist.” Das Ideal der Männlichkeit bei Homosexuellen wie Saint-Loup sei “verlogen, weil sie sich selbst nicht eingestehen wollen, daß physisches Verlangen auf dem Grunde der Gefühle ruht, die sie aus anderen Quellen herleiten.” (Vielleicht spricht hier aber auch ein bißchen der geprellte Nicht-Soldat, denn der Krieg mache “die Hauptstädte, in denen es nur noch Frauen gibt, zu einem verzweiflungweckenden Aufenthalt für Homosexuelle…”) Obwohl Marcel Saint-Loups Haltung unendlich mehr als die von Charlus bewundert, ist doch des einen Verlangen “an den gefährlichsten Punkt gestellt zu werden” im Grunde nichts anderes, als die Bestrebtheit des anderen, helle Krawatten zu vermeiden. Ein interessanter Gedanke, den man Ernst Jünger ins Grab nachrufen möchte.”
Marcels Erinnerungsort Combray ist zum kriegsentscheidenden Schlachtfeld geworden. “So bekommen die persönlichen Erinnerungsorte durch den Krieg im Nachhinein eine historische Bedeutung, wie es bei mir oft genau andersrum geschieht, wenn man um den Schloßteich in Kaliningrad joggt und später nachliest, daß hier die Patienten aus dem benachbarten Krankenhaus, als die Front kam, ins Freie gelagert wurden, wo die meisten starben. Oder sich vorzustellen versucht, wie das Kriegsgeschehen in der dörflichen Gegend ausgesehen hat, die man als Kind besucht hat.”
Man braucht gar nicht so weit wegzugehen. Wer denkt heute noch an die Leichenberge auf dem Alexanderplatz, an die Wasserleichen in den gefluteten U-Bahn-Schächten? Und wem will man dieses Grauen zumuten? Bequemer ist es, dass Gedenken mithilfe von Mahnmalen zu institutionalisieren, die abkürzende Chiffren bieten. Und den Impact des Krieges weniger gewaltig erscheinen lassen.

2.1.-4.1.07

Di, 2.1.07

***

Aus der Aufzählung der Exponate des "Museumsschranks" der Familie Schmidt, ergibt sich eine schöne Liste unklaren Inventars:

  • Wassernusskerne

  • Lithophanie

  • Schlosskaplan

  • Porzellanbein als Votivgabe

  • Vielliebchen

  • Wirtelstein.

  • Auflösung, woher Jochens Leiden rührt: Aus einer DDT-Vergiftung, die er sich beim Ablecken des damit behandelten Museumsschranks zugezogen haben muss

*

J.S.: "Börsengeschäfte, die Marcel, um Albertine Annehmlichkeiten zu bereiten, von einem Makler hatte unternehmen lassen, haben sein Vermögen auf ein Fünftel reduziert.", was an Jochens Anekdoten über die Anrufe seines Sparkassenberaters erinnert. Interessanterweise sind diese Menschen in keiner Weise haftbar. Sie können einem den größten Schrott aufschwatzen (und tun dies ja auch) und wenn’s schiefgeht, hat man Pech gehabt.
J.S.: "Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs tot. Eine Depesche von ihr vermeldet daß sie ihn heiraten will, sie schließt: "Alles Liebe Albertine", als wäre nichts gewesen. Aber Marcel bekommt keinen Nervenzusammenbruch, er ist auch nicht tief getroffen, sondern er empfindet nichts. Sie war für ihn ein Bündel von Vorstellungen gewesen, die ihren Tod überlebt hatten, bis das Vergessen die Bilder in einer Art Verlies tief in ihm eingemauert hatte. Nur weil sie wieder lebt, ersteht sie nicht auch in ihm zu neuem Sein."
Hä? Ist das jetzt ein hitchockartiger Dreh wie in Vertigo oder psychedelisches Märchen? Abgesehen davon ist es natürlich interessant, dass sich jetzt endgültig zeigt, wie es ;arcel nie um den Menschen, sondern um eine Vorstellung von ihm gegangen war.

***

Mi, 3.1.07

Genau einen Tag also, nachdem wir ihnen die Rechnung von 1.000 Euro dafür überwiesen haben, dass sie praktisch alles dafür getan haben, dass niemand zur Brillenschlangenparty kommt, bekommen wir von den Betreibern auch noch witzisch gemeinte Newsletterpost. Ich werde in jenes Etablissement wohl erst wieder einen Fuß setzen, wenn die, die damit im Sommer zu tun hatten, alle zurück in ihre Heimat-Kleinstädte gezogen sind, wo sie zahlungsfähige Kundschaft für ihre Kunstkacke finden.
Endlich wieder eine schöne Show mit der Bö. Wir werden ausführlich gelobt, und das zu Recht.
Z. erzählt, er habe sich zu Silvester stundenlang mit seiner Freundin gestritten. [Nachtrag 2009: Sie trennte sich 1/2 Jahr später von ihm. Auch heute hat er diese Geschichte noch nicht verkraftet, und das Wichtigste scheint ihm zu sein, die Schuldfrage zu klären. Natürlich so zu klären, dass sie die Schuld auf sich nimmt. Ich habe das nie verstanden. Nach so einer langen Zeit könnte ich nicht mehr zurückblicken. Es gibt bei all den gescheiterten kleinen Affären und großen Lieben keine Beziehung, auf die ich mit Groll zurückschaue. Was müsste geschehen, dass mich eine gescheiterte Liebe so lange gefangenhält? Wie groß müsste der Vertrauensbruch sein, dass es mir nicht gelänge, die Angelegenheit von zwei Seiten zu sehen? Es hilft ja nichts; wer geliebt werden will, muss sich öffnen; wer sich öffnet, macht sich verletzlich. Und wird wahrscheinlich auch früher oder später verletzt. Das ist Teil des wilden Liebeslebens. Ohne dieses Risiko verwurschteln wir unsere Zeit wie die Amöben. Gehen wir es ein, können wir fliegen.]

*

18 Dinge, die ihn u.a. an sie erinnern, darunter überraschenderweise

  • Dönerbuden

  • Keane

  • Keksdosen

J.S.: "Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs lebendig. Die Depesche war in Wirklichkeit von Gilberte gewesen, die darin ihre Vermählung mit Saint-Loup angekündigt hat. Ihre Frauenschrift mit Schwänzen, Arabesken und verirrten I-Punkten war falsch interpretiert worden, und schon war aus "Gilberte" "Albertine" geworden. Außerdem liest man ja gerne, was man lesen will." Man kommt sich als Leser etwas veralbert vor. Dennoch, die selektive Wahrnehmung ist immens. Sehr anschaulich zeigt das auch Derren Brown:

***

Do, 4.1.07

In meinem Zimmer stehen noch 13 Kisten. Immerhin kommen die Dinge ein wenig in eine erkennbare Ordnung. Aber ich hinke hinterher, während es bei Steffi flott vorangeht. Sogar ihre geliebte Deko ist schon wieder angebracht. Ich bin neidisch auf dieses Geschick und versuche, es nicht damit abzutun, dass Männer dafür geschaffen seien, sich um die Welt da draußen zu kümmern.
Uli Verhonepipelt meinen Umzug in der taz. Ich kann ihm nur dankbar sein für diese Steilvorlage. So habe ich meinen Text Numero 1 für die Chaussee fertig. Die Idee für den zweiten Text aus einem wiederkehrenden Motiv unserer Impro-Shows: Gott auf dem Arbeitsamt, wo er von seinem Sachbearbeiter für sein Pfuschwerk verantwortlich gemacht wird. Bei der Chaussee funktioniert er auch ganz ordentlich. Erst als unser Gast Ahne dran ist, bemerke ich meinen Faux pas. Ahne ist inzwischen für seine “Zwiegespräche mit Gott” berühmt. Man wird niemandem mehr glaubhaft machen können, das sei die eigene Idee gewesen.
Der 1001-Nacht-Blog wird schon jetzt zur Last. Ich verzweifle auch am Layout.
Drei Viertel der gesamten Tages-E-post sind Newsletter. Alle "witzig" und beziehen sich darauf, dass es mit Schwung ins Neue Jahr gehe. Man ist ja in der Regel zu höflich, ihnen zu sagen, dass man diesen Kram nur wegklickt, zumindest wenn es sich um Kollegen handelt, aber was habe ich mit Kölner Kabarettisten zu tun? Ich war 1999 das letzte Mal in Köln. Jochen mailt rätselhaft, wir sollten uns nicht wundern, dass er einen langen und einen kurzen Text habe.

*

 Jochen im "Schwarzsauer" zum Zeitunglesen. Wäre wohl nicht mein Café. Man könnte versuchen, an der Auswahl der herausgepickten Themen herauszufinden, um welche Zeitung es sich handelt:

  • Apfelsorte "Danziger Kant"

  • Feldhandball

  • Krankenschwestern und Partnerschaftsdienste

  • Zahnärzte suizidgefährdet

Ich tippe auf FAZ.
Judith Hermann sagt ihre Teilnahme bei der Weltchronik ab.
Unklares Inventar: Apfelkartoffeln.

*

Marcel "hält sich inzwischen eine junge Person", die er zum Schlafen braucht.

31.12.06-1.1.07

Nun ist es ja nicht so, dass ich keine Eifersucht kennte. Die Kommentare zu diesem Thema mögen hier stellenweise ein wenig unberührt geklungen haben. Meine Eifersüchte haben sich jedes Mal in anderer Form gezeigt. Schlimm war es natürlich, verlassen zu werden. Die Beziehung stirbt – mir wurde oft erst dann klar, was ich da eigentlich verloren habe, wie wenig ich das alles geschätzt habe: Die legendäre Veronkelung verheirateter Männer – man lässt sich selber gehen und sieht auch im anderen nur noch, was einen nervt. Am schlimmsten aber, weil völlig irrational und überhaupt nicht handhabbar, war die Trennung von L., zum einen weil ich mich von ihr trennen musste, da ich ihre Seitensprünge nicht mehr ertragen konnte, vor allem aber war der Schmerz durch und durch körperlich. Die Liebe ging durch die Nase. Angeblich ist der Geruchssinn der erste Sinn überhaupt. Schon die Spermien finden die Eizelle, weil sie sie riechen. Sie benutzte nicht einmal Deo. Wie Grenouille so suchte ich sie nachts auf, weil mein Geruchssinn mich gleich dem erwähnten Spermium zu ihr zog, und nach der Trennung suchte ich in meiner Wohnung nach übriggebliebenen Kleidungsstücken. Als würde sie ein spezifisches Pheromon aussenden, von welchem ein einziges Molekül genügte, um an meiner Nasenschleimhaut anzudocken, von wo irgendwelche Botenstoffe dafür sorgten, dass mein Kleinhirn Rabatz machte. Und genau diese Unfähigkeit zu denken, treibt einen dazu, das Kontraproduktive zu tun: Man klammert, statt zu verführen. Meine olfaktorische Reaktionen, könnte man sagen, haben sie erst zum Seitenspringen gezwungen.

***

So, 31.12.06

Der Versuch, die Odessitischen Kontakte für zu nutzen, trullert ins Leere.

Vor der Silvesterfeier im RAW noch einmal kurz in die Wohnung, um melancholisch Abschied zu nehmen.
Ich hätte es wissen müssen: Als ich ankomme, sollte die Band schon mit Soundcheck fertig sein, und der Trommler ningelt immer noch über ein Klackern, das er über seine Monitorbox höre. Ich beschließe in diesem Moment, mich nicht mehr auf Bands einzulassen. Ich habe noch nie eine Band erlebt, die in der von ihr selbst festgelegten Zeit den Soundcheck geschafft hätte. Je professioneller sie tun, um so unprofessioneller sind sie.
Zuschauer bei der Lesung überschaubar, bei der Impro-Show auch. Ich frage mich, wann ich die Schulden, die ich mir hier gerade einfange, abarbeiten soll. Plötzlich, kurz vor Mitternacht rennt uns das Publikum die Bude ein. Ich stelle mich selbst an die Kasse. Um 2 Uhr ist meine Stimme weg. Irgendwann nach Mitternacht kommt Jochen auch noch an, er ist wütend, da sie ihm nicht einmal eine SMS geschickt habe. Das hätte mich nach seinen letzten Berichten aber auch eher gewundert. Volker hingegen gut gelaunt, man weiß nicht warum, und dann legt er auch noch auf.
Ich arbeite bis 6 Uhr, falle ins Bett und brauche mir die Frage, ob es das wert ist, eigentlich nicht zu stellen.

***

Nicht Albertine sei Marcels Gefangene, sondern Jochen selber, der sich ja selbst zu Silvester und in der Zeit furchtbarster Seelenpein verpflichtet fühlt, seinen Auftrag zu erfüllen. Knaller explodieren, Schmidt liest Proust. Als läge man im Schützengraben, die Granaten schlagen ein, in der Feldpost ist ein Brief der Frau, sie würde ihn verlassen, und der Gefreite Schmidt tröstet sich nicht mit der Zigarette, sondern mit Literatur.
Spekulationen über weitere Lektüreprojekte: Don Quichotte, Das Kapital, Descartes, Beckett, Rabelais, Italienische Reise, Roth, Handke.

*

M.P.: ""Andererseits ist es kein Zufall, daß intellektuelle und sensible Menschen sich immer fühllosen und geistig unterlegenen Frauen unterwerfen und trotz allem auch sehr an ihnen hängen, und daß der Beweis dafür, daß sie nicht geliebt werden, sie keineswegs davon abhält, alles dafür herzugeben, um eine solche Frau bei sich zu behalten."
Oder, wie der Volksmund sagt: "Dumm fickt gut."

***

Mo, 1.1.07

Beschließe, meinen PC zu verschenken. Tube bekommt den Zuschlag.
Unklarheit, wie lange wir noch im wöchentlichen Rhythmus im Zebrano spielen.
Jahresbilanzen. Rückblicke. Vorschauen.
Beginne den 1001-Nacht-Blog [den ich ja durch den Schmidt-Proust-Blog unterbrochen habe]. Online eingeben kann ich ihn nur im Internetcafé. Haben noch keinen Anschluss.
Entwerfe Spielregeln für den Blog, z.B. Persisch-Übersetzungen für Passagen [die sich aber im Laufe der folgenden Monate als undurchführbar erweisen].
Rechne die Silvesterfeier ab. Für jeden kann man noch etwas zur versprochenen Garantiegage draufzahlen. Und warum hat mich das jetzt dem Herzinfarkt um 5 Jahre nähergebracht?

*

J.S.: "Nachmittags schläft das Mädchen, das sich freut, wenn es mich sieht, nebenan auf dem Sofa, ich soll mich später auch dazulegen, hat sie gesagt. Als ich dann komme, wacht sie kurz auf und scheint nach dem Schalter der Lampe zu suchen, aber sie will mir nur ein Gummibärchen reichen, das sie vor dem Einschlafen für mich auf dem Nachttisch zurückgelegt hatte. Ich liege neben dieser kleinen Wärmflasche für die Seele, die mir vor drei Jahren geschenkt worden ist, und versuche mit aller Kraft, mich vom Trost ihrer Existenz durchströmen zu lassen und im Rhythmus mit ihren leise schnaufenden Atemzügen den Kummer dieser Wochen auszuatmen. Vielleicht kann ich ihr das irgendwann zurückgeben."
Für Sätze wie diese lese ich “Schmidt liest Proust”.

*

Marcel in Venedig. Mit Mutter. M.P.: "Die Zärtlichkeit, die sie mir im Übermaß bewies, war wie jene unerlaubten Speisen, die man Kranken nicht mehr vorenthält, wenn man weiß, daß sie doch nicht wieder gesund werden können."
Und wie mag das die Mutter sehen?

28.12.-30.12.06

Um zu erfahren, wieviele Besucher seinen Blog besuchen, hat Jochen Anfang 2007 einen Besucherzähler des asozialen Service-Anbieters Motigo auf seine Seite gesetzt, der manchmal sogar die Blogseite einfach zugunsten des Werbesponsors schließt. Es müsste einen Zähler geben, der herausfindet, wieviele Besucher Jochen auf diese Weise verschreckt hat.

Do, 28.12.06

Gegen Mittag kommen die Kühlschranklieferanten, und ich frage mich, was ich in diesem Kühlschrank aufbewahren soll. [Nachtrag 2008: Ich frage mich heute, wie ich damals geglaubt habe, mit einem kleineren Kühlschrank auskommen zu können.]
Mein Zimmer steht immer noch voller unaufgeräumter Kisten und Regale. Und in diesem Chaos gelingt es mir trotzdem, für den Abend zwei Geschichten zu schreiben.
Ein sehr schöner Abend, und man merkt Jochen und Volker ihre langen Mail-Diskussionen der letzten Tage nicht an, so erfrischend sind ihre improvisierten Dialoge.
Erstmals nicht zu Fuß von der Chaussee nach Hause. Hatte gehofft, von der Warschauer Brücke bis zur Kiefholzstraße genüge eine Kurzstrecke mit dem Taxi. Irrtum. [Nachtrag 2008: Später fällt mir ein, dass mich im Jahr 2000 einmal Micha Ebeling mit seinem Taxi in der Wühlischstraße aufgegabelt hat, als ich noch jede Woche eine schwere IKEA-Tasche, in der all unser Equipment verstaut war, in und herbugsierte.]

*

J.S.: "Sich fremde Eifersucht auch nur vorzustellen, reizt schon die eigene. Will man denn ein Wesen, das man so an sich gebunden hat, daß es nicht mehr wegläuft, selbst wenn es könnte? Infantile Verfügungsgewalt über die Mutter?"

*

J.S.: "Nachdem er den Mut aufgebracht hat, seinen eigenen Artikel im Figaro zu lesen, möchte er gleich mehrere Exemplare davon kaufen lassen, um den Artikel in jedem davon noch einmal zu lesen. Er stellt sich die Leserinnen vor, in deren Schlafzimmer er gern eingedrungen wäre, und die zwar seine Gedanken aus der Zeitung nicht verstehen können (wovon er natürlich ausgeht), aber denen sie zumindest seinen Namen zugetragen hat."
Klingt fast nach der "Ballade vom Eisernen Mike" in Boxsport.
Eine verlorene Praxis sei es "Einen Akt der Nächstenliebe vollziehen und eine Prostituierte von der Straße auflesen und sie aus dem Elend der Gosse ziehen." Unklar. Damit reden sich doch seit Jahrhunderten die Freier heraus.

***

Fr, 29.12.06

Gehe zum Bäcker und bekomme Angst, wie ich in dieser öden Gegend hier in den nächsten Jahren leben soll. Fast so schlimm wie früher im Nibelungenkiez in Lichtenberg. Immerhin fehlen die Friedrichshainer Hunde.
Noch ein paar Kleinigkeiten aus der Libauer abholen. Dort hab ich noch DSL. Beantworte in der kalten Wohnung E-Mails und surfe bei Youtube. Ein interessantes Interview mit Helge Schneider im ZDF. Eine unerträgliche Moderatorin Anfang Zwanzig stellt ihm bescheuerte Fragen in aufgekratztem Ton, die sogar ihre erste Frage, ob er sich auf seinen Auftritt bei Wetten Dass freut, ablesen muss. Es ist bewundernswert, wie er die Ruhe bewahrt und immer dann am ernsthaftesten ist, wenn sie von ihm einen Scherz erwarten.
Als ich wieder in Treptow bin, setze ich mich in die warme Badewanne. Das scheint hier mein Allround-Trost zu werden.
C. verkündet, weniger Impro spielen zu wollen. [Nachtrag 2008: Sie zieht sich in den folgenden zwei Jahren fast vollständig von der Bühne zurück und widmet sich den Sternen.]
Es ist völlig irre, dass ich mir zu dem Umzugsstress auch noch die Organisation der Silvesterparty aufgehalst habe, wie ich erst jetzt so richtig merke: Ich schaffe es nicht, noch einen Kassierer zu organisieren, und angemessene Reklame geht mir durch die Lappen.
In der Hoffnung, für "Free Play" doch noch einen Verlag zu finden, arbeite ich weiter an der Übersetzung und trage mich ins Übersetzer-Forum u-litfor@tw-h.de ein. [Nachtrag 2008: Eine großartige Mailingliste mit hilfsbereiten und freundlichen Menschen, die überdies informativ, unterhaltsam, vor allem aber nützlich ist, wie ich später feststellen durfte, als ich tatsächlich Free Play übersetzte.]

*

Jochen über die Zufälligkeit der Begegnungen mit einer Frau, die er aus Erzählungen seit seiner Kindheit schon lange kennt. "Warum wartet man auf solche zufälligen Begegnungen, statt sie zu forcieren und bewußt Menschen aufzusuchen, die zu Orten gehören, die einem wichtig waren? Herausfinden, wer in der Samariterstraße in unserem Haus gewohnt hat, als ich klein war, vielleicht lebt man in diesen Familien ja auch noch als Geist weiter?"
Vor einigen Tagen feierte eine bekannte Familie den 100. Geburtstag der vor ein paar Jahren gestorbenen Oma. Die andere, im Verwandtschaftsverhältnis durchaus gleichrangige Oma geistert in den Erzählungen der Familie nur als "Die Tote". Das junge Paar kam 1945 flüchtend nach Berlin, an der Zonengrenze täuschte sie mit ausgestopftem Bauch eine Schwangerschaft vor, man ließ sie passieren. Die Tante hatte ein Häuschen (was man heute eher als Bungalow bezeichnen würde) in Tempelhof. Als das Paar bei eiskaltem Wetter eintraf, öffnete niemand die Tür. Sie betraten das Häuschen, und da lag die Tante tot. Man übernachtete trotzdem dort. Was hätte man tun sollen? Am nächsten Morgen stellten die beiden fest, dass die Nachbarn sehr wohl vom Tod der Frau erfahren hatten, denn verschiedene Gegenstände waren gestohlen. Die Verstorbene heißt nun nur noch "Die Tote". Und dies ist wohl die einzige Geschichte, die ihre Enkel noch über sie zu erzählen wissen. Das wird sie nicht gehofft haben.
"Im letzten Jahr ist meine Wahloma gestorben." Frau T. hatte ich auch gekannt, eine äußerst angenehme Frau, die ich für die Offenheit ihres Hauses bewunderte. Zwei Mal hatte ich sie mit Jochen besucht, und erst jetzt und hier erfuhr ich von ihrem Tod.

*

Marcel scheint Albertines Tod erzählend bearbeiten zu wollen. Die Geschichte wird zur Geschichte, zum Text. Aber auch beim mündlichen Erzählen zieht man schon die definierenden Linien. Je öfter, desto kräftiger. Das Erzählte wird zur Wahrheit, die sich jeder Relativierung entzieht. Ist das Erzählen dann deshalb therapeutisch weniger wertvoll?

***

30.12.06

Die mit einem äußerst kuriosen Blick auf die modernen Welt ausgestattete N. will mir einen 93 MB-Film per E-Mail schicken. In einigen Jahren werde ich darüber lachen, dass mir das heute völlig absurd erscheint, mit meiner provisorischen Modemverbindung und dem limitierten web.de-Speicher.
Der Tag klingt aus mit einem ruhigen, angenehmen Kantinenlesen: Falko Hennig, Volker Strübing, Andrés Atala, Steffi Winny und icke.

*

Kein Eintrag bei Jochen.

26.-27.12.06

Di, 26.12.06

Der 76jährige H. tut sich schwer damit, überhaupt noch ab und zu aus dem Haus zu gehen, alles ist anstrengend und er wägt ab, ob die Mühe lohnt. Aber jedes Jahr im Juni macht er sich auf den Weg zu seinem alten Stamm-Restaurant und reserviert einen großen Tisch für die Familienfeier. Man traut sich nicht, ihm zu sagen, dass er das auch telefonisch erledigen könnte.
Ich verschiebe Schränke, sortiere Bücher, schaffe Platz, so dass ich wenigstens ein bisschen tippen kann.

*

Jochens weihnachtliche Gedanken zum Alleinsein: "alle Vorteile [bei den Eltern ausgezogen zu sein] haben sich verflüchtigt, es bleibt nur die hohe Miete und die abendliche Einsamkeit. Der Wechsel zwischen Gesellschaft und Alleinsein fällt schwer…"
Sich beim Zusammenleben das Alleinsein wiederzuerkämpfen, ohne asozial zu wirken, kann aber auch ein Kampf sein.
Erinnerungen an die traurige Geschichte von Bertrand Cantat und Marie Trintignant, die einem Roman zu entstammen scheint: Das Düsterste des Menschen schlägt ein, wo man Hoffnung, Schönheit, Liebe erwartete. Wer wird das erklären können? Wer kann da getröstet werden? Das Dunkle, das sich nicht externalisieren lässt, das sich nicht abstreiten lässt. Wer kann hier noch Demut vor dem Schicksal haben?

M.P.: "Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart durcheinandergewirrt, daß die Sache, die man im Sinne hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überallhin hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer Seifenreklame machen."
J.S. dazu mit einem Satz, der sich nicht im Blog findet: "Es gibt also keinen würdigeren Gegenstand für einen Künstler, es kommt allein auf seinen inneren Reichtum an."
Und dieser Reichtum ist nicht eine Frage der Menge, sondern der Fähigkeit zu verknüpfen.

***

Mi, 27.12.06

Völlig übermüdet weckt mich meine biologische Uhr schon wieder um 7 Uhr morgens. Eine Stunde später sagt mir die mechanische, dass es Zeit sei, aufzustehen. Wie immer, wenn ich so früh raus muss (was eigentlich nur noch der Fall ist, wenn ich verreise), bin ich fast unfähig, meine Bewegungen zu koordinieren. Jeder Gang zwei Mal. Heute alles noch schlimmer wegen der ungewohnten Umgebung.
Lese im Bus das amnesty-Journal und werde nach einer Weile von zwei Leuten angepflaumt, ich solle anders sitzen. Nicht, dass ich nicht trotz meiner überaus langen Beine dazu bereit wäre, aber die Unfähigkeit der Mitreisenden, so etwas freundlich zu formulieren, ist frappant. Diesen Bus, so weiß ich jetzt schon, werde ich noch oft benutzen müssen. Meine Beine werden im Übrigen nicht kürzer, aber die Hoffnung, dass sich öffentliche Verkehrmittel, insbesondere Flugzeuge da etwas anderes einfallen lassen werden, ist beschränkt. Sitze in Flugzeugen werden für 90% der Menschen gebaut: 5% der Frauen sind kleiner als 1,58m und 5% der Männer sind größer als 1,89m. Ich bin aber nicht nur größer als 1,89, sondern ich habe eben auch noch lange Beine. Ich bin eigentlich ein Sitz-Zwerg. Von meinen 1,90 Metern Körpergröße sind anderthalb Meter Bein. Der einzige Mensch auf der Welt, dem das ähnlich ging wie mir, war John Wayne, für dessen Malaise die legendäre Band Haysi Fantayzee extra ein Lied schrieb, das mir seit vielen Jahren als Trost dient.

Nach fünf Minuten ist der Ärger vorbei. Acht Umzugshelfer bei Steffi, von denen aber nur drei Leute Dinge schleppen können, die schwerer sind als ein Kissen. Auch eine Version umzuziehen. Bei mir stand der praktische Uli auf der Laderampe der Robbe und ärgerte sich über die unpraktisch hochgereichten Möbelstücke. Hier ist es die ungeschickte T., die alles nach Mädchenästhetik-Prinzipien zu verteilen scheint.
Am Ende ist die Wohnung vollständig zugestellt. Ich weihe die Badewanne ein.
Am Abend auch noch Impro-Auftritt. Aus einem Harold zum Thema "Weltrettung" machen wir Weltuntergangs-Szenen. Wer will es uns nach diesem physisch und nervlich erschöpfenden Tag verübeln?

Im wöchentlichen Newsletter empfehlenswerter und kurioser Veranstaltungen wird für die Silvester-Show der Reformbühne Ebony Browne angekündigt, die schwerkrank nach Oregon abgereist ist. [Nachtrag 2008: Einen Monat später ist Ebony Browne verstorben.]

*

Nun wurde Jochen also vom Goethe-Institut nach Sofia eingeladen, wohin er 1999 das erste Mal reiste, als ich die auslotete, ob man eine Lesebühne im Friedrichshain gründen könnte.
Und nun? "Wollte ich Steffka oder ihr Land? Was macht man, wenn man das Land weiterliebt, aber mit der Frau nicht auskommt? Ich hatte auch immer Angst, in Wirklichkeit dieser Piroschka-Romantik anzuhängen."
Piroschka? War das nicht Ungarn? Oder spielt er auf den Inhalt an – der ältere Schriftsteller denkt an die Jugendromanze?

*

J.S./M.P.: "Was eine neue Frau ihm alles bieten müßte! Nämlich genau dasselbe wie Albertine: einen trauten Schwesterkuß am Abend, ein zu starkes Parfüm, sie müßte im Spiel ihre Wimpern mit seinen vermischen, ihm Musik von Vinteuil vorspielen und mit ihm über Elstir und die Memoiren Saint-Simons reden. Denn die Erinnerung ist ohnmächtig, ‘etwas anderes, sogar Besseres zu verlangen als das, was wir besessen haben…’"
Natürlich geht es wieder ums Besitzen. Dabei hat er sie ja nie "besessen". Und Erlösung fände er ohnehin erst, wenn er sich in eine Frau verliebte, die Albertine überhaupt nicht gliche, abgesehen davon, dass wir uns ja immer noch fragen müssen, ob er zu Liebe überhaupt fähig ist.

Weiterlesen

24.-25.12.06

Ich halte, das muss ich hier mal feststellen, Adobe für schlimmer als Microsoft. Nicht nur der Speicherplatz und Nerven fressende Acrobat Reader, auch die anderen Programme sind teuer und/oder zeitraubend und umständlich. Zusatzfunktionen muss man bezahlen – mit Geld, Zeit, Nerven.
Hier will ich mal den kleinen, schnellen, besseren pdf-Reader Foxit loben.

So, 24.12.06

Alle Jahre wieder die Frage – Welche Lesebühne kriegt Weihnachten/Silvester ab? Diesmal hat es die Reformbühne erwischt, die die Singles mit Texten trösten muss. Wie man das beim Frühschoppen, der sich ja immer als Alternative zum sonntäglichen Gottesdienst verstanden hat, handhabt, weiß ich nicht. Vielleicht gehen da ja auch Familien hin – und hinterher gibt’s Bescherung?
K. scheint vom Schlagabtausch über Y. so mitgenommen zu sein, dass er aus der Mailingliste der Lesebühnen aussteigt.
Ob ich mich denn freue, endlich mit meiner Freundin zusammenzuziehen, werde ich von allen (auch ihr natürlich) gefragt. "Wehe wenn nicht!", höre ich heraus. Und so kann ich nicht anders als einsilbig antworten.
Wieder wache ich viel zu früh auf. Dabei fahren nur wenige Autos, und die Verkehrsgeräusche könnte man auch als das Rauschen des ein paar hundert Meter entfernt liegenden Meeres interpretieren. Ich stoße mir weiterhin den Kopf an den zu niedrigen Türen. Ob ich die Vermieter zu einem mietergerechten Umbau zwingen kann? Im Internetcafé finde ich ein Mietrechtforum. Man kommt sich bemitleidet vor, zu Heiligabend im Internetcafé zu sitzen. Ich verschwinde schnell, bevor der Betreiber glaubt, ich sei so einsam wie der Typ an dem anderen PC, der sich mit Ballerspielchen tröstet.
Will sehen, ob ich ohne PC auskomme und in den nächsten Wochen nur noch am Laptop arbeiten. Verfrachte alle Dateien (seitdem haben die meisten meiner alten PC-Ordner hier das Erstellungsdatum 24.12.06). Außerdem:
– Im Zimmer etwas Struktur geschaffen
– 5 Regale aufgestellt
– drei davon ca. zur Hälfte eingeräumt
– Kommode aufgestellt
– Waschmaschine angeschlossen
Was für ein Jahresabschluss. Kein ruhiger Rückblick wie sonst, wenn ich mir 1 Woche Zeit nehme. Aber wenigstens ein Tag. Man bemitleidet mich, dass ich am Heiligabend hier allein rumwurschtle. Unnötig. Meine kleinen Momente der Einsamkeit (nicht nur des Alleinseins) – ich brauche sie doch immer wieder.

*

Annett Gröschner übernimmt den Eintrag an Jochens Stelle.
Vor sechs Jahren war Jochen noch überrascht, als ich sie zum Kantinenlesen eingeladen hatte, und beneidete mich um diesen Kontakt…

Annett besaß lange Zeit eine Uhr der Zeitschrift "RUND", und ich glaube zunächst an eine Verwechslung mit der DDR-Jugend-Musik-Sendung, die trotz ihrer West-Importe alle paar Monate, wie Status Quo oder Rosetta Stone öde und peinlich war.
Wir erfahren, dass sie sich während des Schreibens auf der Insel Magdeburger Werder befindet. (Wie kam das Buch auf die Insel? Hat Jochen deswegen am Vortag Stress gehabt, weil er extra bis dorthin musste?) Als Kind habe ich es mir immer sehr romantisch vorgestellt, auf einer Insel zu wohnen. Und eigentlich immer noch. Jeden Morgen löst man das Ruderboot vom Steg und macht sich auf dem Weg zum anderen Ufer, denn nur dort gibt es Bäcker, Schule, Kino, Kneipe. Die Insel ist ein Paradies für sich. Der Postbote kommt mit dem Tretboot. Größere Wasserfahrzeuge legen nur an, wenn jemand stirbt oder umzieht. IKEA liefert nicht auf Inseln. Man muss sich die Möbel aus dem zimmern, was auf der Insel wächst, d.h. man darf nur so viel Holz verbrauchen, wie auch wieder nachgewachsen ist. Da darf man sich freilich nicht vertischlern. Das erste Stück muss passen und gut aussehen. Werbeklingler gibt es keine. Autos sowieso nicht. Man ist für seine Insel verantwortlich wie der kleine Prinz für seinen übersichtlichen Planeten.
Übers Schlussmachen per Handy bei Jugendlichen: "Mich wundert, dass es neben JA und NEIN und ICH KOMME ERST UM… nicht schon die vorformulierte Antwort LASS UNS FREUNDE BLEIBEN in diesen Handys gibt." In dem Alter will man doch nicht unbedingt Freunde bleiben, oder? Das kommt doch erst in den 20ern. Und später legt sich auch das wieder. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich war ja bei einem Date 1999 noch so höflich, mich noch ein zweites Mal zu treffen, um ihr den Korb zu geben, was sie natürlich doppelt verärgerte, das hätte ich doch auch telefonisch erledigen können, jetzt habe sie extra einen Nachmittag frei genommen.
Annett Gröschner feiert mit der Familie Weihnachten. Bescherung traditionell: "Wir müssen uns dem Alter nach aufstellen und dürfen im Gänsemarsch ins Weihnachtszimmer." Unklare Praxis: Die Schwester "macht die Weihnachtsmusik an (Jauchzet, frohlocket…)" und "singt". Singt sie zur von ihr selbst angemachten Weihnachtsmusik?

M.P.: "… ich beneidete ein armes Mädchen, dem das Fehlen aller Verbindungen und sogar eines Telegraphenbüros lange Monate des Träumens nach einem Kummer schenkt, den es nicht mit künstlichen Mitteln zu betäuben vermag." Das erinnert schon sehr an den Character Kloß von Volker Strübing, der unglücklich ist, wenn er nicht unglücklich sein darf, der am Boden zerstört ist, wenn das Glück irgendwo droht. Was wäre das Äquivalent zu einem Telegraphenbüro? Ein T-Com-Laden? Da könnte man sich heute eine ordentliche Portion Kummer besorgen. Oder doch ein Internet-Café, das durch seine Verbindungen in alle Welt jegliches Träumen zerstört?
Annett über die Grundhaltung Marcels: "Er hegt eine Verachtung für Frauen, die sich von ihm trennen, um dan doch wieder zurückzukehren, und himmelt jene an, die ihn für immer verlassen." Sein Fokus: I’m not OK, you’re not OK, wie es Psychologen heute sagen würden.
Bemerkenswerte Beobachtung (A.G.): "Albertine hat eben für sich in Anspruch genommen, genauso zu leben wie die Männer. Zur Strafe musste sie, da ist der Roman noch ganz neunzehntes Jahrhundert, wie Effi Briest und Anna Karenina sterben, zu allem Überfluss auch noch bei einem Reitunfall, diese böse Amazone, bevor sie, wie in der letzten Depesche angekündigt, zum Helden zurückkehren konnte, reuig versteht sich."

***

Mo, 25.12.06

Happy Family Fotos per Mail von W., der anscheinend von seiner Frau verlassen wurde. Alle lächeln, aber es wirkt traurig, wie vertrieben. Selbst der Weihnachtsbaum sieht aus wie gefunden.
Beim Geschenke verpacken fühle ich mich immer noch wie im Werkunterricht. Die Resultate wirken nur im Ausnahmefall nicht grotesk. Finde Utas Geschenk nicht. Treffe mich mit ihr am Bahnhof Schöneweide, von wo wir früher immer nach Löbau (und von dort weiter nach Ebersbach) gefahren sind. Der Geruch, die Säulenverzierungen – meine Madeleines.
Begrüße Nils mit "Flatt-flatt", meinem kleinen Schlüssel zu seinem Herzen.
Ausgerechnet ich, der ich mich immer so schwer tue, Geschenke zu finden, habe vergessen, dass man sich dieses Jahr nichts schenken wollte.
Als wir nach dem Spaziergang durch Schildow zurückkommen schaut die Familie Winnetou II, während Nils schläft. Wusste nicht mehr, dass da so viel Geballer dabei war. Oma schaltet anscheinend ihr Hörgerät aus. Der junge Terence Hill, sehr unschuldig. Nach all den Jahren erkennt man viel eher das Geschauspielere der Komparsen und Nebendarsteller zu sehen. Herausragend aber Kinski: "Die Sonne brannte mir aufs linke Ohr und ich zählte bis 820." "Diese roten Teufel!"
Zuhause wieder allein. Gehe noch ins Kino, sondern lese den Schimmelreiter.

*

J.S.: "Zur Sedierung morgens ein bisschen Latein."
Was Jochens Latein, ist mir das Klavier. Ich übe nun seit gut anderthalb Jahren jeden Tag zehn bis zwanzig Minuten, ohne mich mit Anfängerstücken aufzuhalten, Mozartsonaten. Bis zum März 2008 war es der langsame Satz der Sonata Facile, den ich dann doch, ohne dass ich vorher etwas von Fingersätzen oder linker Hand gewusst hätte, recht passabel spielen konnte. Nun habe ich seitdem den Allegro-Satz der B-Dur-Sonate KV 333 vor mir und muss sagen, dass ich mich da wohl verhoben habe. Der langsame Satz der F-Dur-Sonate KV 280 (eigentlich f-moll) wäre natürlich auch sehr schön, aber den Tag mit diesem traurigen Stück zu beginnen, würde mich binnen Kurzem in einen Marcel verwandeln.
Familie Schmidt in der Kirche, die ewig verzögerte Gemeinde. Für einen Musiker muss es der Horror sein, in einer evangelischen Gemeinde Orgel spielen zu müssen, es sei denn, man hat die Chance, in Chicago in einer schwarzen evangelikalen Community zu grooven.
Jochen gibt die Überlegung, gute Kunstwerke entstünden unter Leidensdruck, Anlass, über die Entstehung der tschechische Kinderfilme zu spekulieren.
Kunstwerke, die ich nie verstanden habe: Tschechische Kinderfilme. Diese Märchenadaptionen, die Huckleberry-Finn-Adaption, die offenen Enden von Kinderfilmen, der unlustige Pan Tau, ich konnte nur mit den Schultern zucken. Vielleicht müsste ich das mal einer Revision unterziehen. Bemerkenswerte Ausnahme: "Sechs Bären und ein Clown". Ein Zirkusdirektor wird überredet, den Bärendompteur Cibulka mitsamt den Bären rauszuschmeißen und stattdessen Schweine in den Zirkus zu nehmen. Cibulka und die Bären werden von fünf Freunden in die Schule gelotst, wo sie sich verstecken und ein schönes Chaos anrichten.

Jede Handlung erinnert Marcel an die Tote.
Marcels Kundschafter Aimé erfährt von einer Wäscherin, dass Albertine sie "gebissen" habe, woraufhin dieser "ihre Fähigkeiten" (J.S.) überprüft. (Hamse nu oder hamse nich?)
Eine selbständig lebensfähige Sentenz sei: "Man kann von einem Leiden nicht genesen, wenn man es nicht in ganzer Stärke durchlebt." Diesen Satz schrieb ich nach dem Tod von R. 1992 fast wörtlich in mein Tagebuch, aber ist er wahr? Was heißt schon "genesen"? Gemessen an Marcel/Kloß wäre es ja das Letzte, was er wollte.

9.-23.12.06

Es wird Weihnachten. Man denkt an Geschenke oder ans Schenken. Interessant, dass es bei Liebes-Paaren meist um den Mann geht, wenn sie nicht schon jahrelang verheiratet sind. Er schenkt ihr Dinge, die sie über seine Welt kennen sollte. Sie schenkt ihm Dinge, die zu seiner Welt passen. Männer sind anscheinend nur ungenügend in der Lage, sich in die Welt der anderen hineinzuversetzen oder es kostet sie größere Mühe.

Sa, 9.12.06

P. fragt an, ob ich mit ihm ein Werbevideo improvisieren will. Unerwartet.
Eine Pressemitteilung von Papenfuß & Freunden wird diskutiert.

Lesebühnen haben Probleme:
1. Lesebühnen sind so überflüssig wie ein Kropf.
2. Sie publizieren regelmäßig banales Zeug.
3. Alle Versuche, das Lesebühnenkonzept in seiner ursprünglichen Funktion als Praxis der Revolte gegen den Literaturbetrieb aufrechtzuerhalten, sind heute reaktionäre Utopien.
4. Lesebühnen kultivieren das Bild des schreibenden Dilettanten, etwa mit einer inhaltsleeren Geschichte über den Versuch, eine inhaltsleere Geschichte zu schreiben.
5. Lesebühnen sind erfolgreicher als Lesungen, weil Lesebühnenautoren beim Schreiben ans Publikum denken.

Daher haben sich verschiedene Künstler aus dem Umfeld Art Pub Wallywoods, Baiz, Bornholmer Hütte, Luxus, Pieper und Teuber, Seifen und Kosmetik, Torpedokäfer, WC und ZK entschieden, darauf aufmerksam zu machen und zwei Lösungen anzubieten:
1. Am Montag, den 11. Dezember und am 8. Januar (und fortan an jedem 1. Montag des Monats) wird im Art Pub Wallywoods die Käsebühne "Achim Wendels Rumpelofen" stattfinden. Es lesen Velimir Kaminer, Jochen Schmitz, Stone und Urahne; Gast am 11.12.: Tone Avenstroup.
2. Ab sofort erscheint jeden Monat ein Buch zum Thema. Das erste heißt "Schönhauser Allee" von Velimir Kaminer, das aus Rechtsgründen unter dem Namen Alexander Krohn veröffentlicht wurde. Die Bücher gibt es im Kaffee Burger, im Baiz und im Art Pub Wallywoods.

Da steckt so viel Dummheit drin, dass es einem schon wieder leid tun kann. Bei schätzungsweise 20.000 Texten, die von Lesebühnenautoren verfasst wurden, nur das Banale, das es natürlich auch immer wieder gibt, zu sehen, ist schon böswillig. Und was heißt banal. Ist ein Text automatisch "nicht banal", wenn er "politische" Themen aufgreift? Oder soll man banal als Gegensatz zu monumental verstehen? Dann greift dir Kritik auch fehl, denn Kurzgeschichten haben ihre eigene Logik, so wie auch eine Kleinst-Plastik nie monumental ist, sondern eben meist heiter. "Revolte gegen den Literaturbetrieb", damit hatten die wenigsten je was im Sinn. Die meisten wollten einfach nur Geschichten vorlesen. Den schreibenden Dilettanten kultivieren die wenigsten. "Beim Schreiben ans Publikum denken" ist auch nur eine Leerformel. Man könnte es nämlich auch umdrehen: Schreiben ist, wenn ich nicht lediglich Fingerübungen betreibe oder Tagebücher verfasse, immer auch Kommunikation. Ich schreibe ein Kinderbuch eben anders als einen Krimi. Dumm ist also, wer nicht daran denkt, für welche Situation er schreibt. Was aber setzen die Leute dagegen? Kalauer. Traurig. Es sind nicht die Lesebühnen, die Probleme haben. Sondern Papenfuß & Freunde haben ein Problem mit den Lesebühnen.

Familien-Geburtstagsfeier. Es funktioniert immer dann, wenn alle einigermaßen entspannt sind, keine zu hohen Erwartungen haben, aber dennoch freundlich und aufmerksam sind. Bei Nils hab ich endlich einen Stein im Brett – mit Fratzenschneiden.
Kantinenlesen kommt an diesem Abend nicht so recht ins Rollen.

Kein Eintrag bei Jochen.

So, 10.12.06

Wieder mehrer Stunden Planung des Kantinenlesen: Wer kann/will mit wem? Wann hat wer Zeit? Welche Kombinationen sind zu häufig? Mindestens zwei Autoren sollten gute Laune garantieren. Maximal zwei ausgesprochene Experimente im Viermonatsrhythmus. Denjenigen hinterhertelefonieren, die sich nicht gemeldet haben und/oder die nicht den Lesebühnen-Mailverteiler lesen. Und dann gibt es doch immer Beschwerden, wie: "Ich hab doch vorletztes Mal schon mit XY gelesen." Oder "Ich will nicht zwei Mal im März, ist doch klar!"
Vom Workshop, den ich in einem Anfall von Besessenheit einerseits und Großzügigkeit andererseits erst 21.40 Uhr beende, fahre ich rasch mit dem Fahrrad nach Hause, steige dann ins Taxi, um noch etwas von Ninas Aufführung mitzubekommen. Chancen gering, da es schon 20.30 Uhr beginnen sollte. Komme zum letzten Akt – "Edelweiß", was ich auch schon in der Chaussee gesehen habe. Dann gehe ich, nachdem ich etliche ihrer Beglückwünscher abgewartet habe, auf sie zu und bedanke mich für alles bei ihr, da sie mir doch den größten künstlerischen Input dieses Jahres gegeben hat.
Partyangewohnheiten auf der After-Show-Party. Unmögliches Verhalten, sich mit dem Rücken direkt vor jemanden zu stellen. Oder: "Mal kurz" wegzugehen und dann nicht wiederzukommen. Da ich aber auch kein großes Gesprächsbedürfnis habe, ist mir das auch ganz recht. Jemand aus dem Contact-Workshop, bei der ich mir wirklich Mühe gebe, zu fragen, kommt schon bei den Antworten ins Schleudern und stellt sich und ihr Leben als dermaßen öd und fad dar, dass jeder Normaldenkende von Langeweile ergriffen sein müsste. Dabei ist das, was sie tut, durchaus interessant, nur eben für sie nicht. Warum sollte man sich dann als Fremder dafür interessieren?

Wieder schöne Koinzidenz: Jochen ebenfalls auf einer Party und beobachtet dieselbe Angewohnheit bei einer früheren Flamme:
"Es kann auch passieren, daß sie mitten im Gespräch die Gläser füllen geht und verschwunden bleibt. Später findet man sie draußen im Garten mit einem Bekannten, und sie zeigt mit dem Finger auf das Glas, das sie für einen irgendwo abgestellt hat."
Jochen "erörtert endlos einer Verflossenen [s]einen traurigen Zustand (…), worauf es heißt, ich würde wie immer nur von mir reden." Erst in der vergangenen Woche habe ich verstanden, was einen eigentlich als Zuhörer bei Monologen stört. Es ist gar nicht so sehr das Monologisieren, sondern das Gefühl, dabei nicht wahrgenommen zu werden, nicht einmal als Adressat der Mitteilung. Gibt es Pausen, Rückkopplungsformeln und -gesten, kann man auch längeren "Erörterungen" recht mühelos und interessiert folgen.
Romantische Erinnerungen an die Rykestraße. Auch ich habe hier das erste Mal mit zehn eine Altbau-Wohnung gesehen, in der wirklich alles faszinierend war: Eine geschmackvoll eingezogene Zwischenetage im Wohnzimmer auf der das Ehebett stand, man gelangte auf einer flachen Treppe dahin. Ein kleines Jugendzimmer eines Vierzehnjährigen, der nicht nur West-Comics besaß, sondern sogar rare Sonderausgaben der Digedags-Amerika-Serie, die ich verschlang. Eine aus Gründerzeitstücken zusammengebaute Klo-Spülung, ein Emaille-Schild mit dem Hinweis, dass der Durchmesser des Klo-Rohrs nur 5 Zentimeter betrage. Ich brachte das Ganze zum Überlaufen und die vierzehnjährige Tochter der Familie hasste mich dafür, dass sie es war, die die Brühe wegmachen musste. Ich telefonierte stundenlang mit allen Ansagen aus dem Telefonbuch (bei uns hatten nur die Genossen Telefone). Und sie hatten eine Höhensonne aus dem Westen. In manchen Situationen hätte ich meine Familie eingetauscht für diese Exoten. Aber der Unterschied war dann doch nicht so krass wie in "Das Leben der Anderen".
Aber auch die Nostalgie geht mir zu weit. Die Häuser verfielen damals, Taubenzecken in den Dachgeschossen und manchen Häusern. Es gab den Fleischer, die Synagoge und das war’s an sozialem Leben auf der Rykestraße. 1989/90 arbeitete ich dann dort in der Filiale eines Außenhandelsbetriebes. Meine Chefin meinte, ich solle eine andere Jacke tragen. Wenn das die Handelspartner sähen. Hätte sich je ein Handelspartner in die Abrechnungs- und Buchhaltungsstelle des Betriebs in der Rykestraße verirrt, so hätte in die Straße wohl mehr geschockt als meine Jacke. Im Frühjahr 1990 kamen dann Busse voller Touristen, die immer wieder dasselbe Motiv aufs Kor nahmen. Srezki- Ecke Hufelandsstraße – die verkommene und die zu Tode renovierte Straße.

Ohne Gedächtnis keine Identität. Erinnerungen an Luft, Duft und Licht. J.S.: "Professor Brichot" gedenkt auf diese Art des alten Salons der Verdurins, vor ihrem Umzug in die neue Wohnung."
Den Tod von Elstir und Madame de Villeparis erwähnt Proust/Marcel beiläufig.
Verlorene Praxis sei: "Ein Fis spielen, bei dem Enesco, Capet und Thibaut vor Neid erblassen." Es ist nie das Fis, es ist das Fis an der richtigen Stelle, und es ist das Wissen, dass es in einer bestimmten Sequenz auf das Fis ankommt. Nicht nur Ausdruck, sondern auch Timing.

***

Mo, 11.12.06

Spätes Aufstehen bei Steffi in der WG. Das letzte Mal, dass ich hier übernachte? Am Abend sehe ich: Es ist T.s Geburtstag. Was ich nie vergessen werde, da bei ihm meine Monats- und Tageszahl (12/11) vertauscht sind.
18 CDs vom Rolling Stone für 4,50 verkauft. Jemand freut sich jetzt. Blur von Blur für 1 Euro. Das war meine erste selbstgekaufte CD. Geschenkt bekam ich die erste 1992: Apparatschik. Ich hatte mich bis 1999 gegen den Kauf eines CD-Players gesperrt. Und jetzt sehe ich es nicht ein, mir meine Wohnung mit CDs vollzustellen, wenn die CD-Haltbarkeitsgarantie, mit der sie einem in den 80ern dieses Medium schmackhaft machen wollten, ein Hohn ist, Ich glaube, sie haben damals CDs mit Marmelade beschmiert. Bei 128kB pro Sekunde der mp3s hören nur noch trainierte Experten in bestimmten Frequenzen den Unterschied. Bei 164 niemand mehr.
Jochen schlägt schon jetzt Gestaltung des neuen Hefts vor. [Nachtrag 2008: Es wird noch über 1 Jahr dauern, bis es dann fertig ist.]
Meine Fratzenschneide-Aktion hat wohl dauerhafte Wirkung: Uta sagt, mein Neffe erkundigt sich nach mir und verlangt von seiner Mutter "komisches Gesicht" zu spielen.

Jochen über die Frage, ob man Proust-Leser so identifizieren könne, "wie Charlus ‘Invertierte’ ausmachen kann"? Nach einem knappen halben Jahr kennt Jochen erst drei Komplettleser persönlich. Was verbindet solche Menschen? Es ist ja mehr nur als dass sie etwas gemeinsam kennen würden. So bin ich seit über zwanzig Jahren auf der Suche nach Menschen, die so wie ich den polnischen surrealistisch angehauchten Film "Ich habe mein Tantchen geschlachtet" gesehen haben, der mal zwei Tage im Babylon lief. Man findet weder diesen Film, und auch Spezialisten für osteuropäische Kinematographie zucken nur mit den Schultern oder schauen mich an, als wolle ich sie veräppeln, was ich ihnen bei einem solchen Filmtitel ja auch nicht übelnehmen könnte. Die Lektüre der Recherche geschafft zu haben, ist da noch etwas anderes, der Wille zum Durchhalten, die unbestreitbare Leistung, sich durch solch einen Wälzer durchgearbeitet zu haben, die Zweifel, ob es sich denn nun wirklich lohnen würde, sich auch noch durch die zehnte Salonparty durchzurackern, ob es denn ein Lektüregewinn wäre, die Gebäckbeschreibungen zu überspringen usw. Trügen Proustleser zum Zeichen ihrer Leistung so wie Bungee-Springer "I-did-it"-T-Shirts, könnten sie sich, so wie Langstreckenläufer im Park, bei Begegnungen nickend oder mit einem erhobenen Finger grüßen. Vielleicht wären T-Shirts ein zu banales Kleidungsstück. Ein Federhut schiene angemessener.

Die Lektüre des vierten Bandes lässt die anderen verblassen. J.S.: "Der Charlus des ersten Bands ist inzwischen ein anderer für mich, wir sind gemeinsam alt geworden." Wäre also Jochen auch für Charlus ein anderer? Charlus deutet eine Jugendaffäre mit Swann an. Durch nebenbei eingestreute Informationen müssen ganze Episoden, ja vielleicht das ganze Buch neu interpretiert werden. J.S.: "Immer mehr Gründe sammelt man, das Buch noch einmal von vorn zu lesen."
Man intrigiert gegen Charlus, um Morel zu veranlassen, sich von Charlus zu trennen. Weshalb noch mal?

***

Di, 12.12.06

Müde stehe ich auf. Mit den Gehwegarbeiten, die man hier alle 1-2 Jahre für nötig hält, sind sie diesmal wohl fertig, wenn ich ausgezogen bin. [Nachtrag 2008: In meiner neuen Straße haben sie noch kein einziges Mal den Gehweg aufgerissen.]
Fahre mal ausnahmsweise ohne Rucksack und Taschen los. Genieße die Freiheit, nicht schleppen zu müssen. Wie wäre es, ohne all den Besitz zu leben? Ohne die Bücher, die Platten, die ganzen Unterlagen und Erinnerungsstücke, die man wahrscheinlich sowieso kaum noch mal benutzt?
Kistenschleppen. 6 Kisten in den Polo, Kleinkram. Als wir es in der neuen Wohnung ausgeladen haben, beginnt M., uns gutgelaunt zuzutexten. Ich weiß nicht, was ich da noch tun soll. Ist es meine Unfähigkeit, mich auf sie einzustellen, was S. ja so gut vermag? Oder ist es ihre Unfähigkeit, mal zuzuhören und der Situation eine Chance zu geben?
Als wir Nils abholen, bekommt er wieder einen Schreikrampf aus Angst vor mir. Das Fratzenschneiden vom Sonntag hatte doch kein dauerhaftes Vertrauen geschaffen. Er ist ein Kind, denke ich, warum solle ich es ihm da übelnehmen. Und der zweite Gedanke, der mich seit Wochen verfolgt: Wir sind ja alle nur Kinder mit unseren Ängsten, Nöten, Frustrationen. Wenn wir ekelhaft zueinander sind, sind wir in dem Punkt eben noch nicht erwachsen geworden. Und soll man diesen Kindern böse sein? Aber dieser Gedanke wird schon Minuten später auf die Probe gestellt, als mich R. zutextet, so wie vorher M.
Ein labiles Bücherregal geht an einen Platten-Freak für 1 Euro weg.
Sch. hatte schon nach 1/2 Jahr Impro-Kursen keine Probleme damit, sich als "Schauspieler" zu bezeichnen, was sich prompt auszahlte. Warum auch? Das war es, was er tat. Vielleicht hab ich mir da manchmal mit meiner Bescheidenheit zu oft ein Bein gestellt? Es dauerte Jahre, bis ich mich als "Autor" bzw. "Schauspieler" bezeichnete. Vielleicht auch, weil ich diese Etikettierungen mindestens so albern fand wie den österreichischen Titel-Fetischismus ("Frau Magister").

Es ist alles eine Frage der Perspektive, wie man die Welt wahrnimmt. Selbst der Polnischreiseführer lädt ein, die Kennenlern- und Flirtlektionen als tragisches Dramolett zu lesen. So wie für den Frisch- und Glücklichverliebten die Welt bunter und lebenswerter erscheint, so sind dem Traurigen dieselben Zeichen Symbole des Verhängnisses. Es ist schwer, aber es funktioniert auch in die umgekehrte Richtung: Die Zeichen der Welt als Symbole des Glücks lesen und so die Depression bekämpfen. Ist zumindest gesünder als Tabletten. Natürlich auch anstrengender, und Jochen würde wahrscheinlich sagen, seine Depressionen gehörten schließlich zu ihm, warum solle er sich um sie betrügen. So wie die Katarrhe zu ihm gehören.

Charlus erwischt der Verrat auf falschem Fuß und er ist nicht mehr in der Lage zu reagieren. J.S.: "Rührend, wie die Königin von Neapel noch einmal erscheint, um ihren vergessenen Fächer zu holen, die Szene überblickend, sofort alles durchschaut, die Verdurins durch Nichtachtung straft und ihrem armen, alten Vetter den Arm reicht."
Unklares Inventar: Die Königin von Neapel. Hab ich was verpasst? Klingt ein bisschen wie die Schneekönigin, die auf einmal herbeigerauscht kommt.
Marcel kehrt heim und weiß doch, dass er zuhause bei Albertine mit Denken aufhört. Die hellen Streifen der Fensterläden wie "das leuchtende Gitterwerk, das sich hinter mir schließen würde und dessen unverbiegbaren goldenen Stäbe ich für eine ewige Knechtschaft selbst geschmiedet hatte."

***

Mi, 13.12.06

Wache sechs Uhr schon auf. Der Umzug lastet wie ein großes Gewicht auf mir – ich kann kaum etwas tun, ohne diese Last mitzuspüren. Die gute Laune der anderen raubt mir fast die Nerven.
Und die Deckenlampe für 6,50 Euro. Ein Großteil meines Hausrats hab ich damals aus dem Nachlass der verstorbenen Mutter einer Kollegin meiner Mutter geschenkt bekommen: Couch, Teller, Kanne und eben die Deckenlampe. Wie lange hab ich diese jedem Geschmack höhnenden Gegenstände besessen?
Neues Angebot: Die Bö solle nur noch einmal pro Monat spielen. Als ob das das Problem lösen würde.
Zuhause in die Sauna. Der Betreiber liegt selber drin. Versucht ein Gespräch, das ich schon antizipiert hatte. Ich antworte einsilbig, so dass er nach vier Fragen merkt, dass ich nicht zu den Sauna-Quatscher gehöre.
Zwei Freunde (Schwule?) kommen dazu. Man muss sich konzentrieren, um zu entspannen. Positiv denken.
Fahre dann doch noch mal ins Zebrano und sehe die letzten 20 Minuten der Show. Steffi hervorragend.

Beim Kerzenauspusten zum Geburtstag hat sich Jochen offenbar das Falsche gewünscht: "Gestern haben wir unser letztes Gespräch geführt, das sich immer noch anfühlte wie ein Gespräch zwischen Liebenden, nur dass sie danach vermutlich erleichtert war. Und heute kam mit der Post mein neuer Vertrag."

Koinzidenz: Am selben Tag macht Marcel Schluss mit Albertine. Man könnte schlussfolgern, dass vielleicht Proust-Leser zum Schlussmachen einladen.
Die bekannten Proustiaden. J.S.: "Er lügt, um sie zu halten, und weil er lügt, geht er davon aus, dass auch sie lügt. Aber lügt sie wirklich, oder ist er nur unfähig, ihr zu vertrauen?" Da liegt der Hase im Pfeffer. Wer Vertrauen bricht, kann einerseits kein Vertrauen erwarten. Andererseits ist er selber auch nicht mehr in der Lage zu vertrauen. Vertrauen aber ist die Grundlage dauerhaft erfolgreicher Kommunikationssysteme, wie wir zurzeit (Ende 2008) am Wirtschaftssystem schön beobachten können: Teilsysteme kollabieren, und reißen vor allem deshalb andere Bereiche mit sich, weil das Vertrauen schwindet. Ähnliches lässt sich von Zeit zu Zeit auch bei anderen Kommunikationssysteme beobachten: Politik und Recht (Korruption) und eben auch die intime Kommunikation der Liebe. Hingegen verfügt z.B. das Kommunikationssystem Wissenschaft offenbar über genügend Immunkräfte, die regelmäßige Vertrauensverluste verhindern.

***

Do, 14.12.06

Langsam geht es besser. Ich beginne mit dem Packen.
Eine angebliche Komikerin und Improvisiererin, die aber jedem konstruktiven Angebot auszuweichen scheint, bis sie schließlich lediglich das Kantinenlesen als Probebühne für die Generalprobe für ihre Prüfung benutzen will. Oder sollte ich etwas missverstehen?
Habe jetzt ein Google-Account.
Uli fährt für mich bei meinem Umzug.
Tube hilft mir beim Einrichten meines Blogs. Was der mir schon in Computer- und Softwarefragen geholfen hat, übersteigt meine Fähigkeiten zu Dankbarkeit.
Und dann gibt es noch jene Agentur, die sich vor fünf Jahren mal um meine Sachen kümmern wollte. Stattdessen bekomme ich jetzt deren Newsletter mit Ankündigungen von Shows diverser Komiker, die ja in ihren Augen profitabler sein müssen als ich.
Den Abend beschließt ein wieder außergewöhnlich schöner Chaussee-Abend.

Die Geschichte von "Lutze", dem Krebsforscher in London, scheint so haarsträubend, wenn ich sie nicht selbst fast so erlebt hätte. Aber meine Akropolis war Ghana, mein Athen polnische Kleinstadt Wroclawek, mein Irish Pub war Torun. Und die Tamilin war bei mir eine Irin, von der mir ein scheußlicher Schnappschuss geblieben ist.

Die Drohung, sich zu trennen, nimmt dann Marcel doch zurück. Man hätte es ahnen können – zu sehr scheint er dieses Spiel, in dem er immer der Leidende bleibt zu brauchen.
J.S. "Er sieht sich aber in guter Gesellschaft mit Nationen, die sich mit Krieg bedrohen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während keine der beiden Seiten weiß, ob die andere wirklich ernsthaft zum Krieg bereit gewesen wäre, wenn man nicht eingelenkt hätte."
Die Liebe überhaupt unter solchen Gesichtspunkten zu sehen, geschweige denn sie wie im Gefangenen-Dilemma-Spiel praktizieren zu wollen, die Habsucht dominieren zu lassen, widerspricht dem Lieben völlig. Marcel hat die Liebe schon jetzt wieder verloren.

***

Fr, 15.12.06

Wollen wir bei unserem Umzug auf Ökostrom umsteigen? Wann wenn nicht jetzt? Wenn man sich erst mal eingerichtet hat, wird jede Änderung anstrengend.
Von der Schreibmaschine von 1941, die ich von Tante Hedwig geerbt hatte, trenne ich mich nun auch. Sollte ich sie etwa aufheben, bloß weil ich auf ihr im Grundstudium noch meine Seminararbeiten geschrieben habe?
Meine Frage, ob wir nun doch bei der Chaussee auf komplette Rauchfreiheit umsteigen, löst eine Diskussion aus, die nach zwei Jahren im Grunde immer noch nicht beendet ist, obwohl man inzwischen sogar juristisch keinen Spielraum mehr hätte.

Jochen beginnt seinen Eintrag mit sechzehn Zeilen Zusammenfassung der Kunstgeschichte, die schon in dieser Kürze ein knackiger Lesebühnentext wären. Aber Jochen wäre nicht Jochen, wenn er der Sache nicht noch einen Dreh geben würde, eineinhalb Seiten Werbung für Sophie Calle, deren Countup to Happiness man Jochen in seiner Lage wünschen möchte.

Erstaunliches bei der Lektüre:
– Marcel hat schon mit "Der Arbeit" (d.h. wohl: dem vorliegenden Werk) begonnen.
– Die verstorbenen Cottard und Elstir leben wieder
– Der Gedanke einer Fußnote taucht eine Seite später im Fließtext wieder auf.
Ich würde mich fragen, ob Proust zeitgenössische Autoren parodiert oder ob sein Verlag bei jemandem in der Kreide stand, der seinem schwachsinnigen und offenbar analphabetischen Sohn unbedingt den Job als Lektor zuschustern wollte.
Da Albertine nicht mehr "zur Flucht gerüstet" scheint, verliert sie für Marcel an Attraktivität. Erinnert an das Lied von Stereo Total "Wie soll isch misch nach dir sähnen, wenn du stets bei mir biest."
Marcel erklärt Albertine, das Wesen der Kunst bestehe darin, "dass die große Schriftsteller immer nur ein einziges Werk geschaffen oder vielmehr ein und dieselbe Schönheit, die sie der Welt bringen, gebrochen durch verschiedene Medien, uns vor Augen geführt haben." (M.P.) Deshalb die vorangestellten Reflexionen? Oder doch Koinzidenz?

***

Sa, 16.12.06

Stehe mit Kopfschmerzen auf. Kann nicht weg, da ich auf die Lampenkäuferin warten muss. Ich sehe mich in meiner Wohnung um. Womit ich mir in den letzten achtzehn Jahren meine Wohnungen verhunzt habe, ist eigentlich auch schrecklich. Punker-Attitüde gepaart mit Omahaftigkeit. Hauptsache billig. Andere haben auch bei aller Billigkeit darauf geachtet, dass die Dinge nach etwas aussehen. Wie habe ich all die beneidet, die mit dreißig Mark auf den Flohmarkt gingen und zielsicher das herausfanden, was in ihre Wohnung passt. Bei mir leidet alles, was mit optischem Vorstellungsvermögen zu tun hat. Aber auch hier helfen keine Ausreden mehr – ich muss es in die Hand nehmen, trainieren.
Schöner Freestyle Rap Workshop mit Ben von den Ohrbooten. Wenn er kein Popstar geworden wäre, hätte er das Zeug zu einem großartigen Lehrer, der es allein schon durch seine positive Art versteht, andere mitzureißen.
Ein Bö-Brainstorming kommt nicht zustande, die Hälfte der Besetzung fehlt. Man versucht, ein paar Pfähle einzurammen. Z bekommt gleich bei kleineren Themen einen Rappel, wenn sie das eigene Universum übersteigen, und man fragt sich, ob Zickigkeit auf der Schauspielschule als Pflichtfach gelehrt wird. Es führt, und das sehe ich wieder und wieder, zu gar nichts, wenn Fragen als Prinzip diskutiert werden statt konkret.
Am Abend ein eher ruhiges Kantinenlesen. Aber Robert Naumann strahlt über allen.

Kein Eintrag bei Jochen.

***

So, 17.12.06

Breche das Schreiben ab, weil ich im Hinterkopf schon einen Brief formuliere, der, wie ich glaube, nicht länger warten kann. Maile ihn noch Steffi mit der Bitte, zu prüfen, ob er angemessen ist. Wir diskutieren dies, aber auch Umzugskleckerkram. Später kann ich nicht mehr die Schreib-Energie aufbringen.
Bücher, Akten, Platten und CDs des Wohnzimmers sind nun fast vollständig eingepackt, in ca. 30 Kisten. Ich spüre einen kleinen Schmerz im unteren Rückenbereich. Dabei trage ich die Kisten fast immer vorbildlich aus den Beinen heraus.
Noch kein Weihnachtsgeschenk. Weder für Nils noch für Steffi, die ja immer ordentlich vorlegt mit Selbsterschaffenem, während ich froh bin, wenn ich ein passendes Buch finde.
Auch das Albino-Känguru, das ich damals als letzten Liebesbeweis geschenkt bekam, muss weg. Es ist völlig verrottet und riecht schon nach Chemie.
Moderiere die Workshop-Show. Krawatte ist bereits in irgendeiner Kiste. In der Anzugsjacke, wie ich zu spät sehe, ein Loch.

J.S.: "Lieber verwandelt man [Achtung, Jochen benutzt "man" in seinen Texten synonym zu "ich"] sich in ein Mahnmal seiner Leiden und widmet sein Leben wie der letzte Überlebende eines Völkermords dem Gedenken an die missachteten Gefühle." Die Überwindung des Leidens scheint ihm ein Verrat an seinen derzeitigen Gefühlen. Wir können beobachten: Haben, Horten, Festhalten, Konservieren statt Handeln, Geben, Loslassen, Entwickeln.

Marcel und Jochen scheinen immer mehr zu verschmelzen. Oder ist es die Interpretation, die wir geliefert bekommen? Marcel bewundert Albertine, die mit Golfschlägern an der Bibliothek lehnt. Sie trägt Schuhe, "die er ihr herstellen lassen hat. Was sie natürlich auch nicht endgültig zu seinem Besitz macht, aber es ist nur konsequent für den Liebenden, über die Kleidung des Geliebten bestimmen zu wollen." (J.S.)
Es ist nicht mehr als die Liebe der Katze zur Maus. Sie liebt nicht die Maus, sondern das Haschen. Das halbtote Tier wird dann auch immer wieder angestoßen, damit es sich zu fliehen versucht, um dann um so sicherer wieder in ihren Klauen zu landen.
Man könnte es auch radikal anders herum betrachten: Marcel hasst in Wirklichkeit Albertine, "ein gezähmtes Wild, ein Rosenstock, dem ich Stab und Stütze, das Spalier gleichsam, lieferte." Würde er sie sonst belügen? Würde er ihr sonst derart misstrauen? Wie pervers, einen geliebten Menschen einsperren zu wollen.

He who binds himself to joy
Doth the winged life destroy:
But he who kisses the joy at it flies
Lives in Eternity’s sunrise
(William Blake)

Den Menschen besitzen zu wollen, ist nicht ein Ausdruck von Liebe, sondern von Gier und Angst. Angst, der Kitzel könne versiegen. Es ist der alte Irrtum, Liebe sei ein emporschießendes Gefühl, das an die Anwesenheit des Menschen gekoppelt ist. Was für ein Quatsch das ist, müsste Marcel ja schon erkennen, als ihn Albertine durch ihre Dauerpräsenz nur noch anekelt. Von nix kommt nix. Liebe erstickt, wenn wir auf das Gefühl warten. Sie muss wie ein Feuer genährt werden, durch liebendes Handeln.

***

Mo, 18.12.06

B. gratuliert schon zu Weihnachten. Wie immer bin ich in Sorge, auf welcher Seite des Therapeutentisches er gerade sitzt, aber wenn er Mails schriebt, kann es ja noch nicht so schlimm sein. (Oder nicht mehr.)
Der Vertrag mit der Band ist nun fertig, und ich versuche, nicht daran zu denken, was geschieht, wenn aus irgendeinem bescheuerten Grunde niemand zu Silvester den Weg ins RAW findet.
Abendessen in N.s indisch-nepalesischem Restaurant. Sehr schön, wo ich doch indische Küche nicht so vertrage und bei der obligatorischen Salat-Imitation schmunzeln muss. Gedanken zu einem Austausch und Kooperation zwischen Stegreifbühne und Bö.

Jochen auf dem Konzert bei Morrissey: "Eine Stimme zu besitzen, die man gegen keine andere austauschen könnte, was ist das Pendant dazu beim Schreiben?" Dasselbe?
"Wenigstens kann man Lieder immer wieder singen, während mir noch kein Text gelungen ist, den ich nicht nach einem Dutzend Vorträgen satt gehabt hätte." Ja. Wenn "Satisfaction" ein Gedicht wäre, säße Jagger inzwischen wahrscheinlich in der Nervenheilanstalt.

Marcel versucht, Albertine mit dem Eintreffen seiner Mutter, neuer Kleider und der Besichtigung venezianischer Glaswaren zu überreden, die Abreise zu verschieben. Wohin eigentlich?
"Solange sie da war, hatte ich das Gefühl, ich könne der Zukunft gebieten." Nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart – auch die Zukunft will Marcel fesseln, einsperren, statt sich dem Neuen, dem Leben, dem Überraschenden hinzugeben. Die Suche nach der verlorenen Zeit? Hier geht sie verloren. Im Einsperren, Konservieren. Im Festhalten. Anstatt die Zeit zu leben.
Albertine öffnet nachts das Fenster, was tut Marcel? Legt er sich eine Decke über? Zieht er sich eine Schlafmütze auf? Bittet er sie, das Fenster zu schließen, "da ich mich vor Luftzug fürchtete"? Nein, er  wandert "die ganze Nacht im Korridor auf und ab in der Hoffnung, ich werde durch das Geräusch meiner Schritte die Aufmerksamkeit Albertines auf mich lenken und erreichen, dass sie mich mitleidig zu sich rief." (M.P.) Oder man muss Proust wirklich als Komiker verstehen, wie Jochen meint? Dann wäre diese Passage die erste, die mich das glauben lässt. Sie erinnert schon an Woody Allen.
Jochen Schmidt verweigert dermaßen konsequent die Rechtschreibreform, dass er sich nicht nur, wie auf jeder Seite zu sehen ist, der ß/ss-Reform sondern sogar deutlichen und unumstrittenen Fortschritten entzieht. Statt fetttriefend schreibt er fettriefend. Wer aber waren die, die "Fett" riefen? Oder war da doch der Lektor schuld?
Er wacht auf, und der von draußen hereinströmende Benzingeruch eines Automobils lässt ihn von Venedig träumen. Er schellt nach dem Hausmädchen, das ihm berichtet, dass Albertine fort ist. Für immer.

Ende des fünften Bandes

***

6. Band: Die Entflohene

Di, 19.12.06

Anscheinend halten es einige Kultur- und Politprofis für völlig normal, jeden, mit dem sie einmal Mailkontakt hatten, in den persönlichen Reklameverteiler aufzunehmen. Bei meinen Viagra-Lieferanten und Penis-Verlängerern habe ich ja noch Verständnis.
Jochen macht uns auf Veränderungen im Wikipedia-Artikel zu den Lesebühnen aufmerksam. Seit ausgerechnet S. den ersten Artikel verfasst hat ("politische Texte, die im Stehen gelesen werden"), kann eigentlich jeder nur noch rumdoktern. Meiner war fast fertig, aber wer bin ich, dass ich die Arbeit anderer in die Tonne trete? Wahrscheinlich ist das das Problem vieler Wikipedia-Artikel. Wenn einer erst mal einen größeren Text mit Struktur angelegt hat, kann man den Murks kaum noch verändern.
Erfahre nun vom hausinternen Silvester-Konkurrenzprogramm des RAW. Und so auch von Musikrichtungen, deren Namen ich noch nie gehört habe, deren Konstruktion aber immerhin eine Klangwelt im Kopf entfaltet: tech-house, breakcore, dubstep. "Mehr als 30 DJs/Live Acts auf fünf Floors". Unser Floor bleibt unerwähnt, weil wir einen eigenen, für RAW-Verhältnisse unverschämt hohen Eintritt von 8 Euro verlangen. Zu Silvester!
Für 2,50 Euro ist die Schreibmaschine weggegangen! Berufe, die ich zum Glück nicht ergriffen habe. Heute: Internet-Händler.

Jochen legt uns seine Arbeitspläne für die Vorweihnachtszeit offen, deren demütigendstes Element in der Pflicht besteht, das Ende einer hirnverbrannten Weihnachtskrimifortsetzungsgeschichte zu schreiben. Neben Kinderverpflichtungen, Chaussee-, taz-, Tagesspiegel-, Proust-Texten, Lateinaufgaben, Geschenkbesorgungen, findet sich auch: "beim Umzug vom Kollegen helfen". Ein Glück, dachte ich bei der original Blog-Lektüre, dass ich da noch in den Terminplan reinpasse, und dann im zweiten Moment der Schreck: was, wenn mit "Kollege" jemand anders gemeint ist und er mich vergessen hat.
Meditationsvorschlag für die Feiertage: "sich mit einem Bier vor den Computer setzen, die Festplatte defragmentieren und beobachten, wie sich die kleinen Kästchen langsam sortieren."

Kann man die Proust-Bände auch, so wie etwa die Luhmann-Werke oder Winnetou I-III auch in beliebiger Reihenfolge ohne Informationsverlust lesen? Hat das schon jemand getan? Gibt es eine "innere Entwicklung" des Helden oder ist er wie Old Shatterhand von vornherein mit seinen Fähigkeiten ausgestattet und das Moralgehäuse ist fix und fertig, nur dass man sich Scharlih nicht als eifersüchtig Verzweifelnden vorstellen könnte.
Jetzt, da Albertine ihn verlassen hat, plant Marcel die Hochzeit. Er lebt jetzt anscheinend in einer Märchenwelt. Vielleicht sollte ich zur Abwechslung doch wieder in die Geschichten von 1001 Nacht wechseln. Aber das dauert noch 36 Jochensche Lektüretage.

***

Mi, 20.12.06

Jochen sucht bei den Lesebühnenkollegen dringend die Sopranos. Er würde "gutes Geld zahlen". Statt einer Antwort kommen die zu erwartenden Scherze, ob er mit "gutem Geld" D-Mark meine. Oder gar Ostmark.
Neue Typologie: Frauen, die die E-Mail-Adressen ihrer Männer benutzen und zu welchen Gelegenheiten sie diese Praxis beenden. Aus der Anfangszeit des E-Mailens stammt auch noch die Marotte, von vornherein eine Mail-Adresse für sie und ihn anzulegen. Die wenigen, die ich noch mit dieser Gewohnheit kenne, haben alle noch eine Snafu-Adresse. Die Adressen heißen dann ungefähr sybilmicha@snafu.de.
Weihnachtsgrüße von B. und C., die uns zu sich nach Liverpool einladen. [Nachtrag 2008: Wir folgen der Einladung 4 Monate später.]

J.S.: "Melancholie ist ja kein Defekt sondern die Konsequenz jeder geistigen Auseinandersetzung mit unserer Existenz." Ich würde dasselbe für Heiterkeit behaupten. Sich diese zu bewahren, statt im Heer der Melancholiker zu versinken bedarf einer geistigen Auseinandersetzung nicht nur mit unserer eigenen Existenz.

"Endlose Überlegungen eines frisch Verlassenen." Dies jetzt lesen zu müssen, nur wegen eines im Juli geleisteten Eides, muss schon hart sein. J.S.: "Die Sache ist gelaufen, will man ihm sagen, hak es ab." Doch auch Monate später trägt Jochen die Narben dieses Verlassenwerdens wie ein Indianer seine Kriegsnarben.
Marcel sendet Saint-Loup zu Albertines Tante, um die Hochzeit anzukündigen. Saint-Loup erschrickt beim Anblick von Albertines Foto. (Eine frühere Affäre?)
Über die Liebesökonomie von attraktiven/unattraktiven Partnern: Welche versteckten Qualitäten haben die unattraktiven? Sind die Partner der Attraktiven so oberflächlich, dass sie sich mit der schönen Oberfläche zufrieden geben? Mit Luhmann könnte man auch sagen, dass die Knappheit des Gutes Attraktivität in der Liebe nicht ökonomisch geregelt werden kann. Im Kommunikationssystem Liebe nimmt Ego Alter immer als ganze Person wahr, und nicht nur in einer spezifischen Rolle, wie es etwa im Wirtschaftssystem (Käufer/Verkäufer) oder im Rechtssystem (Kläger/Beklagter/Richter) der Fall ist.  

***

Do, 21.12.06

Während man überlegt, ob man Y., wegen seines erratischen Finanzgebarens verklagen, bemitleiden oder ihm die Adresse einer Drogenberatungsstelle zukommen lassen soll, lädt er einen schon zu seiner nächsten Show ein. Merke: Das Wichtigste bei einer Pointe ist das Timing.
Nach der “Chaussee” noch schmell ein Hinweis-Schild basteln, damit die Robbe morgen vorm Haus Platz findet. Letzte Gänge durch die Wohnung, die mir mit kurzen Unterbrechungen über 15 Jahre ein Zuhause bot.

Selbständig lebensfähiger Text: "Das Land der ungebremsten Leidenschaften"

Albertine bemerkt die Anstrengungen Marcels, die Angelegenheit durch Saint-Loup und die Tante zu regeln und weist das zurück. Marcel antwortet "ausufernd", das kontraproduktive seines Handelns (anscheinend erstmals) erkennend. Dann wieder Zögern: Was wenn sie drauf eingeht? Das Bild elenden Zusammenlebens steigt wieder auf. Brief abschicken, doch nicht, oder dann doch. Ihr folgender Brief weist ihn noch mehr von ihr von sich, aber sein Jagdinstinkt ist dadurch natürlich wieder geweckt, diesmal versucht er es über die Eifersuchtsmasche. J.S.: "Er kündigt ihr an, mit Andrée leben zu wollen."
Eins ist klar: Albertine muss tatsächlich ein wenig einfältig sein und völlig unfähig zu Intrigen oder Tricks. Denn wenn sie Marcel wirklich loswerden wollte, müsste sie ihm doch nur einen öden, langweiligen, dümmlichen Brief schreiben, in dem sie ankündigt, sich auf die Hochzeit zu freuen, sie würde nun von immer bei ihm bleiben und ihn keinen Moment aus den Augen lassen usw. Das würde schon die entsprechende Gegenreaktion bewirken.

***

Fr, 22.12.06

Umzug. Aus Humoristensicht ist alles dazu gesagt. Ich habe meine drei Texte zu dem Thema geschrieben, habe außerdem ca. 20 darüber gehört. Und habe versucht, aus den Fehlern der anderen zu lernen. Habe vorher im Prinzip alles Einpackbare eingepackt, alles Abschraubbare abgeschraubt. Die drei Ausnahmen werden mir dann prompt vorgeworfen. Es sind genügend Helfer da, so dass weder die Faulen noch die Fleißigen zu viel arbeiten müssen. Der Gehbehinderte schmiert Stullen. Die Robben&Wientjes-Karre genügt für eine Tour. Aber ausgerechnet mein Freund und Fahrer Uli ist heute etwas hektisch drauf, trotz jahrelanger Taxi-Erfahrungen. Und so detscht er den Wagen gegen einen PKW in der Karl-Kunger-Straße. Wenn es irgendein Auto wäre! Nein, es ist das Auto meiner Nachbarn, die das Malheur auch noch direkt mitanschauen können. Sie kennen mich noch nicht, aber ich bin schon jetzt bei ihnen unten durch.




.
Die Diskussion über die Zahlungsmoral des Autoren-Einladers entwickelt sich zu einem Drama eigener Klasse. Der Ohrfeigen-E-Briefwechsel zwischen K. und M. ist schon Lesebühnen-Literatur.

Aus den geographischen Hinweisen kann man schließen, dass Jochen Geschenke bei Dussmann kauft, obwohl er eher von dem berichtet, was ihm selber wichtig wäre: Die Fernsehserien aus der Kindheit. Er spielt mit dem Gedanken, "bei den Sopranos einzusteigen, das wären noch mal neunzig Stunden Realitätsflucht, jetzt wo ich mit ‘Curb’ durch bin. [Nachtrag 2008: Er wird sich dafür entscheiden und an die Sopranos noch ‘The Wire’ dranhängen.]
Tip- oder Satzfehler oder gewollte Dopplung: "Was einen zur Zeit quält sind alle Formen von Formen in der Öffentlichkeit." Oder doch Formen von Erotik? Ich bin damals im Dezember 1996 auf dem Höhepunkt meines Liebeskummers mit einem russischen Rockerkumpel nach Prag geflohen, hatte aber vergessen, dass es natürlich auch in Prag Schaufensterpuppen gibt, die einen an sie erinnern.

Marcel schiebt einen Gedanken fort, den ich auch hatte, als ich litt: Hätte sie einen Unfall, würde ich jetzt weniger leiden.
Und schwupps! geschieht genau das. Albertine ist tot. Jochen meint, es sei eine "Wendung, die etwas nach Drehbuchseminar klingt." Man könnte es aber auch umgekehrt sehen: Die Exhibitionierung seines Wahns, der zeitweisen Dümmlichkeit Albertines, stehen nun erst in einem anderen Licht. Vor einer Verfilmung müsste dann immer stehen: "Nach einer wahren Geschichte".
Marcel versucht, sämtliche Erinnerungen hervorzurufen, und beschwört alle fünf Sinne, "wie bei Old Shatterhand, als er den sterbenden Winnetou in den Armen hält und an glücklichere Tage denkt." Hier spielt Jochen allerdings auf den Film an, diese Szene steht gar nicht im Buch.

***

Sa, 23.12.06

Schlafen in Treptow. Hab ja erst mal nur die Matratze, die in Nils’ früherer Schlafkammer liegt. Die Wohnung steht nun vollgerümpelt, mehr oder weniger so, dass ich mich darin noch praktisch bewegen könnte. Wenn nicht die Türen wären. Ins Schlafzimmer und ins Bad gelange ich nicht, ohne den Kopf einzuziehen. Die Tür meines Zimmers ist 1,94 Meter hoch. Vier Zentimeter Spielraum für Sohlen und den Schwung beim Laufen. Das soll’s jetzt sein? In meiner eigenen Wohnung in en kommenden Jahren gebückt laufen? In der Nach wache ich auf vom Autolärm. Und dabei schlafe ich hier mit geschlossenem Fenster auf der ruhigen Seite.
Weihnachtspost aus Beirut. L.s Kinder sollen Joseph und Maria beim Krippenspiel sein. Die Botschaft: Frieden. Es muss ein schönes Land sein, das da regelmäßig von Gewalt heimgesucht wird. Hatte man Libanon nicht sogar einmal die Schweiz des Nahen Osten genannt? Und ich habe es nie geschafft, sie dort zu besuchen.

Ist Kunst Sublimierung? Das Bild, das uns Freud vom Künstler hinterlassen hat, ist zu stark, als das Jochen nicht drauf anspringen würde. Kunst als Realitätsersatz, als Ersatz für einen geliebten Menschen. "oder reitet man sich nur immer tiefer rein, wenn man in der Vorstellung lebt, Leiden würden einen zu einem tieferen Menschen und damit auch zu einem besseren Autor machen?"
Ja.

Weitere Beschwörung der Erinnerungen und des Seelenleidens.
Jochen bricht diesmal bereits nach 14 statt der sonst üblichen 20 Seiten die Lektüre ab. Er "habe auch das Gefühl, dass ich mich vergifte. Sie heute anzurufen und wiederzusehen war natürlich ein Fehler gewesen."

***… Weiterlesen

6.-8.1206

Gewalt abwehren. Meine zehn Tricks:

So. Jetzt bin ich auf Datumsgleichstand 6.12./6.12.

Wollte nur mal kurz die Stelle aus "Winnetou I" nachschlagen, in der Shatterhand Intschu-tschuna besiegt. Und schwupps, hatte ich schon wieder das halbe Buch durchgelesen. Vielleicht wäre der komplette May ja der am einfachsten zu handhabende Lektüre-Blog, denn schließlich liest er sich doppelt so schnell wie andere Bücher. Die beeindruckende Reihe der grünen Bände haben auf mich immer eine große Wirkung gehabt. (Gelesen habe ich die drei Winnetou-Bücher, vier Bücher aus der Orient-Reihe und "Der Mahdi".) Aber solch eine Dauerlektüre wäre ziemlich schnell langweiliger als die ausführlichen Harûn er-Raschîd Anekdoten. Anschleichen, die immerselben langwierige Dialoge mit Freund und Feind, Landschaftsbeschreibungen, andauerndes Gelobtwerden von Freund und Feind. (Hatte ich nicht sogar mal einen Text darüber geschrieben?)

Mi, 6.12.06

Was wären Lektüre-Alternativen zu 1001 Nächten?
1. Wilhelm Meister (ca.1000 S.): vermutlich sehr dröge.
2. Luhmanns "Gesellschafts-Werke" (ca. 5.000 S.) – vielleicht zu unliterarisch. Es wäre schwieriger, daran anzuknüpfen.
3. Shakespeares Dramen (ca. 2.500 S.) Bei Shakespeare könnte man als Lektüre-Einheiten die Szenen oder Aufzüge nehmen.
Vorteile: Angenehme und delikate Lektüre, literarische Gattung. Nachvollziehbare Einheiten. Nachteile: Er ist vergleichsweise bekannt und tausende Male durchanalysiert.
[Nachtrag 2008: Heute würde ich wohl vielleicht Luhmann vorziehen. Andererseits habe ich "Gesellschaft der Gesellschaft" schon als Klolektüre schon gelesen und brauchte dafür 2 Jahre. Wirklich anknüpfen kann ich an 1001 Nacht auch nur selten. Außerdem von den Gesellschaftsbüchern gelesen. 1996: "Das Recht der Gesellschaft". 1999: "Die Politik der Gesellschaft" (zur Hälfte)].
Pa hilft mir, meine Möbel zum Müllplatz zu fahren. Verschiedenes Timing, verschiedene intuitive Auffassungen darüber, ob der Vater den Sohn kommandieren sollte.
Ein anstrengender Tag, und ich muss mir nicht die Show der Kollegen anschauen.

Weil die Erinnerung an die WM schon wieder verblasst ist, schreibt Jochen: "Unsere Gegenwart hallt einfach nicht nach, es ist alles zu banal." Oder werden wir nicht einfach nur alt? Und das Erlebte verliert den Reiz des Neuen, weil es immer weniger Neues gibt. Selbst wenn man ein neues Land bereist, hat man die Erfahrung des Neues-Land-Bereisen schon gemacht. Und die globalen Ereignisse? Sollte denn das zumindest denkbare Auflösen der Arktis weniger Widerhall finden als die letzte Eiszeit? Sollten die Terroranschläge und Kriege der letzten Jahre banaler sein als der Kalte Krieg? Die explosionsartige Verbreitung des Internet banaler als die Verbreitung der Telegrafie? Sollten Jochen Schmidt, dem genauen Analytiker des Details, die Antenne für das Große fehlen? Eigentlich nicht denkbar.
Im schönen Sommer, während der WM, kämpfte er mit dem schlechten Gewissen, ihn nicht richtig genießen zu können. Auch mir geht es so. Als Kind konnte man die Begeisterung der Erwachsenen z.B. für den Frühling gar nicht recht verstehen. Jede Jahreszeit brachte ihre Freuden, und der Hammer war eben der Sommer. Jetzt hingegen löst schon der Mai das schlechte Gewissen aus, das man angesichts einer kaum zu bewältigenden Aufgabe (nämlich den Sommer richtig zu genießen) empfindet. In manchen Jahren (so auch 2006) löse ich das Problem, indem ich den Sommer durch September- oder Oktober-Urlaube in warmen Ländern verlängere. Aber auch das ist natürlich nur eine Scheinlösung. Schließlich kommt es darauf an, den Moment als solchen zu empfinden.

Madame Verdurin bekommt anscheinend Schnarch-Schluchz-Anfälle, wenn sie die Kompositionen von Vinteuil hört. Das erinnert ein wenig an die lauten Schnarch-Lacher – die begeistertsten Zuhörer bei den Lesebühnen, die aber jedem anderen die Lust nehmen, laut zu lachen. Marcel ist auch so einer, der "nur mal gucken" wollte, ohne die Darbietung zu respektieren. Die Autorität Charlus’ hindert ihn daran, sich gehen zu lassen. Heute wäre Marcel  wahrscheinlich einer von denen, die bei der Chaussee in der ersten Reihe auf dem Sofa lümmeln und sich ausführlich mit den lesbischen Bekannten seiner Freundin streitet.
Endlich mal etwas aus der Sammlung "Unklares Inventar", was ich kenne: Prinz Albert von Belgien (gemeint ist natürlich Albert I.)

*

Do, 7.12.06

Die Sprintspikes hat ein Nazar für eine Olga erstattet.
Wie schreibt man "Fietschern"? Faeturen? Featurn?
Nach 1 Tag kommt der Antwortbrief. Versöhnlich. Und so hart es auch kracht, man kommt doch immer wieder ins Reine miteinander.
Außergewöhnlich guter Chaussee-Abend. Und ich weiß, dass ich zwar mit seinem Text nicht gemeint bin, aber man könnte es so lesen.

Das Thema des vorigen Tages – die Banalisierung der Gegenwart – wird noch mal aufgegriffen: "Ich glaube, ich habe noch nie so lange an einem Text gefeilt. Jetzt steht er in diesem Heft, das kaum jemand kennt, und wird die Welt auch nicht verändern. Das traurige ist, daß so eine Veröffentlichung überhaupt keine Gefühle mehr auslöst, während ich mich noch bei meiner ersten Publikation in der Zeitschrift "Boxsport" ("Die Ballade vom Eisernen Mike, der seinem Gegner Heiligfeld ein Ohr abbiß") vor Aufregung erst zu Hause getraut hatte, das Blatt aufzuschlagen. Die Realität des Literaturbetriebs hat den Büchern ihre Aura genommen. Ich muss wieder lernen, von meinen eigenen Büchern zu träumen."

Schönes Bild der Hörer von E-Musik: "Ich blickte auf die Padrona, deren leidenschaftliche Unbewegtheit dagegen zu protestieren schien, daß die Damen des Faubourg die jeder Ahnung baren Köpfe wiegend den Takt angaben."

8.12.06

Y. veranstaltet seit Jahren Kleinkunstshows, in denen er Geld für berühmte gemeinnützige Vereine sammelt, die nie etwas davon sehen. Nun soll er auch Kollegen prellen, denen er Bares versprechen soll und die ihn nicht erwischen, da er nicht gemeldet sei. Warum gehen sie nicht zu seinen Shows? Ein ganz anderer Y. als ich ihn kenne.
Die Band lässt wegen der Jahresendfeier hart verhandeln und ahnt nicht, dass ich für diese gesamte Party allein hafte, aber nachher auch nicht mehr als jeder Leser ausgezahlt bekomme.
Immer noch leicht erkältet, und ich muss den Impro-Tanz-Kurs ausfallen lassen.
Den ganzen Tag über mit der Organisation der Silvesterparty beschäftigt. Dass auch ja alle Beteiligten zufrieden sind.
Am Abend versuche ich, mich mit einem Film zu belohnen. Glaube, "Der Untergang" könne nicht so schlimm sein, wie alle sagen. Welch ein Irrtum! Bloß die Kritiker haben immer an der Hauptsache vorbeigekrittelt. Natürlich kann man einen Film über die letzten Tage im Bunker machen. Natürlich kann Bruno Ganz Hitler spielen. Aber der Film stimmt in seiner Umsetzung nicht. Er ist völlig unentschieden. Es stimmt das Timing nicht, es gibt keine Perspektive, keinen wirklichen Ansatz. Und schließlich hat Hitler, wie man weiß, im Privaten, nicht so gedröhnt, sondern weiches Wienerisch gesprochen. Mit Hitler-Bildern im Kopf schlafengehen. Es gäbe Schöneres.

Varianten der After-Show-Depression bei Jochen:

  • Wenn es gut gewesen war, hatte man Angst, es nie wieder so hinzukriegen

  • wenn nur 20 Zuschauer gekommen, und die Texte verpufft waren, fühlte man sich machtlos

  • man wußte nicht, ob einem wieder zwei Texte für die nächste Woche einfallen würden

  • Heute bin ich traurig, wenn die Show vorbei ist, und die Zuschauer gehen

Das Glück des Sprechbehinderten, dass es Mikrofone gibt: "Für mich mit meiner behinderten Stimme ist es eine große Erleichterung, durch ein Mikrophon sprechen zu können, ich würde mir das auch im Alltag wünschen, wo ich immer wieder überhört werde." Irgendjemand, dem Jochen mehr glaubt als mir, müsste ihm noch mal sagen, dass er eine kräftige Stimme hat, die er nur nicht einzusetzen versteht. Wie ein muskulöser Zwei-Meter-Kerl, der stöhnt, wenn er einen Blumentopf umstellen soll.

Die Soiree sei ein Erfolg gewesen. Ich dachte, wir wären auf einer Matinee.… Weiterlesen

2.-5.12.06

Sa, 2.12.06

Schöne Probe zu viert mit Robert Munzinger. Das Gefühl des "Alles-ist-möglich" wird wieder geweckt.
Seit langem mal wieder auf eine Rezension gehört und lese jetzt "Rehe am Meer" von Ralf Rothmann. Beeindruckend. Obwohl aus dem Ruhrgebiet, wagt er sich an Ostberliner Themen und trifft es ziemlich genau. Außerdem Sinn für überraschende Bilder und die Poesie der Lücke.
Kantinenlesen. Einer der wenigen unangenehmen Abende seit langem. Schon im ersten Teil kann sich … nicht zurückhalten und beleidigt nun nicht mehr nur die Kollegen, sondern auch das Publikum. Ich versuche, das Ganze runterzuspielen, funktioniert aber auch nicht. Er steigt, wie er später schreibt, aus.
In der Kneipe mit X. Ich will gar nicht über unsere sich nun seit 2 Wochen hinziehende Auseinandersetzung sprechen. Aber er fängt von selber mit einem langen verärgerten Monolog an, den das ganze Kneipenpublikum mitgenießen darf.

kein Eintrag bei Jochen

*

So. 3.12.06

Beginne den Tag, wie der gestrige endete: Mit Kopfschmerzen.
Stelle Chaussee-CDs mit den Aufnahmen der letzten Monate zusammen.
Auch das Moskitonetz, das ich 1997 in New York im "Little peaceful military store" gekauft hatte und das mir wenig später in Ghana so geholfen hat, habe ich nun bei Ebay verkauft. Hätte ich dieses Teil mein Leben lang als Erinnerung an die drei Monate mit mir herumschleppen sollen – von Keller zu Keller? Auch die Spikes, mit denen ich 1987 meinen persönlichen Rekord von 12,1 Sekunden gelaufen bin.
Abends im Sofa-Varieté. Äußerst wohlwollendes Publikum, das sogar noch den abgestandendsten Gags Respekt zollt. Dennoch wissen die Zuschauer schon zu differenzieren. Allerdings wird das Varieté immer mehr zu einem Treffen der Berliner Akrobatik-Schüler, eingesprengselt die üblich verdächtigen Friedrichshainer Open Stage Hopper B. und L.

(Wir befinden uns wieder in zeitlicher Übereinstimung zwischen Blog und Buch)
Jochen veröffentlicht netterweise die Kontaktanzeige eines eine Russin suchenden Franzosen, die er an der Pinnwand des Sprachenzentrums gefunden hatte. Aber was macht Jochen sonntags im Sprachenzentrum? Oder sollte er die Anzeige etwa geklaut haben? Oder fotografiert?
"So einfach kann es sein, zwei Menschen glücklich zu machen!", schreibt er. Dabei müssten ja, zumindest im Schmidtschen Universum, die Probleme jetzt erst richtig losgehen.

Swann ist tot.
Marcel ist eifersüchtig.
Bergotte gibt mehr Geld "für kleine Mädchen" aus als Multimillionäre es täten, um sich von den Freuden und Enttäuschungen, die sie bescheren, inspirieren zu lassen. Eine Kalkulation, die so Jochen, aufgehen sollte.

*

Mo, 4.12.06

Halsschmerzen sind schlimmer geworden, und im Laufe des Tages entwickelt sich eine ordentliche Erkältung. Tonsiotren hilft nichts.
Jochens spannende Idee, die Chaussee realitymäßig zu dokumentieren, ist die beste Idee seit langem, kommt aber zum falschen Zeitpunkt.
Am Abend sitze ich im indischen Restaurant, um mir Spielregeln für die 1001-Nacht-Lektüre auszudenken und stelle fest, dass ich, wenn ich mich an das Tempo „Eine Nacht pro Tag“ halte, 41 Jahre alt sein werde, wenn ich damit fertig bin. Ist es das wert? [Nachtrag 2008: Dass ich das schaffen würde, wäre heute eine äußerst optimistische Annahme.]
Ich muss einen Weg finden, mit den Anlässen umzugehen, die meine Tagesstruktur zerreißen – Reisen, Feiern und sogar der Donnerstag.

Nachdem er sich zehn Folgen von Curb Your Enthusiasm auf einen Rutsch angeschaut hat, offenbart Jochen, dass es genau das sei, wovon er immer geträumt habe: "sein Leben in eine Sitcom [verwandeln] und wird reich mit seinen Ticks und seiner sozialen Ungeschicklichkeit reich werden. Er will die Idee für die Chaussee umsetzen (s.o.).

M.P./J.S.: "Aber andererseits hatte ich auch wie am Nachmittag das Gefühl, daß ich eine Frau bei mir zu Hause vorfinden und bei der Heimkehr nicht die beschwichtigende Kräftigung durch Einsamkeit würde erfahren können." Ein echter Proust-Satz, aber würde ich ihn vorlesen, würden die Zuschauer lachen."
Eine Fußnote Prousts breitet sich über vier Seiten aus und deutet an, was normalerweise ausgespart würde. Mit anderen Worten, das Buch wäre normalerweise fünfmal so dick, könnte man meinen. Aber wer weiß, wessen Stil Proust hier zitiert. Auch Flann O’Brien gibt sich in "Der dritte Polizist" immer ausufernderen Fußnoten hin, bis es völlig absurde Ausmaße annimmt und die in den Fußnoten aus Anmerkungen langsam entwickelte Story droht fast, die Haupthandlung aufzufressen.

Di, 5.12.06

Stampit, der Selbstfrankierservice der Post, der einem von Ebay nahegelegt wird, ist furchtbar. Elendes Hin- und Hergewurschtel mit der Ausdrucksrichtung. Verliere 8 Euro. Das kann man ja auch reklamieren. Aber dieser ganze Aufwand ist doch höher, als wenn man beim nächsten Mal wieder Briefmarken kauft.
Exemplarisch für Wie man es lieber nicht mit uns versuchen sollte, eine Anfrage an die Chaussee von einem Herrn aus Potsdam, der uns mit seinem Kompagnon "in Berlin mal was um die Ohren hauen möchte". Ihr Programm bestehe "aus eigenen Texten und "trashigen" Ergänzungen, also Weihnachtsrezepte und Schrott in der Art." Ich biete trotzdem das Offene Mikro an.

Übungen im Positivdenken, als der Fuß umknickt. Was hätte alles schlimmer kommen können. Die Aufzählung des Grauens endet mit dem superlativen Horror: "Ich könnte im Ruhrgebiet geboren sein, hinter einer Autobahnschallschutzmauer, als fünfter Sohn des Betreibers einer Bowling-Bahn."

Marcels Eifersucht nimmt nun wirklich die Züge einer Krankheit an. Er verbietet Albertine zu einem Treffen mit den Verdurins, reist selbst dort an, und stellt fest, dass auch die "fatalen Mädchen" anwesend sind.
Er zweifelt an Albertines Tugend, was ihn in den Eifersuchtswahn treibt. Aber wäre sie tugendsam, wäre sie für ihn langweilig.
So wie auch mich das Thema langsam ermüdet.

29.11.06

Mi, 29.11.06

Aber wie soll ich den Brief mit der Bitte zur konstruktiven Zusammenarbeit abschicken, wenn ich von Jochen erfahre, das X sich gerade von seiner Freundin getrennt hat und darunter leidet?
Noch eine kommunikative Schwierigkeit: Am Abend, bitte ich Y. vor der Aufführung so nebenbei wie möglich, mich nicht mehr auf der Bühne zu pieken oder zu schlagen. Ich weiß, dass das ein blöder Moment ist. Aber es wäre wohl immer ein blöder Moment. Er nimmt es sehr persönlich, zieht sich zurück und beginnt zu grübeln, denn es bedeute ja wohl etwas, wenn er mich schlüge. Mein Einwand, dass ich das gar nicht persönlich nehme, sondern lediglich das Pieken und Gehaue satthabe, dringt nicht mehr durch. Nach der Show geht er rasch. Diskussion mit F. und K. in der Bar über die Anerkennung der Eltern, die man immer sucht, die man aber so richtig auch nicht ernstnehmen kann.

Proust behaupte, "dass die Liebe, die man empfindet, gar nichts mit demjenigen zu tun hat, der sie auslöst. Ich weiß nicht, ob das stimmt, vielleicht ist Liebe in dem Fall das falsche Wort. Ich wüsste nur gerne, wie man das Drama beim nächsten Mal vermeidet."
Das richtige Wort ist Eifersucht oder Eifersuchtswahn. Sie sucht sich ihr Ziel von selbst.
J.S.: "Man sollte bei Frauen, in die man sich verlieben möchte, immer darauf achten, dass sie keinen gut googlebaren Namen haben." Das genaue Gegenteil dessen, was Jochen im Blog geschrieben hatte:
"Man sollte bei Frauen, in die man sich verlieben möchte, immer darauf achten, dass sie einen gut googlebaren Namen haben."
Der Gag funktioniert trotzdem.

M.P.: "Als Albertine sich entfernt hatte, spürte ich, wie ermüdend für mich ihre unaufhörliche Gegenwart, ihr unersättliches Verlangen nach Bewegung und Leben war, das meinen Schlaf in Frage stellte, mich wegen der ständig geöffneten Türen in dauernder Erkältungsgefahr leben ließ…"
Ich denke hingegen, dass mangelnde Bewegung zu Eifersucht beiträgt. Wüsste Marcel, dass der beste Weg, der Eifersucht zu entkommen, darin besteht, Gemeinsames zu tun, litte er weniger unter Müdigkeit, unter Langeweile und unter Misstrauen. Siehe auch folgendes Zitat:
"Ich glaube dennoch, daß jene Erklärungen des Chauffeurs, die mir Albertine, in dem sie sie unschuldiger darstellten, gleichzeitig langweiliger erscheinen ließen…" Mit anderen Worten, Proust sucht die Eifersucht. Er ist im wahrsten Sinne süchtig nach Eifersucht.
Jochen jedoch hofft mit Marcel auf die "anästhesierende Wirkung der Gewohnheit." Betäubung statt Handeln.
Und nun glaubt Marcel auch noch, ein Zusammentreffen mit Léa aus Balbec und deren zwei lesbischen Freundinnen verhindern zu müssen. Da Proust schwul war und Albertine Albert, was sind dann Lea und ihre Freundinnen? Für den Hetero-Mann ist ja ein lesbischer Seitensprung der Frau nur halb so schlimm.

Do, 30.11.06

Nach nur 5 Stunden Schlaf wecken mich die Straßenarbeiter. Ich presse mir die Decke auf die Ohren und schaffe es tatsächlich noch mal einzuschlafen.
Diskussion: Ist es ein Nörgler oder eine Nörglerin, der/die über uns im Neon schreibt? Tyler Durden nur eine Figur aus Fight Club, zwar ein Mann, aber auch das kann Tarnung sein. Diese Art von Verschwörungstheorie ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was sonst in den Lesebühnen rumgeistert. Da ist immer nur von "der Presse" die Rede, so als ob sich die Journalisten wöchentlich versammeln würden und gemeinsam beschließen, wen sie diesmal über den grünen Klee loben oder in den Schmutz treten werden. Dabei schreiben viele selber für taz, junge welt, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Welt, FAZ, und sie müssten wissen, wie frei man da ist, jemanden zu verdammen oder zu loben.
Und außerdem ist es ein lobender Artikel, der nur erwähnt, dass man fürs Rumknistern zurechtgewiesen würde.
Entedecke "rockit", von Herbie Hancock auf youtube und schicke es Jochen, der es wohl auch liebte. Ich war damals immer völlig aus dem Häuschen, wenn es bei Formel 1, immer darauf erpicht, möglichst kein Detail zu verpassen. Schließlich gab es im Fernseher keine Pausetaste.

 

Dann entdeckte ich, dass es in der Jazz-Abteilung der Stadtbibliothek Lichtenberg eine Amiga-Platte von Herbie-Hancock gab. Wie konnte das sein? Wie kann Amiga eine Platte von diesem Typen herausgeben?, fragte ich mich Und wie kann es sein, dass der früher Jazz gemacht hat? Heute gehören Cantaloupe Island und Speak Like A Child zu meinen Lieblingsplatten des Jazz.
Die DERBY CYCLE WERKE GmbH zeigt sich kulant. Mir wurde vor 2 Wochen meine Luftpumpe vom Rad gestohlen, jetzt schenken sie mir eine optisch passende.
Einer weiß Geschichten aus den 80ern zu erzählen, so von Hüsch, der wegen seines guten Humors und seines mangelnden Kämpfertums vom Publikum gedisst worden sei. Von heute aus sei das eine "verkehrte Welt".

Vor Jochens Haus wird ein Film gedreht. "Sie kommen zu mir, um hier zu filmen, also kann mein Leben ja nicht ganz umsonst sein." Die Paranoia-Comedy-Technik, die ja ganz gut hier zum Thema passt. Alles, was in der Welt geschieht, geschieht wegen mir, der Komiker nimmt die Perspektive des Mittelpunkts der Welt ein (John Vorhaus, Joseph Heller).
Latein-Zitat: "Feras, non culpes, quod mutari non potest".
OK, Ich versuche es noch einmal, ohne nachzugoogeln mit Analogie und Raten
Feras – ??
non – nicht
culpes – beschuldigst
quod – welcher
mutari – verändertest
non – nicht
potest – ermächtigtest (??)
Jetzt heißt der Satz: "Feras, beschuldige nicht, wen du nicht verändern konntest."
Und jetzt mit Googeln: "Ertrage, was sich nicht ändern lässt, und schimpfe nicht darüber."

Erst die Eifersucht lässt Marcels Gefühle wieder aufglimmen (wie wir schon wissen), und das Gefühl der Eifersucht ist schon fast Beweis für den Betrug.
Als Marcel es gelingt, Albertine aus der Matineé zu locken, verliert er folgerichtig auch sofort wieder das Interesse an ihr.

Fr, 1.12.06

Freitägliches Ritual: Meine Finanzen überprüfen – Konto, Bargeld, Forderungen, Verbindlichkeiten. Weitere Statistiken, wie Besucherzahlen, Verkäufe. Immer mit hübschen Grafiken garniert. Ich weiß, wie sinnlos das alles ist, aber mit einem Job als Statistiker hätte man mich in der DDR auch noch in den langweiligsten Betrieb stecken können. Steffi hingegen fährt zum Kuchenbacken in ihre WG. Und das ist etwas, womit man mich jagen kann. Glücklicherweise gibt es dann doch immer Kuchenbäckerinnen und Statistiker.
Impro-Auftritt für die Weihnachtsfeier bei einer Bausparkasse. Sie sind begeistert und wollen "Sex" und "Saufen". Man nimmt alle seine Aikido-Fähigkeiten zusammen, um die karnevalistische Stimmung der lautesten Männer zu drehen, so dass am Ende alle etwas davon haben. Pacing und Leading – es führt kein Weg dran vorbei. Das Schmerzensgeld angemessen. Und der Schmerz hält sich in Grenzen, da ja am Ende die meisten Szenen wirklich OK sind.
X scheint von der Trennung völlig mitgenommen zu sein. Wie kann ich ihm da zürnen? Schreibe Trostmail.
Man bucht einen Coach, dann kann nur die Hälfte. So sind die Prioritäten.
Für Lesebühnen-Autoren ein freier Abend: Soll man zu Borat oder zu Bond, wird diskutiert.
Ich bastle am Silvesterplakat

Jochen trifft sie. "Ich bin danach die drittschnellste Zehn-Kilometer-Zeit meines Lebens gelaufen. Das brachte mich nach dem Zieleinlauf für ungefähr dreißig Sekunden auf andere Gedanken."

Selbständig lebensfähige Sentenz Jochen Schmidt: "Das Problem des modernen Menschen, die Vielfalt der Optionen. Und jede für sich ist unwiderstehlich!"
M.P.: "Wie man es am Vorabend seines vorzeitigen Todes macht, stellte ich bei mir die Liste der Vergnügungen auf, die mir dadurch vorenthalten wurden, daß Albertine einen Schlußpunkt hinter meine Freiheit setzte."… Weiterlesen

27.-28.11.06

Website-Analye November
Wochentag, an dem am häufigsten auf meine Seite zugegriffen wird: Sonntag
Stunden, in denen am häufigsten auf meine Seite zugegriffen wird: Zwischen 16-17 Uhr und zwischen 3-4 Uhr (!)
Nichtdeutschsprachiges Ausland mit den meisten Zugriffen: Griechenland
Suchbegriffe (ohne Artikel und Präpositionen): Richter, Dan, Berlin, Geschichten, Improtheater, Schmidt, Daniel(!), Mozart, Improvisation, Berliner
Am häufigsten aufgesuchte Seiten:
https://www.danrichter.de/
https://www.danrichter.de/cgi-bin/guestbook.php.cgi
https://www.danrichter.de/leckerbissen/labels/Schmidt-Proust.html
https://www.danrichter.de/leckerbissen.htm
https://www.danrichter.de/improblog/gedanken.html
https://www.danrichter.de/geschichten/straff.htm
https://www.danrichter.de/impro.htm
https://www.danrichter.de/geschichten.htm
https://www.danrichter.de/bilder.htm
https://www.danrichter.de/auftritte.htm
https://www.danrichter.de/unaktuell/listen/filme.htm

So, 26.11.06

Spielerei auf einer Website zum Verändern des eigenen Gesichts.

Ich als Afrikaner und Ost-Asiate

Ich als Teenager und Greis
 

Kein Eintrag zu Proust bei Jochen

*

Mo, 27.11.06

Mini-Show zu zweit vor Schülern der Leibniz-Schule, um Schüler in den Kurs von Steffi zu lotsen. Es funktioniert, wie es eben in einer Schule funktionieren kann. Man geht an die stimmliche und autoritäre Grenze. "Pssst" funktioniert bei Jugendlichen nicht.
Muss bei "Leibniz" immer umdenken, weil ich ihn mit Lessing in die Literatur-Ecke stelle (so wie einige andauernd Händel und Haydn verwechseln). Dann erinnere ich mich wieder Philosophie und Mathematik.
Schlage nach: Er hat parallel mit Newton die Infinitesimalrechnung erfunden. V.a. stammen die Zeichen des Integrals und die Schreibweise des Differentials von ihm. Kreiszahlberechnung: 1 – 1/3 + 1/5 – 1/7… = Pi/4 (Ich dachte nicht, dass sich Pi überhaupt durch eine derartige Gleichung darstellen ließe.) Leibniz entwickelte das Dualsystem. Eine Rechenmaschine, die multiplizieren, dividieren und Wurzel ziehen kann. Theodizee.
Arbeite wieder ein paar Stunden an der Website.
Am Nachmittag in die Sauna. Wieder die Plaudertaschen, die die diversen Sportsereignisse auswerten, vor allem Axel Schulz, aber auch Tischtennis, Handball, Fußball. Diesmal stört es mich weniger, aber ich muss einen geeigneteren Tag oder eine andere Zeit finden. Ich dachte immer, es sei ungeschriebenes Gesetz in der Sauna, leise zu sein, vor allem wenn Fremde anwesend sind. Aber weshalb sollten sich die Grobiane nach mir richten? Sie sind schließlich in der Mehrheit!
Probe zu viert. Die Grundlagen des Probens in einer demokratischen Gruppe müssen noch mal besprochen werden.

J.S.: "Gestern war ich aber aus seelischen Gründen nach einem halben Jahr wieder einmal in der Sauna und habe dort Proust gelesen, was eine ideale Sauna-Lektüre ist, die es einem erspart, ständig in der Auto-Bild blättern zu müssen, um sich von den "Stellen" abzulenken, wie bei Houellebecqs "Plattform". Das künstliche Vogelgezwitscher im Saunaraum, die nun schon im dritten Jahr laufende "O, Champs-Elysées…"-CD im Ruhebereich."
Amüsant, die Sauna-Koinzidenz. Aber CDs im Ruhebereich sind ja wohl das Schlimmste. Das hat nicht mal die Sauna in der Libauer drauf.

Aufgeschobene Arbeit bei Marcel. Das kann nur die Recherche sein. Aber selbst nach dem überstandenen Duell gönnt man sich eine Pause.
M.P./J.S.: "Daher hat man auch in der Liebe nicht wie im gewöhnlichen Leben nur die Zukunft zu fürchten, sondern sogar die Vergangenheit, die oft erst nach der Zukunft Gestalt annimmt, und wir denken dabei nicht nur an eine Vergangenheit, von der wir erst nachträglich etwas erfahren, sondern an diejenige, die wir schon lange in uns getragen haben, in der wir aber mit einem Male erst zu lesen lernen." Ja, die gemeinsame Vergangenheit plötzlich zu verstehen, ist eine quälende Angelegenheit. Erst recht, wenn man die Tendenz hat, alles immer gegen sich auszulegen. Dann braucht man nicht einmal nur zu beobachten, daß sie jemand anderem Blicke zuwirft, es reicht schon, zu beobachten, daß sie es nicht tut. Denn daraus schließt man, wie angestrengt sie sich zu verbergen bemüht, was in ihr vorgeht."
Das nun geht schon bald über Eifersucht hinaus, in den Eifersuchtswahn, eine Form der Paranoia, bei der jede Äußerung, jedes Abstreiten, letztlich alles als Beleg für die vermeintliche Untreue genommen wird, und die psychodynamisch gedeutet werden kann als projizierter Wunsch, selber untreu zu sein.

*

Mo, 27.11.06 (der zweite Eintrag!)

Jochen in der Apotheke: "Wie schlimm es denn sei, fragte sie und vermied das böse Wort Depression. "Das ist es gar nicht", sagte ich lächelnd, wie ein Alkoholiker, der noch nicht zu seiner Krankheit steht. Aber wofür dann das Johanniskraut? "Ja, ich weiß auch nicht, eigentlich kam der Tip von meiner Mutter." "Die kleinere Dosierung reicht eigentlich bei normalen Herbstdepressionen." "Die hab ich ja gar nicht, das soll gegen Liebeskummer sein."
Laut einer nicht mehr ganz so neuen Studie verdanken Mittel gegen Depression ihre Wirkung dem Placebo-Effekt, weshalb sie auch dringend empfohlen werden.

M.P.: "Eine Frau aber, die uns während einer gewissen Zeit gesagt hat, wir seien alles für sie, ohne daß sie dabei auch alles für uns gewesen wäre, eine Frau, die wir mit Vergnügen sehen, küssen, auf unseren Knien halten, versetzt uns in größtes Erstaunen, wenn wir auch nur an einem plötzlichen Widerstand spüren, daß wir nicht ganz und gar über sie verfügen." Wieder Haben, Haben, Haben. Es kann doch nicht sein, dass man Fromm gegen Proust ins Feld führen muss!
Jochen über die Vorteile kompetenter Telefonfräuleins, "das darüber entscheidet, was es kostet und ob man es [das Gespräch] fortsetzen darf." Allerdings will er sowohl Rabatte für banale Gespräche als auch Subventionen für Gespräche, die von allgemeinem Interesse sind. Fragt sich nur: Wer soll zahlen?

Di, 28.11.06

Arbeite immer lustloser bei amnesty international. Dass es wichtig ist, vergisst man manchmal, wenn wir uns in verwaltungsmäßigem und organisatorischem Hin und Her verlieren.

Ursache der Krise sei der Serotonin-Spiegel. Ob man eine Tablette gegen diese Zustände nehmen würde. "Vielleicht gleich auch gegen alle anderen unangenehmen Gefühle, wie Neid, Angst, Ungeduld, Gier? Als Mensch, der vollständig davon befreit wäre, müßte man auf die anderen wie ein Roboter  wirken."
Oder gerade nicht! Wenn wir uns diejenigen anschauen, die diese Zustände am wenigsten im Griff haben – bockige Vierjährige und durchdrehende Pubertierende – so weiß man schon, dass sie ein Problem damit haben, ihre Impulse zu kontrollieren. Es ginge ja nicht darum, die Impulse zu verdrängen oder zu verleugnen, sondern nicht zum Opfer dieser Impulse zu werden. Welche Gefühlszustände kann ich erreichen, wenn ich beispielsweise meinen Gier-Impuls beobachte und mit ihm spiele, ihn umwandle, statt ihm wie ein Kleinkind blind nachzugeben? Es müssen ja auch nicht Tabletten sein – da gibt es ganz andere Möglichkeiten. Aber als Europäer fühlt man sich vom Mediziner erst ernstgenommen, wenn man was zum Schlucken bekommt. Zugegeben – die Eifersucht ist eine schwere Krankheit, aber gerade sie ist nur zu überwinden, wenn wir ihr nicht nachgeben, wenn wir die klaren Momente der Einsicht nutzen, um uns zu verdeutlichen: Sie ist das Gegenteil von Liebe.

21.-25.11.06

Was machen die Blechblas-Ensembles eigentlich, wenn gerade keine Adventszeit ist. Die Ärmsten müssen immer mit kalten Fingern spielen. Wie vielen Hornisten ist dabei schon das Mundstück an den Lippen gefroren? Wievielen Posaunisten hing am Ende  ein Eiszapfen aus der Tröte? Warum nicht Xylophon und Harfe? Auf jeden Fall irgendwas ohne Spucke und Metall.

DIE GEFANGENE

Di, 21.11.06

Robert wieder der mäßigende Part bei den hitzigen Diskussionen der Chaussee.
Adress-Ummeldungen bei VG-Wort, Voland & Quist, KSK, Krankenkasse, Alte Kantine, Presse-Versicherung, amnesty international, BfA, taz.
Kostenpflichtiger Nachsende-Auftrag bei der Post für 12 Monate.
Es stehen noch aus: Bank, RAW, Ebay, Amazon, Einwohnermeldeamt, Gas, Strom, Reiseversicherung, strato, Allianz, Rolling Stone, Gehirn & Geist.
Frage ca. 50 Kollegen, Freunde und Bekannte an, die mir beim Umzug helfen sollen. Im Gegensatz zu meinem Vater glaube ich nämlich nicht, dass das von drei Männern in zwei Stunden zu erledigen sei. Seit ich im Sommer 1996 mal sieben Stunden einem Bekannten beim Umzug geholfen habe, investiere ich lieber in viel Kartoffelsalat, Würstchen, Bier und Wasser und lebe dann damit, dass sich ein paar Leute unterfordert fühlen.
L. wieder in Beirut: "irgendwie vertragen sich die Chaoten vielleicht doch. Aber nun hat es schon wieder geknallt, und ich bin eher skeptisch, dass es ruhig bleibt". [Nachtrag 2008: Blieb es natürlich nicht.]
Notiere eine maliziöse Idee für einen Spaßanruf, den ich nie machen werde. Wohin damit? Sowas kann man dann immer nur literarisch aufnehmen. Oder in Komödien, wo man die unsympathischen Fieslinge die blöden Witze reißen lässt.

M.P.:"Ihr etwas unbequemer Charme bestand darin, im Hause nicht eigentlich wie ein junges Mädchen, sondern eher wie ein Haustier anwesend zu sein, das in ein Zimmer eintritt und es wieder verläßt, sich überall befindet, wo es nicht erwartet wird…" Ob Marcel schon mal an Kommunikation gedacht hat, um die Erwartungserwartungen zu klären?

Mi, 22.11.06

Ist es das permanente Geräusch des Presslufthammers von gegenüber oder sind tatsächlich alle gegen mich?
Aufnahme bei "Comedy Central" [zu dem Zeitpunkt nur online]. Falscher Text, falscher Ort, falsches Timing. Auf dem Boot, man kann sich nicht bewegen. Die Kamerafrau guckt die ganze Zeit irritiert, weil sie mit dem Text nichts anfangen kann.
Bö-Auftritt. Wir spielen Games und das ziemlich gut. Man hält die persönlichen Befindlichkeiten zurück.

J.S.: "Seneca hat gut reden mit seiner despicientia rerum externarum."
Unklares Inventar: "despicientia rerum externarum", möchte ich hinzufügen. Immerhin beschränkt sich Jochen. Ich fand es immer seltsam, wenn Fremdsprachliches wie selbstverständlich nicht übersetzt wurde. Luhmann zitierte im Original lange Passagen auf Englisch, Italienisch, Latein, Griechisch, Französisch, Spanisch, ohne je eine Übersetzung beizufügen. Welche Schnittmenge des Verstehens erwartet man vom Leser? Welche Zumutungen sind vertretbar?

M.P.: "Dafür, daß ich es abgelehnt hatte, mit meinen Sinnen diesen Vormittag in mich aufzunehmen, genoß ich in der Einbildung alle gleichen vergangenen oder auch nur möglichen Vormittage…"
Verweigerung der Welt oder Training des Geistes? So auch hier:
J.S./M.P.: "Nicht nur der Freuden der Einsamkeit sähe er sich beraubt, sondern auch des Zuwachses an Freude, der einem durch den Anblick von Frauen zuteil wird, die man sich "unmöglich a priori hätte vorstellen können." Es reicht ein Blick aus dem Fenster, denn da sind eine Wäscherin, eine Bäckersfrau, ein Milchmädchen und "irgendein hochgemutes blondes junges Mädchen in Begleitung der Erzieherin." Ihnen allen folgt Marcels Blick, und er leidet darunter, daß er seinen Körper nicht wie aus einer Arkebuse geschossen hinterherschleudern kann."
Unklares Inventar, bis ich es bei Wiki gefunden habe: Arkebuse

Do, 23.11.06

Nach vielen Jahren wieder Mailkontakt mit M., die jetzt auch in pädagogischen und kulturellen Projekten arbeitet. Trifft man sich also übers Business wieder.

Textidee für die Chaussee, die ich schon nach wenigen Zeilen abbreche:

Fast zwangsläufig kamen wir auf Hubert zu sprechen. Hubert, dem sie den Arm abgenommen hatten. Hubert, der sich so gut mit Singvögeln auskannte.
Ich spielte mit dem letzten Kartoffelrestchen in der Hirschbratensoße und fragte mich, ob es auffallen würde, wenn ich es nicht äße und wenn ja, ob man mir das dann als Mäkligkeit auslegen könnte. An dem Kartoffelstückchen hing eine "Stelle", eine schwarze, die Elke, die Gastgeberin, übersehen haben musste. Aber soll ich der Gastgeberin zuliebe schwarze Kartoffelstellen essen. Wem von uns beiden würde es hinterher schlechter gehen: Mir, wenn ich mit dem Bewusstsein, etwas Angegammeltes im Bauch zu haben ins Bett ginge oder ihr, wenn sie sich noch eine Woche später die Vorwürfe von Dietmar anhören müsste, dass sie mit ihrer schlampigen Kocherei wieder mal den ganzen Abend verdorben habe?
"Hat sich das denn mit seinem Stottern gegeben?", fragte Elke, und stand auf: "Wollt ihr noch ein bisschen Aprikoseneis?"
"Ja."
"Nein."
Gerd schüttelte den Kopf.
Elke huschte in die Küche, und ich rätselte, ob die beiden verneinenden Antworten sich auf Huberts Stottern oder auf das Eis bezogen.

Endlich tritt Nina bei der Chaussee auf. Großartig, auch wenn sie angeblich in der Choreographie beim 3. Teil rausgekommen sind. Hat ja keiner gemerkt.

 

 

Jochen über Kinderbücher, die man in Bibliotheken immer wieder verlängert und von denen man eine verzerrte Erinnerung beibehält: "Auch das in der Erinnerung hell leuchtende "Wie Putzi einen Pokal gewann", erwies sich bei der Revision als leistungsverherrlichend und faschistoid."
Ich habe immer das von meiner Mutter abgelehnte "Apfelsinenmännchen" in schöner Erinnerung gehabt, wie ein psychedelisches Abenteuer für Kinder. Als ich es dann vor wenigen Jahren bei Ebay ergatterte, verstand ich meine Mutter besser als den kleinen Dan.
Meine früheste "literarische" Erinnerung ist übrigens die Geschichte vom Esel Schnabelschnut – einer Fortsetzungsgeschichte im Bummi, als ich anderthalb Jahre alt war. Sie handelte von einem Esel, an dem alles hängenblieb, was er beleckte. In der letzten Folge klebten dann diverse Spielzeuge an ihm. Vermutlich war die Geschichte pädagogisch gemeint: Man solle nicht alles in den Mund stecken, aber mir war Schnabelschnut nicht unsympathisch. Vielleicht aber war es auch das Kinderbuch Annegret, bei dem ich mich nur an den letzten Vers erinnern kann:

Ich, das Schwein, komme zum Schluss,
weil ich als Schwein allein bleiben muss.

Das Buch wurde mir von einem anderen Kind gestohlen.

J.S.: "Kann man sich ein Zusammenleben mit einer Frau vorstellen, die ein nervöses Unbehagen erfaßt, wenn man sich einmal behaglich streckt? Da ich das bereits ausprobiert habe, kann ich sagen: nein."
Was hat er ausprobiert? Sich ein Zusammenleben mit einer derartigen Frau vorzustellen? Ein Blick ins Originalblog klärt auf. Dort schreibt Jochen: "Da ich das bereits erlebt habe, kann ich sagen: nein."
Es ist erstaunlich, wie sehr man es den Erfahrungen gestattet, einen in der Partnerwahl einzuschränken. Ab welchem Punkt gerinnt Menschenkenntnis zum Vorurteil?

Fr, 24.11.06

Doch keine eingebaute Heizung im RAW. Der Bezirksschornsteinfeger, von dessen Existenz man auf diese Weise endlich erfährt, ist dagegen. Gibt es so eine Berufsbezeichnung auch in anderen Ländern?
Ausführungen von Andreas zu George Spencer Brown, die ich immer nur für wenige Sekunden nachvollziehen kann. Dann verschwindet der Gedanke. Luhmann hat ja auch immer nur auf die ersten sechs Seiten verwiesen. Ich würde wetten, den Rest hat er überblättert. Triff eine Unterscheidung. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Das heißt, ohne Unterscheidung können wir gar nicht anfangen. Oder umgekehrt: Wenn alles Eins ist, erübrigen sich alle Fragen (s. Gott, Nirwana, Erleuchtung usw.). Beobachten ist Unterscheiden. Das eigene Beobachten ist beim Beobachten der Blinde Fleck. Ein Beobachten zweiter Ordnung ist das Beobachten des Beobachtens, welches wieder beobachtet werden kann.
Liste, wieviel Zeit ich in den letzten Wochen mit nichtliterarischen Aktivitäten allein für die Chaussee aufwende. Komme auf vier Stunden pro Woche.

Unklar: Der am Sonntag gepostete Blog ist im Buch der Freitags-Eintrag.
J.S.: "Gibt es eine Welt, in der Proust nicht Recht behält? Ist irgendein Leser hier, der mit seinem Partner glücklich ist und bestätigen kann, daß es so etwas wie reziproke Gefühle gibt?"
Das vielleicht nicht, aber vielleicht, dass es auf Reziprozität nicht ankommt, sondern dass zur Liebe Großzügigkeit gehört.

J.S./M.P.: "Endlich sagt sie auch die Worte, die jeder Mann gerne hört: "Ich bin ganz entsetzt bei dem Gedanken, wie dumm ich ohne dich geblieben wäre."" Klingt wie ein Zitat aus Men’s Health.

Sa, 25.11.06

Zweiseitiger versöhnlicher und gleichzeitig appellativer Brief an die Chaussee, den ich dann doch nicht abschicke.
Überraschung bei Ebay: Eine Negativbewertung aus Frankreich. Er beklagt den Zustand des Booklets und die Versandkosten. Ich hatte die Frechheit besessen, diese Dinge nicht auf französisch zu beschreiben, sondern nur auf Englisch und Deutsch. Diskussion mit ihm nicht möglich. Wenn es wirklich mein Fehler gewesen wäre, hätte ich es noch wegstecken können, aber diese Art der Ignoranz unglaublich. [Nachtrag 2008: Heute erinnere ich mich mit einem Lächeln an diesen Ärger, der wohl nur mit meiner Eitelkeit zu tun hatte, dass ich nun nicht mehr mit glänzenden "100 % positive Bewertungen" aufwarten kann.]

Hi David!
Today I received your feedback. And I have to say that I just don’t
understand why you gave me a negative feedback.
1) I think, one of the Ebay rules is: If there is a problem within the
transaction, one should contact the partner. Why didn’t you do that?
2) About the booklet: In the description I wrote that the booklet is in a
very bad condition. This auction was located in Germany, so I had to
describe the item in German, of course.
3) I never ever charge more shipping costs than it really costs as you can
see on the stamps – this is really what I paid.
Dan Richter

Hello Dan,
It’s wright I don’t understand german but you’ll certaintly not accept that I return this cd and you’ll give me my money, moreover I’ll had lost my monney with shiping one more time. Also, when I buy one cd in Australia for example, I pay less than I buy your cd… It’s seems there is a small problem or germany is really really expansive ! I’m not happy with our purchace and the feedback service use to be honnest. It’s the second time with german ebayer… I stopped to buy in your country ! what a pity ! regards
David.

Hello!
1) Do you think honestly that I’m accountable for the shipping price in Germany? I wrote it in the description: If you want the item to be shipped abroad you have to look at www.post.de.
2) If you don’t understand the correct description including the damages of the item, why should I get a negative feedback? What should I have done in your opinion?
Regards
Dan

i paid, the topic is completly different that the real estate of the product! that’s all! i’m not happy and i lost money… now goodbye

Die Liege wird abgeholt. Wie oft hat sie mir als Zuflucht gedient, wenn ich nicht weiterwusste, wenn ich von Kopfschmerzattacken geplagt war, wenn ich phantasierte, als ich Gitarre lernte.
M., die, nachdem sie mal einen Text von mir gehört hatte, mich für zu "unlustig" für ihre Show hielt, bittet mich nun, ihr neues Buch in der Kantine vorstellen zu dürfen. Aber ich bin ja nett und nicht nachtragend.
Jochens Durchhaltevermögen weckt in mir den Ehrgeiz. Idee für Lektüre-Blog: Tausendundeine Nacht, die seltsame Sammlung von orientalischen und pseudo-orientalischen Erzählungen, die mich als Jugendlicher fasziniert hat. 1997 hatte ich anderthalb Bände geschafft, Ich rechne aus, wenn ich das Schmidtsche Pensum bewältigte, bräuchte ich 240 Tage. Und wenn ich es ein bisschen langsamer angehe, ein Jahr. [Nachtrag 2008: Wie man sieht, bin ich nach knapp zwei Jahren nicht einmal mit dem zweiten Band fertig. Den Langeweile-Faktor habe ich sehr unterschätzt. Bei Proust kann man den ewigen Beschreibungen von Gesichtszügen, Mobiliar, Blüten, Kleidung usw. einen ästhetischen Genuss abringen. In Tausendundeine Nacht muss man sich durch viel Teig durcharbeiten, bis man auf die Rosinen stößt.] Ich  könnte mein Persisch auffrischen [Nachtrag 2008: Das hab ich genau einmal getan, aber immerhin seitdem die persische Tastatur installiert, und ich werde zwischendurch immer wieder gefragt, ob ich von links nach rechts oder von rechts nach links schreiben will, und ich muss jedes Mal überlegen.]
Der Umzug rückt nun immer näher. Und je nachdem wie es mir geht, sehe ich ihm mit Freude oder Angst entgegen.
Ich sehe, dass ich in diesem Dezember 2006 keinen Rückblick-Urlaub haben können werde wie ich es sonst mache. Der Umzug lässt dafür keine Zeit. So oder so – die größte künstlerische Beeinflussung dieses Jahr dürfte Nina Wehnert gewesen sein – inhaltlich, pädagogisch, türenöffnend.
Psycho. Tatsächlich braucht er fast 40 Minuten, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers abzulenken, einzig und allein, damit der Schock später umso größer ist. Ein Film, der sich gewissermaßen um eine einzige Szene dreht.
Meine Eltern beim Kantinenlesen. Nur langsam lege ich die Anfälle von Hemmung hinter mir, die ich habe, wenn sie im Publikum sind. Aber wenn, dann ohnehin nur, vor der Show, nie währenddessen.
Sarah, Micha, Stephan, Kirsten. Keiner kommt mit in den Schusterjungen. Will erst Herrn Michaelis absagen, der uns dort immer einen Tisch freihält, bin dann aber gebannt vom Kampf Schulz/Milton. Jochen kommt noch. Er berichtet von seinem Kummer mit J., unter deren Willkür er leidet. Ich berichte ihm mein Leid über die Kommunikation bei der Chaussee. Er meint, das sei doch alles nicht so schlimm. Man tausche sich aus, die Affekte kühlen auch ab. Während wir uns ausheulen, wird im Hintergrund Schulz verdroschen. Später vom Publikum auch noch ausgebuht. Tatsächlich wirkt er eher wie ein Sumo-Ringer, der seinen hoppelnden Gegner immer wieder wegschiebt. Um 1 Uhr mit dem Taxi nach Hause. Surfen bei Youtube. Der Schulz-Kampf steht noch nicht drin, aber dafür ältere Kämpfe. Auch gegen Klitschko sah er nicht gut aus. Und selbst den gewonnenen fehlte eine gewisse Eleganz, die Klitschko hat. Muhammad Ali gegen Patterson. Unglaublich. Man kann nicht glauben, dass es ein echter Kampf ist, dieses Rumgehopse von Ali. Es erinnert schon fast an Chaplins Witz in City Lights. Hält den Gegner locker auf Distanz, provoziert ihn, indem er ohne Deckung kämpft. Traurig dann der Kampf gegen Larry Holmes. Er brüllt noch rum, aber schon in der ersten Runde sieht er keinen Stich mehr. Es ist auch kein kräftiges Aushalten mehr wie in Zaire, sondern ein benommenes Torkeln. Holmes hat Hemmungen, ihn auszuknocken, weil man das mit einem King nicht tut (wer weiß, was da hinter den Kulissen wieder gemauschelt wurde).

Kein Blog-Eintrag bei Jochen.… Weiterlesen

18.-20.11.2006

Sa, 18.11.06

Auch H. will Agent für die Chaussee spielen, und ich habe inzwischen nichts dagegen, wenn mehrere gleichzeitig ihre Fühler ausstrecken. [Nachtrag 2008: H. wird nichts unternehmen.]
Fast den ganzen Tag bin ich mit der Organisation der Silvesterfeier beschäftigt. Studieren der beiden Verträge, Telefonate mit R., Nachbessern der Verträge, Kalkulationen.
C. hat die Impro-Pause genutzt und schlägt eine neue Langform vor. Ich bin überrascht.
Diskussion im Schusterjungen mit Volker, Kathrin, Heiko: Kann man trainieren, sich Gesichter zu merken? Die Höhe des allgemeinen Alkoholpegels ist wie immer umgekehrt proportional zum Niveau des Gesprächs.

Keine Proust-Lektüre von Jochen

*

So, 19.11.06

Impro-Marathon: 15.30 – 21.30 Uhr erst mit den Wrestlern, dann mit meiner Impro-Gruppe. Erstaunlich manchmal die Talente, und zwar in beiden Gruppen. Dann wieder völlig überraschend, wenn das Gespür für dramaturgische oder spielerische Momente fehlt, und zwar besonders dann, wenn man selbst nie damit Probleme hatte.
Lasse den Abend noch mal im Kültürzeit ausklingen. Habe das Gefühl, dass das Essen schlechter geworden ist. Dass sie die Musik immer wieder laut stellen, ist kein gutes Zeichen. Als wollten sie mit lauter Musik von der mangelnden Qualität des Essens ablenken.
Später noch die erste Hälfte von Eyes Wide Shut. Bis dahin sehr merkwürdige Adaption von Schnitzlers Traumnovelle. Seltsames Spiel mit Farben und Raum. Die Charaktere glaubwürdig, im Gegensatz zum Buch. Die Eifersucht schön gezeigt und die sexuelle Besessenheit. Man will über die Stränge schlagen, aber dennoch nichts aufgeben. Die Brutalität des kaum verkniffenen Lachens bei Kidman, oh das kenne ich auch von Frauen, die mich verließen.

Jochen trägt seine Aufzeichnungen vom 20.11. zusammen. Unklar, warum sich Buch und Blog beim Datum wieder widersprechen.
2002: Im Fernsehen ein Toilettenmann von Hagenbeck in Hamburg. Er trinkt ein Glas Wasser aus seiner Kloschüssel, um zu beweisen, wie sauber es bei ihm ist.
Erinnert an den Chef jener Firma, die damals eine Zugladung Milchpulver durch die BRD hin und her gondeln ließ. Dieser Chef entblödete sich nicht, einen großen Haps Milchpulver vor laufenden Kameras zu schlucken, um dessen Ungefährlichkeit zu beweisen. Die Ironie – gerade die Unnatürlichkeit dieses Vorführ-Effekts wirkte abschreckend. Ich würde schon von einem halben Teelöffel unverstrahltem Milchpulver drei Tage Durchfall bekommen.

J.S.: "Albertine kennt nicht nur die Tochter Vinteuils, sondern hat auch mit deren Freundin eine Seereise unternommen und wird sie wiedersehen. Jetzt wird dem Leser endlich klar, warum wir im ersten Buch Zeuge der lesbischen Fensterszene in Vinteuils Haus geworden sind, denn diese Enthüllung dürfte seiner Eifersucht einen Schlag versetzen, ist er doch sowieso schon davon überzeugt, daß Albertines Neigungen in Gomorra siedeln, und dort sind ihm als Mann bekanntlich die Hände gebunden."
Gomorra? Wofür steht denn Gomorra? Vor allem auf Sodom beziehen sich Neues und Altes Testament sowie spätere Referenzen – Bruch der Gastfreundschaft und Homosexualität.

*

Mo, 20.11.06

Diskussion, ob wir bei der Brillenschlangenparty ungewöhnliche Orte ausprobieren wollen. Wir diskutieren anscheinend wieder zu prinzipiell statt konkret.
M. wird, nachdem er eine Bühnenpause eingelegt hat, auch wieder juckig, denn immerhin macht er Technik für uns und bleibt dadurch mit uns verbunden. Ein wenig scheint er unter post-examinalem Stress zu leiden.
Treffen zur Gründung eines Impro-Verbands, der die Interessen deutscher Impro-Theatergruppen vertreten soll. Aber wer entscheidet über Qualitätskriterien? Soll beraten werden? Soll es eher ein Dachverband ^^^^^^ oder eine Plattform ______ werden?

*

J.S.: "Der Brief kam vom SOS-Kinderdörfer-Fonds aus München: ‘Sehr geehrter Herr Schmidt, Weihnachten ist die Zeit, in der kein Mensch gerne alleine ist.’ Und da mußte ich irgendwie lachen, weil sie mich so nett an mein Unglück erinnerten."
Schrieb er nicht vorher, dass ihn seine Eltern besuchen wollten?

J.S./M.P.: "Marcel hatte ja damals in Montjouvain durchs Fenster die leicht sadomasochistische Szene zwischen Vinteuils Tochter und ihrer Freundin beobachtet und in seinem Innern eingelagert. Als Albertine nun beiläufig erwähnt, daß sie mit ebendieser Freundin befreundet war, erscheint das Bild wieder ‘…zu meiner Marter, zu meiner Züchtigung, wer weiß?’"
Was quält ihn eigentlich genau? Die Vorstellung, Albertine sei eventuell lesbisch? Oder die Ahnung, er könne selbst s/m-veranlagt sein?

17.11.06

Das erste abgearbeitete Geburtstagsgeschenk ist, neben zwei Tafeln Schokolade, die Serie "the office", von der ich jetzt fast täglich eine Folge gesehen habe. Und ich weiß immer noch nicht, was ich davon zu halten habe. Eine brillante Idee schön umgesetzt, gute Schauspieler, denen sicherlich eine Menge Freiheit in der Umsetzung gegeben wurde. Selbst die ekelhaften Charaktere sind intelligent, was gerade der Punkt ist, weshalb sie so gruselig sind. Und dennoch – es zieht mich runter. Ich bin hinterher jedesmal deprimiert. In der letzten Folge der zweiten Staffel kann man zwar wirklich Mitleid bekommen mit David und dem Pärchen, das sich nie kriegen wird. Aber es bleibt immer ein schaler Geschmack zurück. Vielleicht kann man ja so etwas nur gucken, wenn es einem gerade blendend geht oder wenn man selber jegliche Hoffnung verloren hat. Die richtige Serie zur falschen Zeit.

Fr, 17.11.06

Euphorisches Feedback einer Agentin, die de Chaussee vermitteln will. [Nachtrag 2008: Auch dieser Ansatz versickert.]
Die erste Staffel des Umzugs in die Wohnung meiner Schwester beginnt heute schon. Meine Eltern nehmen fünf Kisten von mir mit.
Gespräch mit R., der berichtet, sich mit seiner Ex von vor 5 Jahren seit langem mal wieder getroffen zu haben. Alles harmlos, aber als ihm beim Umarmen ihr Geruch in seine Nase stieg, musste er sich schon zusammenreißen, um nicht zu weinen. Diesen Hunger habe er nie wieder gespürt. Versuche, ihn zu trösten. Alles habe eben seine Zeit, und mit seiner jetzigen Flamme sei er doch glücklich. Ja eben, meint R., das sei es ja gerade, deshalb habe ihn dieses Erlebnis so verschreckt.
Surfen bei Youtube, und dann finde ich endlich eine schöne uralte Aufnahme der Stones. Ihr I’m Alright ist fast Punk. Die drei Silben brüllen sie raus, immer und immer wieder, dazu ein bisschen improvisiert, aber sie verstecken ihre Sexualität nicht. Ihr Schreien ist keine Gebärde der Hässlichkeit, sondern es sind Brunftschreie. Ich schicke es an C., von dem ich 1986 erfahren habe, worum es bei den Stones wirklich ging.
Der Internetbursche, der unsere Texte verwerten will, dem ich aus Höflichkeit geantwortet hatte, listet sieben Vorteile auf, die "die Brauseboys" hätten, wenn wir unsere Texte ins Netz stellen. Ich lächle entspannt.
Leicht verspätete Geburtstagsgrüße aus Beirut. Wie ich mich freue!
Abends Tanzworkshop. Entspannung zu Beginn. Ich schlafe fast ein. Dann aber wieder gut neue Impulse.
Abends Dunkeltheater. Ein zum großen Teil angeheitertes Publikum. Aikido-Ansatz. Deren Energie in die eigene umwandeln und dann etwas Gutes draus machen.

Keine Proust-Lektüre bei Jochen

*

 

14.11.-16.11.2006

Im Hausflur ein Doppeljahrgang 2005/2006er Men’s Health zum Mitnehmen. Greife mir ein Heft heraus. Es ist schwer, dieses Heft zu fassen zu bekommen. Es ist ja nicht völlig doof. Doof vielleicht auf eine spezielle Männer-Art. Listen, Listen, Listen. Bildung, Konsum, Gesundheit – alles dient dem Protzen. Und so wie bei healthy living immer eine sanft lächelnde 30jährige im leichten Farben uns anlächelt, protzt bei Men’s Health anscheinend immer derselbe Waschbrettbauch vom Cover. Gibt es Männer, die sich davon kirre machen lassen, so wie Diät-Fanatikerinnen?
Der Idealtyp der Men’s Health ist ein sportiver Frauenversteher, der ein paar dufte Gerichte zusammenzaubern kann, der teure Uhren trägt, einen lockeren eleganten T-Shirt-und-Anzug-Stil bevorzugt, der seine Freundin liebt, aber am laufenden Band Weiber aufreißt, der im Prinzip gesund lebt, aber eine gute Zigarre zu schätzen weiß, der mit seinen Kumpels in angesagten Kneipen Fußball guckt, allein in den Ki- oder Surf-Urlaub fährt und weiß, was PMS ist und wer Dostojewski war.
Der wahre Leser des Heftes schlägt sich wahrscheinlich seit Jahren mit einem Bauchansatz herum, kompensiert Liebe mit Geldgeschenken, ist regelmäßiger Kunde des nahegelegenen Bordells, hat einen uneingelösten Gutschein fürs Fitness-Studio, fliegt im Sommer in die Dominikanische Republik, fährt einen Wagen zwischen Opel und BMW und glaubt, Stil habe etwas mit Geldausgeben zu tun.
Artikel, die mich interessieren:
– "In vierzehn Tagen zur Strandfigur" – Ich kann mir nicht helfen, für solche Instant-Lösungen bin ich auch immer zu haben.
– Fitness auf dem Kinderspielplatz – Preise für Fitness-Studios finde ich meist zu teuer, und die Betreuer liegen mir nicht.
– Retten Sie Ihren Urlaub! Tödliche Gefahren, die von Bibern, Seeanemonen und Würfelquallen drohen.
– Sex – was Frauen uns verschweigen.
– Was man über Hunde unbedingt wissen muss (Aber das auch nur, weil ich gerade dabei bin, meine Kynophobie zu überwinden
Artikel, die ich nur auf einer einsamen Insel lesen würde, wenn es denn keine andere Lektüre in den 30 Jahren meines Aufenthaltes dort gäbe:
– Stärker als Jan Ulrich
– Das macht Sie zum Grillgott
– Die besten Anmachtipps – Die 5 leckersten Dressings
– Genug geschwitzt – Die effektivsten Strategien gegen nasse Achseln, feuchte Hände und Schweißfüße
– Das wird ihr Flirt-Sommer – Was Frauen wirklich von Ihnen wünschen
– So bekommen Sie Ihre Versagensängste im Job in den Griff
– Hier finden Sie die schönsten Buchten
– Nicht schon wieder ans Meer! Ein Biwak an der Eigernordwand
– Mode-News
– Geschickte Outfits
– Frischer Wind für Ihre Garderobe
– Digitalkameras für die Weltmeisterschaft
– Der Soundtrack für die heißen Tage
– "Ich kann keinen Fußball mehr sehen"
– Unser Fußball-Special zur WM

**

Di, 14.11.06

Eine Mail von Steffis amerikanischer Freundin:
> Ich geniesse noch mein Chausse-der-Entusiastin CD. Ich arbeite jetyt  bei einer Firme wo ich Forschung auf deutsch mache. Ich habe das CD zu meinem Chef geliehnt. Er dachte es war totally cool.
Meine Klagen über die Weddinger Comedy-Show beantwortet Jochen mit dem Hinweis auf "die beiden ibsen-sachen an der schaubühne"
Honeckers FDJ-Ausweis wird bei Ebay angeboten.
Ersteigere einen guten Rasierpinsel für 2,20 Euro.

Die Übersetzung des Seneca-Textes hält Jochen vom Bloggen ab. Der entscheidende, schwierige Satz:
"Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar te quaerit."
Wie würde man an diesen Satz herangehen, wenn man, wie ich, kein Latein kann? Ich versuche es. Zunächst, Wort für Wort, das eine oder andere hat man schon mal irgendwo gehört.
– Caeasaris – Kaiser – plural?? dekliniert?
– Prima – erste/r/s
– tempora – zeit(lich)
– loquitur – ?? Vielleicht irgendwas mit "Ort", von wegen "Lokus" itur kennt man von Abitur. Etwas erreichen? Den Lokus erreichen?
– nec – ?? Völlig unklar. Erinnert mich an "Hic" und das "N" verneint etwas. Vielleicht "Hier nicht"? Unwahrscheinlich.
– quod – Bekannt aus "Quod erat demonstrandum" ("Was zu beweisen war"), also "Was"
– te – ?? Vielleicht "dich" wie im Spanischen
– imitari – imitieren. Das "i" als Suffix könnte, so wie im Persischen und im Russischen auf die 2. Person Singular hinweisen.
– velit – "drehen". Bekannt aus dem ersten Lied von Carmina Burana. "Oh fortuna, velet luna"
– exemplar – Beispiel
– te – s.o.
– quaerit – ?? Auch völlig unklar. Wenn ich das Wort hin und her kaue, denke ich an "Aqua" und "equal". Vielleicht irgendwas mit glatt.
So. Was kommt dabei durch reine Aneinanderreihung heraus?
Kaiser erste zeitlich Ort erreichend, was du imitierst drehen, Beispiel dich glatt.
Daraus baue ich den Satz:
Egal, wie du dich auch auf den Kopf stellst um sie zu imitieren, die Kaiser sind doch immer schon vor Ort und plätten dich.
Klingt sinnvoll. Ich google und muss feststellen, das Jochen das Wort "extra" vergessen und der Satz den Zusatz "principatus tuus ad gustatum exigitur" hat. Die Übersetzung lautet:
Niemand sucht das Vorbild, das er dich nachahmen sehen möchte, außerhalb deiner: deine Regierung als Princeps wird nach dem Vorbild der eben gekosteten gefordert.
Ah ja, Macchiavellische Tipps statt "Hase und Igel". Aber ich hab’s wenigstens versucht.

Charlus weiß nicht (oder gibt vor, nicht zu wissen), was die anderen über seine Invertierung wissen. Man spottet über ihn und (M.P.:) "derjenige, welcher liebt, gezwungen ist, immer von neuem einen Versuch zu machen und sein Gebot dauernd zu erhöhen.

*

Mi, 15.11.06

Jochen sendet uns Show-Inspirationen in Form der Diskussionen bei der BL-Show.
Anfrage von Comedy-Central. Ich sage zu. Erst mal nur per Internet.
A.G.: "gestern verstrich der Stichtag zwecks Abgabe der Urlaubsgeschichte." Hatte mich nicht überwinden können, über meine erste Russlandreise im November 1989(!) zu schreiben, meine einzige Pauschalreise.
Wieder unschöne Show und unschöne Stimmung bei BÖ. Was nur zieht uns hier runter. Der Geschmack geht zu weit auseinander, die Publikumszahlen sind nicht befriedigend, es gibt nicht genügend Geld, was als Kitt dienen könnte.

Jochen im Internetcafé in Berlin. Wieso das? Im Buch sind wir bei "Mittwoch". Der Original-Post verrät allerdings Donnerstag 19.21 Uhr, also kurz vor Chaussee-Beginn.
J.S: "Man wartet ja in seinem Leben sowieso ständig darauf, dass sich endlich der Moderator zu erkennen gibt, und es heißt ‘Verstehen sie Spaß?’" Der entscheidende dramaturgische Fehler bei Truman-Show bestand meines Erachtens darin, dass man als Zuschauer schon wusste, worauf alles hinauslief. Die Perspektive von Truman wäre viel interessanter gewesen: Ein fröhlicher Mensch, dessen bester Freund immer im richtigen Moment mit einem Sixpack ankommt, der einen gut bezahlten Job hat, vielleicht ein bisschen ängstlich, und dessen Überängstlichkeit ihn schließlich in eine handfeste Paranoia treibt. Und erst am Schluss löst sich unsere Unsicherheit auf: Sie sind hinter uns her. Alle!

Nun auch noch Duelle. Charlus phantasiert eines herbei, um Morels Ehre zu retten.
Dazu fällt mir gar nichts mehr ein.

*

Do, 16.11.06

Alle paar Monate bekommt man Anfragen von irgendwelchen Portalanbietern. Heute wieder einer, dem die Eurozeichen schon den Augen zu stehen scheinen. Die Enthusiasten sollen ihre Texte als kostenpflichtigen Download anbieten. Dabei hatte man doch geglaubt, dass der Knall beim Platzen der Internetblase laut und deutlich zu hören war.

Erstmals seit Wochen wieder Laufen. Das extrem milde Wetter hat mich praktisch mit der Nase drauf gestupst: Keine Ausreden mehr! Eine knappe Stunde sehr langsames Gewöhnungsjogging mit positivem Effekt.
Abends Chaussee. Eine Besucherin bemerkt "kein einziger schwacher Text dabei."
Die Mozartanekdote diesmal nur zwei Sätze. Die Dreistigkeit der Kürze liebt das Publikum immer. Diesen Satz könnte man in Großbuchstaben auf ein Schild malen. Robert – Alkoholsucht und Schachmatt, Bohni im Philosophenzoo und der Verlierertext, Stephan über Französischlehrerin und Frauen mit Kindern, denen er Glückwunschbriefe schreibt, Volker mit dem traurigen Lied und neuer Freizügigkeit in der Bahn, Jochen übers Zeitunglesen und für die Zeitung schreiben, ich mit dem Sitten-Text, Schneewittchen-Video und Mozart. Am offenen Mikro A. mit ordentlichem Slamtext, aber zu brav und unaufregend, wir belohnen sie mit Bier und dem Hirnmasturbator.

Jochen beobachtet eine tote Maus im Stadion: "Eigentlich hat die Maus es gut, ich quäle mich hier, meinen Körper zu stärken, und sie hat es hinter sich und kann relaxen und muß niemandem mehr zu gefallen versuchen."

12.11.-13.11.06

So, 12.11.06

Per E-Mail Glückwünsche von YesAnd (automatisch generiert) und von Andreas.
Geburtstagsgeschenke bei der Familie sind hauptsächlich Gutscheine, die ich demnächst abarbeiten muss.
Micha und Volker gewinnen den Poetry Slam als Team.

Posts wieder asynchron. Dieser Eintrag im Blog erst am 13.11.
Jochens Gespräch mit der Mutter, die an psychomatischer Migräne leidet. Streckenweise wirkt es fast wie ein Selbstgespräch des besorgten, hypochondrischen Jochen mit seinem heiteren, gelassenen Alter Ego.

Albertine und Marcel unterwegs beim Kirchenbetrachten. Unterschiede im musikalischen, Gemeinsamkeiten im architektonischen Geschmack. J.S.: "Wie sich die Zeiten gleichen, der Mann klagt über den Musikgeschmack seiner Frau. Viel zu selten sucht man sich ja seine Partnerinnen nach ihrem Gebäudegeschmack aus." Überhaupt: Schnell die Gemeinsamkeiten entdecken und wertschätzen, die Unterschiede achten.
J.S./M.P.: >>"die Flaschen brachten wir zurück". Muß man in einem Roman erwähnen, daß man die Flaschen zurückgebracht hat?<< Auf der Suche nach "Müller haut uns raus", um ein ähnliches Detail zu finden, muss ich feststellen, dass ich das Buch verborgt habe, und ich weiß nicht, an wen.
Als Marcel zu Hause ankommt, "findet er sogar noch ein Telegramm von ihr vor, das sie von unterwegs geschrieben hat (Telegramm klingt auch besser als SMS)". Und Depesche klingt besser als Telegramm.

*

Mo, 13.11.06

Ich sortiere weiter großen Kram aus, den ich meinen Umzugshelfern nicht zumuten will. Schenke Tube meine Vermona-Orgel, die ich mal dem Kurzzeit-Keyboarder von Bolschoi Rabatz im Dezember 1989 für 200 Mark abgekauft habe. Stelle meine alte Liege bei Ebay ein. Die hatte noch meinem Vater gehört. Baujahr 1964(?). Habe von 1974 bis 1997 drauf geschlafen, womöglich bin ich darauf sogar gemacht worden. Jetzt muss sie weg. In den letzten Jahren stand sie als Feng-Shui-Black-Hole immer nur rum, wurde als Ablage und Gästebett benutzt. An ihrem Stöhnen würde ich sie aus Hunderten wiedererkennen.
Und wo ich mich schon bei Ebay rumtreibe, kaufe ich vier große Pizzateller (unbunt), in Erwartung angenehmer Pizza-Abende.
Nachdem wir das alte schließen mussten, stelle ich ein neues Enthusiasten-Gästebuch ein. Betreiber Webtropia. Aber schon bald gibt’s wieder Spam und Webtropia wird von den fiesen Pop-Up-Blocker-Austricksern "Motigo" übernommen.
Steffi schreibt eine Szene.

Balkan-Black-Box-Festival. Jetzt, da er es darf, hat Jochen keine Lust, zu dem Thema zu schreiben. Sich zur verpflichteten Arbeit zu überwinden ist immer schwerer, so wie bei Tom Sawyers Zaun.

J.S.: "Immer öfter taucht bei Marcel der Wunsch auf, sich an die Arbeit zu machen, wobei nicht gesagt wird, was er unter Arbeit versteht. Aber man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man vermutet, daß das Ergebnis dieser Arbeit am Ende das Buch sein soll, das wir in der Hand halten." Und das kommentiert das Obenstehende mehr als genug.

8.11.- 11.11.2006

Mi, 8.11.06

Ebay. Mit vollbepacktem Rucksack zur Post. Je 28 Euro für Frankierung und für neue Briefmarken.
Mir fehlt die Meditation des Laufens.
Langweilige Impro-Show. Warum soll ich so etwas spielen? "Ja, Sie kommen hier durch, aber nur unter einer Bedingung…", improtypisches Gelaber. Warum soll ich mich auf der Bühne von X immer wieder schlagen lassen? Wie soll auf der Bühne etwas entstehen, wenn schon von Anfang an negativ gespielt wird?
Mir fehlen Energien, stattdessen lulle ich mich mit Youtube ein, in der irrigen Annahme, die kleinen Freuden würden mich inspirieren. Aber im besten Falle kichere ich ein bisschen.

J.S: Laut Buch keine Proust-Lektüre. Die Synchronizität von Blog und Buch ist dadurch wieder hergestellt.

*

Do, 9.11.06

Wieder einmal länger als geplant sitze ich daran, einen kleinen Song auf dem QY zu basteln. Nachdem ich die Zeilen der letzten Woche komprimiert und in lockere Reimform gebracht habe, wirken sie auf dem Papier gar nicht mehr witzig, schon gar nicht, wenn ich sie in halbwegs lesbares Deutsch übertrage. Kann nur auf den Effekt des Dialekts, des Gestus und der Emotionalität hoffen. Dieser stellt sich dann auch tatsächlich ein. Wie so oft in letzter Zeit vergesse ich aber (so auch gestern) meine Stimme sanft zu behandeln, indem ich sie abstütze.

Mit meiner Mozart-Anekdote der Woche bin ich zufrieden: "Einmal unternahm Mozart eine Rundfahrt auf der Donau, ein Fluss, der bekanntlich mitten durch das schöne Wien hindurch flitscht. Der Kapitän ließ das Schiff zunächst gemütlich treiben, doch plötzlich gewahrte er eine Wolkenzusammenballung am Horizont, worüber er dermaßen in Sorge geriet, dass sich seine Augenbrauen zu einer zeltförmigen Figur auf seiner Stirne zusammenzogen. Er ließ die Segel reffen, aber zu spät – das Schiff ging unter, und alle waren tot. Außer einer – John Maynard. Mozart, der berühmte Politbarde. Sein Opus "An der schönen blauen Donau" schmiss er nach diesem betrüblichen Vorfall einfach weg, so dass der Strauß es später einfach noch mal komponieren musste.

Schon 19.15 Uhr im RAW, wo ich ein kleines Video aufnehme – eine Geburtstagsüberraschung für Jochen gegen Ende der Show.

J.S.: "Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte "Der Wolf und die sieben Geißlein"-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: "Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!" Was in der Erinnerung eine längerer Spottgesang ist, war  in Wirklichkeit ein rasch ausgeblendetes leises Meckern."
Dies war auch meine erste Platte, kaum eine hat so viele Knackser. Aber wie kam eigentlich der West-Schauspieler Offenbach dazu, diese Platte zu besprechen? Benno Gellenbeck ebenfalls aus dem Westen, Henri Gruel, der für die Geräusche zuständig war, ist ein französischer Regisseur. Rätselhaft.

Professor Cottard demütigt seine Gattin in der Öffentlichkeit: ‘Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.’

*

Fr, 10.11.06

Kurs bei Nina in Kastanienallee 77. Wie verspannt ich doch zurzeit bin.
X braucht vor dem Auftritt so oder so ein Ventil für ihre Aufregungen. Ich erinnere mich, wie ich vor vier Jahren versuchte, sie zu trösten, als sie aus der Band geflogen war. Nach der gelungenen Show kündigt sie eine längere Auszeit an. [Nachtrag 2008: Es wird ihr dauerhafter Ausstieg.]
Silvesterplanung mit RAW, Vorlesern, Band, Improtheater. Jeder mit seinen kleinen Eitelkeiten, Problemchen, Bedürfnissen, während die ganze Sache doch auch ein finanzielles Risiko ist, wenn die Agentur hart bleibt. Andere gönnen sich für die Organisation einer solchen Veranstaltung einen ordentlichen Extrahappen vom Kuchen. Ich bin aber den Egalitäts-Stil der Lesebühnen gewöhnt.
Warum sind es meistens die unwichtigsten Mails, die mit einer Prioritätsstufe versehen werden? Vielleicht weil man als Absender schon ahnt, dass sie untergehen würde, weshalb man sie markiert?
Anfrage von Jochen, den Trash-Song über Löbau erst eine Woche später in der Kantine zu singen, da dann seine Cousinen kämen. Aber die sind doch gar nicht aus Löbau.

Jochen auf einer traurigen Rentnerveranstaltung in der Urania, wo seine Angebetete tanzt [was der Blogleser nicht erfahren hatte, der 2008er Jochen im Buch aber nachschiebt]. Chris Howland, schlüpfrige Gags. Der Saal ist aus dem Häuschen. J.S.: "Was werde ich hier in 50 Jahren mit meinen Altersgenossen singen?" Das klingt, als gäbe es Hoffnung. Aber ich sehe schwarz. Sie werden Wolfgang Petry bis zum Abwinken spielen und das Frechste ist dann "Finger im Po, Mexiko". Aber wieviele von uns werden bevor sie selbst dort landen, noch auf diesen Bühnen tingeln.

Mittendrin, nach über 400 Seiten des dritten Bandes, meldet sich das Erzähler-Ich zu Wort: "ich selber bürge dafür, ich, das seltsame Wesen, das, während es darauf wartet, daß der Tod es erlöst, bei geschlossenen Fensterläden, abgeschieden von der Welt, unbeweglich wie eine Eule lebt und wie jene einigermaßen klar nur im Dunkel sieht." Glaubt er, nur weil 20. Jahrhundert ist, darf er sich einen solchen Bruch erlauben?

*

Sa, 11.11.06

Die Schauspielerei hat manchmal was Zerstörerisches. Unser neuster Running Gag – wir spielen ein nörgelndes Ehepaar. Dumm nur, dass es einen auf Dauer wirklich zermürbt. [Vielleicht ist es ja dasselbe wie bei den Cottards?]
Von der Frau, die Jochen "unsere Praktikantin" nennt, wissen wir nicht einmal den Namen, wir wissen nicht, ob sie für uns arbeiten will. Jochen spricht mit ihr regelmäßig nach der Show mindestens eine Stunde, hält sich aber für nicht zuständig.
Vier alte Schulfreunde beim Kantinenlesen zu Besuch, das mit Jochen, Tube, Ahne und Andrés wunderbar funktioniert. Sie haben überraschenderweise noch miteinander zu tun. Nehme sie mit in den Schusterjungen, wo sie von der Art des Wirts geschockt sind. Ich weiß ja schon, dass ihm wenig Besucher lieber sind als viele. Er ist schnell überfordert, der Ärmste.

J.S: "Ich habe 12 Jahre Lebenszeit damit verschwendet, mich zu drücken. Immer mußte man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde machen. Ich war meine gesamte Schulzeit genau eine Stunde hinterher." Das Beunruhigende für unsereinen ist ja, dass man, obwohl man als freischaffender Künstler alle Zeit der Welt hätte, dieses Gefühl, hinterherzuhasten, nicht los wird, es sei denn, man betreibt Meditation oder meditativen Ausgleichsport wie Joggen oder Yoga.
"Im Nieselregen nach Hause geradelt. Immer eine Art Kontrollgang, welche meiner Erinnerungsorte noch existieren und welche der geistlosen Bautätigkeit zum Opfer gefallen sind." Der letzte Satz ebenfalls ins Buch dazugeschummelt. Ich vermute, dass sich die 2008er Schwermut ihr Ventil vor allem im Ärger über die "Bautätigkeit" sucht. Aber wer weiß, vielleicht hinkt er ja hier nicht nur eine Stunde, sondern 20 Jahre hinterher und wird dann das betrauern, was man jetzt aufbaut. (Hier habe ich mich schon oft mit ihm gestritten: Als hätte es diese Geistlosigkeit in den 70ern nicht gegeben, wo man glaubte, den Prenzlauer Berg verfallen lassen zu können und stattdessen Plattenbauten in Buch, Lichtenberg und Marzahn hochzog, deren Landschaften auch für jemanden "Erinnerungsorte" waren. Aber als Komiker kann man ja nicht anders als alles persönlich zu nehmen.

J.S./M.P.: >>Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, "ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit". An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten Bank "von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte", und wo der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.<<
Das landschaftliche Idyll, das einem immer wieder als Ideal vorgegaukelt wird – der einsame See, der große weite Strand – gibt es das überhaupt noch? Kanada? Nicht einmal auf dem Mount Everest ist es einsam – man klettert an den Müllhaufen und Leichen früherer Kletterer vorbei, die einen daran erinnern, dass diese Strapazen zwar potentiell tödlich sind, aber man auch nur ein Massentourist ist. Das hätte man auf Mallorca ungefährlicher haben können.

4.11.06 – 7.11.06

 

Das Verwaltungsgericht Köln hat entschieden, dass auch die Baskenmütze einer muslimischen Lehrerin ein Symbol des Islam sei, sofern die Mütze von der Muslimin getragen werde, da diese ja so etwas Ähnliches sei wie ein Kopftuch, das ja ein frauenverachtendes Symbol sei, und somit wäre auch die Baskenmütze ein indirekter Verweis auf die Frauenverachtung des Islam. Ich nehme an, dass wenn sich diese Lehrerin demnächst eine Perücke aufsetzt, das gleiche Argument ins Feld geführt wird, ebenfalls bei einem Stirnband, und wenn es soweit gekommen ist, vermutlich auch bei einer Handtasche. Die Lehrerin selbst ist nämlich als Muslimin ein Symbol für den Islam, das wollen die Kultusminister wohl damit sagen. Fragt sich nur: Wer agiert denn hier frauenfeindlich? Man möge mich nicht falsch verstehen – ich halte den größten Teil dessen, was der Islam propagiert und wie er praktiziert wird für Hokuspokus, ebenso wie Katholizismus und Sterndeutung. Aber wer glaubt, daraus Kraft zu ziehen, soll diese Freiheit haben, zumindest so lange es ein Kleidungsstück ist, dass sich die Lehrerin auf die Omme setzt. Diskutabel hingegen wäre vielleicht eine satanistische Lehrerin, die glaubt, mit Vampirzähnen und Hörnern unterrichten zu müssen. Oder ein Lehrer, der einem todeszentrierten Kult frönt, unter dessen Mitgliedern es nicht unüblich ist, sich die Puppen zu Tode gefolterter Leichen um den Hals zu hängen. Das klingt jetzt vielleicht an den Haaren herbeigezogen, wird aber durch Kruzifixe aller Art tagtäglich praktiziert. Und kein Verwaltungsgericht meckert.

***

Sa, 4.11.2006

Schon seltsam. Das letzte Probenwochenende der Bö, keine Notizen und ich weiß nur noch, dass wir darüber diskutiert haben, wie man mit Figuren spielt.

Selbst Comics wie Shenzen und der im Frühjahr 2007 erscheinende "Pjöngjang", die Jochen übersetzt, stehen im Buchladen "in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene".
Liste von Marotten Kim Jong Ils. Zu dieser wäre wohl heute hinzuzufügen: Das eigene Bildnis vor nicht stattfindenen Fußballspielen zeigen zu lassen, während man gelähmt kaum mehr Befehle erteilen kann und die Generäle gleich den zänkischen Trauerweibern in "Lexis Sorbas" schon Krokodilstränen vergießen, obwohl man noch gar nicht tot ist.

Von Jochen erfahren wir nun, dass es die Musik ist, die im Zentrum von Madame Verdurins Salon steht, weshalb sich ihr Gesichtsausdruck zu einer ständig überwältigten Miene ausgeformt hat. In der Tat – die Betreiberin eines der wenigen Salons, die ich kennengelernt habe und die diesen Namen auch verdienten, wirkte ebenfalls ständig "überwältigt", so als müsse sie demonstrieren, wie wahnsinnig toll die von ihnen eingeladenen Performer seien und als ob wir deren Qualität sonst nicht zu schätzen wüssten.

So, 5.11.2006

Wir bringen den Polo zurück zu meinen Eltern. Nils ist da, und hat, je konkreter es wurde, Zeichen der Angst von sich gegeben, als es hieß, ich werde auch kommen, obwohl er sich wohl zunächst auf mich freute. Nach einer Viertelstunde Weinen, lässt er sich von mir vorlesen. Ich muss für ihn wie ein faszinierendes aber auch gleichzeitig überwältigendes Wesen wirken.

Jochen über den Open Mike in der Wabe Greifswalder Str. Er habe dort mal mit "Deborah" Salsa getanzt. Ich erinnere mich aber, dass es "Rosa" war. Vielleicht ja auch beide.
Erinnerungen an die Stadtbibliothek zu DDR-Zeiten. Das Gefühl, endlich am Weltwissen teilzuhaben, das Überwältigtsein angesichts der Zettelkästen, gegen die das gesamte Internet, das ja offensichtlich auf die Festplatte meines Laptop passt, ein Klacks ist. "Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte, vielleicht fand er mich genauso seltsam, wie ich ihn." Er las auch Straßenbahnzeitschriften, alte Berliner U-Bahn-Pläne, trug Hosenträger und wurde nach der Wende extrem fett. Ich sah ihn dann irgendwann in der S-Bahn nach Strausberg, wo er, einem alten Eisenbahn-Narren-Tick folgend, die Stationen ansagte, "zurückbleiben!" rief und so tat, als stünde er mit dem Zugführer in Funkkontakt. Als ihm dann zwei Zigeunerinnen einen goldenen Ring zu verkaufen versuchten, floh er panisch. Stoff für eine osteuropäische Komödie. Übrigens kenne ich noch zwei weitere Hasenscharteninhaber, die mit diesem Menschen den Faible für Bahnen teilen. Einer von ihnen kannte den gesamten DDR-Fahrplan auswendig.
Jochens hat eine neue Maus. Bei der alten hakte die Kugel. Mauskugeln und -wellen gehören zu den wenigen Dingen, die ich gern putze. Wenn ich bei jemandem den PC benutzen darf, hat er mir damit sein Einverständnis gegeben, seine Maus zu öffnen und zu kontrollieren, falls sie nicht ordnungsgemäß flutscht.

J.S./M.P.: Der "kleine Kreis" ist bei den Verdurins angelangt, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen "La Raspelière" betreiben, das 200 Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke: "…um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist." Die Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Muskeln abtasten? Wann habe ich das letzte Mal eines Mannes Muskeln abgetastet?

Mo, 6.11.2006

Wir melden uns bei Alice an (und später wieder ab).
Liste der über meinen Umzug zu benachrichtigenden Ämter, Firmen und anderen Stellen:
– Bank
– Ärztin / Zahnärztin
– Krankenkasse
– VG Wort
– Voland & Quist
– Alte Kantine
– RAW
– Ebay
– Amazon
– Einwohnermeldeamt
– Telefon / Kündigung Telekom
– Gas
– Strom
– Merkur-Versicherung
– KSK
– Presse-Versicherung
– amnesty international
– Strato
– BfA
– taz
– Rolling Stone
– Gehirn und Geist
Werde erst später merken, dass sie unvollständig ist.
Als Gedächtnisstütze notiere ich Details über die Entstehung des Kantinenlesen: Ideengeber, Teilnehmer des Literaturexpress als Testlauf, angefragte Häuser, anstrengende Namenssuche, einmaliges Sponsoring, Ringen um annehmbare Konditionen, das erste anstrengende Jahr, die Lösungen wie Schönwetterkasse, Moderation, Schluss-Rap, das After-Show-Essen erst in der Schildkröte, dann im Schusterjungen.
Betrachte die seit zwei Wochen geführte Liste mit Dingen, die ich täglich für die Chaussee mache (ohne Texteschreiben). Im Schnitt täglich 30 Minuten. Man macht sich das manchmal nicht klar.
Grauenhafte Anfrage eines Hörers an die Chaussee, der uns bittet, seine witzigen Fragen zu beantworten, darunter die folgenden:
– Was hat euch eigentlich zum Schreiben veranlasst, wo doch so viele nicht einmal richtig lesen können?
– Würdet Ihr euch als ewige Dissidenten bezeichnen?
Auf welche Frage(n) würdet Ihr lieber nicht antworten und wenn ja, warum?
a.:) Wie groß ist Dein Bierverbrauch – pro Seite?
b.:) Was fühlst Du während des Schreibens?
c..) Warst Du mal auf einem Kurs für kreatives Schreiben?
c.:) Was könnte Dich glücklich machen?
d.:) Warum treten so wenige Frauen bei Euch ein?
e.:) Wo ist der Siebente? Es waren doch 7 Zwerge? Versiebt?

Spiegeln, so fragt Jochen, derartige Fragen wider, wie wir von außen wahrgenommen werden? Soll man überhaupt antworten? Ich denke dass ja. Selbst "Die Ärzte" geben von Zeit zu Zeit noch Antworten auf Fragen von Schülerzeitungen: "Wie kommen Sie denn immer auf solche lustigen Texte?" Zumindest müsste man antworten, dass man nicht antworten will. Ich lasse ich breitschlagen, nehme mir 20 Minuten für eine Antwort und er lohnt es mir, indem er mich in seinen Reklameverteiler aufnimmt.
Ich müsste es wissen, denn auch von der "Jugendpresse", der ich mal ein Interview gegeben habe, bekomme ich ständig nicht-abbestellbaren Spam.
Von welchen Tellerchen wollen wir nach dem Umzug essen – von bunten oder unbunten?
Das Goethe-Institut versucht, die Lesebühnen zu erklären. Zu 80 % ist das totaler Quatsch: ""Ein nicht zu unterschätzender Einfluss kam aus dem literarischen Untergrund der DDR. Dessen Szene wirkte vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg. Zu Zeiten vor der Wiedervereinigung erprobten Autoren, ständig von Repressalien wie Veröffentlichungsverbot bis Verhaftung bedroht, neue Formen literarischer Öffentlichkeit, lasen in Konzertrahmen und Partys. Die heutigen Lesebühnen haben diese Tradition aufgegriffen…" So ein Nonsens. Die Lesebühnen sind aus einer völlig anderen Tradition entstanden. Der einzige nennenswerte Berührungspunkt mit der alten Ostszene ist, dass Papenfuß jetzt der Wirt jener Kneipe ist, in der die Reformbühne auftritt. Also nur Business.

Um sein unglückliches Verliebtsein zu vergessen, schmökert Jochen in Gustav Fischers "Landmaschinenkunde" aus den 20ern, aber wessen Wahrnehmung auf Sexuelles geeicht ist, wird auch in einem solchen Buch keinen Trost finden, wenn darin andauernd von Schwingschüttlern, Pommritzern usw. die Rede ist.

Dass seine Mutter eine Bindung mit Albertine begrüßen würde, ist für Marcel ebenso eine Überforderung wie das Einverständnis seines Vaters, er könne Literat werden. Die Freiheit, die uns überfordert, wenn wir nicht gelernt haben, Entscheidungen zu treffen. Ist es der Prokrastinator, der Autorität braucht, oder neigen Menschen, die autoritär erzogen werden, zu Prokrastination?
Und heißt das eigentlich, dass Prousts Mutter mit seiner Homosexualität einverstanden war?

Di, 7.11.06

Wache halb neun auf. Auf der Libauer wieder Straßenbauarbeiten. Man muss hier doch die wenigen stillen Morgen im Jahr stärker noch genießen. Und überhaupt den Zufall, dass gerade ich die Möglichkeit habe, meinen Kopf mal kurz in dieses Universum zu stecken, und das auch noch unter Bedingungen, in denen ich mir keine täglichen Existenzsorgen machen muss, sondern eher darum, wie man die Kunst am besten zuwege bringt, dass ist schon ein Wunder. Aber leider scheinen wir so nicht gestrickt. Wir suchen uns immer wieder den Stress, so wie Nils sich seine Ängste sucht, wenn ihm das Leben keine echten Gründe zum Fürchten gibt.
Umfangreiche Notizen zu Improtheater.
Finde die Noten des Andante-Satzes der Sonata facile von Mozart.
Am Abend mit Steffi in einem Off-Theater verabredet, damit ich endlich auch mal weiß, was es mit dieser Soap auf sich hat. Ich hatte mich auf einiges eingestellt, aber nicht auf diese Zumutung, die das Publikum bejubelt. Trash in der Darstellung, dabei inhaltlich aber dümmster Boulevard, schlechte Kalauer, keinerlei Hintergründigkeit. Die Figuren stimmen nicht, eine Sächsin, die falsch sächselt, ein Ex-Stasi-Mann mit Trenchcoat (!!) und Ost-Hut, nicht einmal die Türken stimmen, ebenso wenig die Berliner Typen. Sobald ein Klischee in der Ferne winkt, galoppieren die Schauspieler drauf zu und trampeln es breit. Will ihnen immer noch eine Chance geben, aber nach 20 Minuten reicht es mir. Steffi, die sich auch quält, will um der Schauspieler willen nicht früher gehen. Aber die nehmen ja auf mich auch keine Rücksicht.

J.S.: "Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch."
Wie müssen die Salongänger darunter gelitten haben, dass praktisch kaum eine ihrer Beobachtungen in ein Gespräch passte, bzw. sie ihre Beobachtungen an den Normen dieser Gespräche auszurichten hatten?

Kaiser Wilhelm habe "Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen." Was für die Rezeption des Romans einen schwierigen Bruch darstellt, da es Wilhelm und Tschudi gab, aber keinen Elstir. Das treibt mich ja auch zu extremen Leistungen bei der Lektüre von Romanen an, sobald die wirkliche Welt zu sehr hindurchscheint. Meine geliebten Sjöwall/Wallöh-Krimis konnte ich nur noch mit großer Anstrengung lesen, seit mir H.A. erzählte, er habe bei einer Radtour durch Schweden den ehemaligen Generalstaatsanwalt getroffen, der eben kein böswilliger Hund, sondern absolut liebenswürdig war und der das Schriftstellerpärchen sogar beraten hatte und sich über die Darstellung des karrieregeilen Staatsanwalts gut amüsierte. Romane über amerikanische Präsidenten sind für mich fast nicht lesbar. Auch "Schweigen der Lämmer" ist mir zu konkret, wenn die Schule des FBI und die Senatorin von Tennessee beschrieben werden. Es ist, als müsse ich ein Auge beim Lesen verschließen oder als singe im Hintergrund eine Gruppe fieser Gören: "Stimmt ja gar nicht! Stimmt ja gar nicht!"… Weiterlesen

31.10.-3.11.06

Als Falko Hennig neulich in der Alten Kantine erwähnte, er lese ca. 10 Bücher parallel, glaubte ich, da käme ich lange nicht heran, doch beim genauen Hinsehen, komme ich ebenfalls auf diese Zahl:

  • Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust

  • Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten

  • Truman Capote: Frühstück bei Tiffany

  • Francis Clifford: Zen-Minuten-Stories

  • Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

  • Gunter Lösel: Das Archetypenspiel

  • Robert M. Bramson: Coping With Difficult People

  • David Edmonds & John Edinow: Rousseaus Hund

  • Zeitschriftensammlung "Wissen und Leben" 1959-1961

  • Jeremy W. Hayward: Die Erforschung der Innenwelt

***

Di, 31.10.06

Jochen empfiehlt "Curb Your Enthusiasm", es mache süchtig. Schaue es sofort, erkenne das Suchtpotential und verzichte darauf, mir die DVD zu ordern.
Spannungen bei BÖ-Team nehmen zu. Beschwichtigungen kontraproduktiv. Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Bei Ebay ersteigert: Hans Buchheim – "SS und Polizei im NS-Staat". Steffi wird sich freuen.
Nocti mäkelt wieder: Wir mögen die Showlänge von 40-45 Minuten möglich exakt einhalten. 38 Minuten sind zu wenig, 48 Minuten zu viel. Man hat das Gefühl, sie suchen einen Grund, uns rauszukicken.

Jochens Liste unbequemer Pflichten als Kind bzw. Jugendlicher. Davon mir unbekannt:
– Bedankungsbriefe für Geburtstag und Weihnachten schreiben (Ich bekam keine Geschenke von außerhalb)
– beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Fruchtkörbe verteilen (Ich ging nicht in die Kirche.)
– Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben (Ich hatte keine Paten.)
Mir bekannte Pflichten:
– sich eine Erfindung für die "Messe der Meister von Morgen" ausdenken. Dabei griff ich oft auf den Trick zurück, die Erfindungen meiner Klassenkameraden aus dem Vorjahr zu kopieren, was erstens an sich schon peinlich war, zweitens dann immer schon nicht mehr altersgemäß, drittens obendrein noch völlig verunglückt
– am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge Pullover an- und ausziehen. Bei mir waren es eher Hosen. Da ich aber das älteste Kind war und wir nur selten Klamotten geschenkt bekamen, dürften Jochen und meine Schwester mehr gelitten haben. Aber wie jeder Hetero-Mann quäle ich mich noch heute in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser.

Marcel wirft Albertine und Andrée vor, Frauen von "schlechtem Genre" zu sein. Unklar.
M.P.: "Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, dass sie uns gleichzeitig misstrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken." Wie kann man denn mit gezücktem Messer in die Liebe gehen und sich dann wundern, dass sie scheitert?
Briefe der Albertine aus der Technikperspektive. Heute höbe man SMS auf oder löschte sie eben. Ein Brief trug noch den Geruch der Verfasserin.
Es gibt noch genau einen Menschen, dem ich manchmal Briefe schreibe. Aber auch diese Periode neigt sich ihrem Ende. Er hat mir verraten, dass er schon jahrelang auch mit Freunden per E-Mail kommuniziert. Schade. Die Briefe waren immer so schön dekoriert.
Angeblich verlorene Praxis: "Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett." Zumindest im RAW pflegen im Jahr 2006 von Zeit zu Zeit einige Besucher nach der Show hinterm Vorhang zu kopulieren, und sei es oral. Aber womöglich wäre das ja etwas, wofür sie sich zu Hause im Bett genieren würden.

*

Mi, 1.11.06

Es ist kalt, als ich aufwache. Zwinge mich zu ein paar Crunches, obwohl ich inzwischen weiß, dass die auch nicht viel helfen. Es regnet, ich pendle verpeilt durch die Wohnung. Auch das Aufstehen ist nicht so, wie es sein sollte.
Bei Kaisers Brötchen und beim Vietnamesen Blumen. Als ich ihn bitte, mir bei der Auswahl des Straußes zu helfen, nimmt er einfach von jeder gerade da stehenden Blume eine. Ich bleibe höflich und hoffe, dass das Ergebnis trotzdem gut aussehen wird. Besser als "akzeptabel" wird es nicht. Gerade gut genug, um es nicht ablehnen zu können.
Anruf von der WBM, die Schäden an der Wohnung seien zu groß, um die Wohnung weiterzuvermieten. Schade, ich hätte K. gern geholfen.
D. will seit Wochen für mich Texte ins Englische übersetzen, aber Prüfungen und familiäre Verpflichtungen halten ihn davon ab.
Peinliche Nachricht nach verkaufter Stones-CD: "ich kann diese CD so nicht akzeptieren. Das ist keine russ. Lizenz-CD; das ist eine billige russ. Kopie auf eine Aldi CD-RW. Ich würde eine neue, echte CD akzeptieren, oder machen sie mir ein alternativ-Angebot." Ich hatte schon so ein Gefühl…
Entschuldigungs-Mail vom Ballhaus, die mich weniger wegen des Inhalts als wegen des Auftauchens des Wortes desdo erheitert.
Udo Tiffert zieht in die Oberlausitz, die Heimat meiner Eltern.
Impro-Show zu zweit, in der wir das auf dem Festival Gesehene auf unsere Art verarbeiten – ein Liebesdrama und eine Impro-Show mit Puppen. Unsere Adaptionen gefallen mir sogar wesentlich besser. Allerdings lässt das Zeitgefühl nach. Als wir nach der ersten Hälfte die Pause statt des Schlusses ankündigen, schauen die Zuschauer uns ungläubig an. In der Garderobe sehen wir: Wir haben bereits 80 Minuten gespielt.

Jochen klagt über verlorene Straßenlaternen, deren Entfernung er persönlich nimmt.
J.S.: "Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse." Voland & Quist haben ja ehrenwerterweise alles über Proust dringelassen. Heißt das, sie gehören nicht zur Branche?

Beschreibung von Marcels Äußerem aus den Worten einer Dienerin: "Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen… Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen." Die Technik, sich aus dem Munde anderer überschwänglich loben zu lassen, kennen wir von Prousts erfolgreichem und schreibfreudigem Zeitgenossen Karl May.
J.S.: "Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. "Was für ein angenehmer Mensch, er hat mir keine Serviette umgebunden." So redet man ja nicht." Genau. Ich habe auch nie das Busch-Zitat verstanden: "Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt." Nein, das Gute ist mehr. Richtig müsste der Satz heißen: "Das Gute – dieser Satz ist gut – ist stets das Gute, das man tut."

*

Do, 2.11.06

Wieder eine Anfrage einer potentiellen Agentin für die Chaussee. Habe die Hoffnung schon fast aufgegeben. So erfolgreich die Chaussee in Berlin ist, so wenig schaffen wir es, uns außerhalb der Stadt vermarkten zu lassen.
Dass die WBM meine Wohnung nicht weitervermieten will, hat den Vorteil, dass ich nichts da drin machen muss, nur ein paar Dübellöcher stopfen und die Zwischendecke aus dem Flur entfernen.
M. sagt 15 Stunden vor Abreise seine Teilnahme an der Probenfahrt ab.
Der Software- und Computer-Experte regt sich im E-Mail-Verteiler mal wieder maßlos darüber auf, dass nicht alle auf seinem Wissensstand sind.
Die Heizung im Ambulatorium soll nun erst Mitte November eingebaut werden. Wir treten in warmen Anziehsachen auf. Micha und Volker üben den Text, mit dem sie den Deutschen Kollektiv-Rezitatorenwettstreit (Team-Meisterschaft des German Poetry Slam) gewinnen wollen.

Jochen grübelt angesichts eines alten, noch verpackten Murphy-Buchs, wem er dieses am 12.2.2000 schenken wollte. Das Einzige, was ich von jenem Tag noch weiß, ist, dass mir da Kohlen geliefert wurden. Am Ende des Winters. Zwei Tage, bevor ich zum ersten Mal nach Moskau fuhr. Unklar auch, ob man hier überhaupt von Wissen sprechen kann, ich habe das ja nur in meinem Kalender verzeichnet, die lebendige Erinnerung ist schon ausgelöscht.
"Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert." Selbständig lebensfähige Sentenz (J.S.), um nicht zu sagen: Aphorismus.

Nach dem Regen reißt Marcel ihr den Regenmantel vom Leib und "zog Albertine dicht an mich heran", aber angeblich nur, um ihr die Wiesen zu zeigen, was Jochen als perverse Form der Perversion ansieht. Aber wer weiß, was Marcel mit "Wiesen" meint.

*

Fr, 3.11.06

Wie so oft in letzter Zeit wache ich müde auf. Und wie so oft in letzter Zeit frage ich mich bei diesen kleinen Dingen, die einem nicht bekommen, ob sie vorübergehend sind, oder ob es etwas mit dem Altern zu tun hat oder ob das Alter nicht zumindest einen gewissen Einfluss darauf hat. Reiße mich zusammen, stehe auf, wasche mich, fahre mit dem Rad zum Wurzelwerk, während Steffi den Tisch deckt. Wir haben nicht viel Zeit, aber ist das Grund genug, um das Essen zu schlingen? Kopiere die Karte, die Kopien lasse ich später liegen.
Schöne Fahrt im Auto meiner Eltern nach W., wo wir im Sommerhaus von Gerd und Christa Wolf übers Wochenende proben dürfen. Diese Offenheit von Häusern hat mich immer fasziniert. Ich versuche es manchmal, aber natürlich langt meine olle Wohnung mit Außenklo in der Libauer 9 weder an Wolfs Sommerhaus noch an das von Frau Tietze, nicht einmal an die Wohnung der Juristen Will, die ihren spätpubertären Sohn in ihrer großen schönen Wohnung wilde Partys mit berüchtigten Punks feiern ließen.

Lebensfragen. Darunter "Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen "succubus" und "incubus" nicht merken?" Ich kenne weder das Eine noch das Andere. der anders ausgedrückt: Unklares Inventar – Succubus und Incubus.

Wörter, die Jochen zuerst in "Tim und Struppi" gelesen hat: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Piranhas, Pipeline.
Ich habe wahrscheinlich Ende der 80er erstmals einen solchen Band in der Hand gehabt und konnte damit wenig anfangen, ich war wahrscheinlich zu alt. Die Digedags hingegen faszinieren mich immer noch. Bei deren Lektüre lernte ich mit fünf bis sechs Jahren: Manager (was ich Manaager aussprach), Alligatoren, Pittsburgs-Stahl, Glühwürmchen, Telegraf, dass man Münzen auf ihre Echtheit durch Beißen überprüft, Sägefische, dass Diebe schwarze Masken und karierte Ballonmützen tragen. Während ich die Mosaiks durchblättere, erfahre ich ein eigenartiges synästhetisches Erlebnis, als ich die Zeichnung der Geheimdienstleute mit den Feuerwerkskörpern sehe, steigt mir ein Geruch von DDR-Schokolade und ein komisches Kribbeln in den Körper, wie ich es nur bei krasser Aufregung habe. Und ich weiß, dass mich das früher jedes Mal beim Betrachten dieses Bildchens durchfuhr. Jahrzehntelang hat es geschlummert, jetzt wieder erwacht. Ist Jochen schuld? Oder Proust? Oder doch Hannes Hegen?
J.S.: "jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, im Outfit russischer Frauen etwas leicht nuttiges zu erkennen."

28.10.-30.10.06

Mozart-Vinyl-Platte Karajan/Anne-Sophie Mutter: Violinkonzerte KV 216, 219 – DDR-Lizenzpressung
Edelzartbitter-Schokoladensticks
100 Rezepte Italienische Küche
Polish Funk Vinylplatte von 2007
Pfirsich-Konfekt, Sauvine Rosé Pêche, Pfirsisch-Sirup, Pfirsich-Kaubonbons, Bonne-Maman Pfirsich Kompott, Pfirsich Edelessig, Les Confituriers de Hauté-Provence – Pfirsisch und Himbeere
Wolf Haas: "Das Wetter vor 15 Jahren"
Gutschein für was zum Spielen (??)
CD Ian Wright – Sister Funk
Gebastelte Filzblume
CD Ingeborg Bachmann – elektroman
Ursus Wehrli: Noch mehr Kunst aufräumen
4 Hachez Edelbitter Chocolade Sticks
DDR-Dame/Schach/Mühle-Reise-Set  aus dem Betrieb Elektrohaushaltgeräte Dresden im VE Kombinat Präcitronic, Betriebsteil Technoplast in Originalverpackung
Lindt Mousse Au Chocolat Feinherb (mit Laktose)
Volker Surmann: "Sex. Von Spaß war nie die Rede"
Englisch/Deutsch-Bildwörterbuch
CD Neuss Testament – Die Villon Show
Eine Tüte Walnüsse
CD Mavis Staples – We’ll Never Turn Back"
Süddeutsche-Magazin-Spezial zum Thema "Futtern wie bei Muttern"
Voelkel-Fitness-Cocktail
Rotwein Dehesa Gago 2006
Playmobil-Superheld mit austauschbaren Dan-Richter-Fotos
CD mit Beats zum Freestyle-Rappen
DVD "The Office" erste und zweite Staffel
Ferrero Rondnoir Pralinen (Edelbitter mit Laktose)
Johannes Huber/Elisa Gregor: "Die Männermacher. Die sensationelle Wirkung der Hormone auf Vitalität, Potenz und gutes Aussehen"
Haruki Murakami: "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede"
1-Jahres-Abo der GEO
Selbstbemaltes Vierer-Geschirr-Set
CDs Bobo Stenson Trio Serenity I+II
CDs Bohren & Der Club of Gore – Dolores / Karen Dalton – In My Own Time
CD Otto Sander liest Fontane live
Karl Valentins gesammelte Werke (Kompilation von 1974 mit Fotos)
Gerhard Roth: "Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert"
Uwe Tellkamp: "Der Turm"
Pepé Caffé, Condimento Balsamico Bianco
Orode Génave Olivenöl Nativ Extra
Olivenöl-Seife
Zeitungshalter "Kölner Stadt-Anzeiger"
2 Karten für Helge Schneider "Wullewupp Kartoffelsupp"
CD The Fall – Live
Kinder-Überraschungs-Ei
David Edmonds + Joe Eidinow: "Rousseaus Hund. Zwei Philosophen, ein Streit und das Ende aller Vernunft"
DVDs Vera Birkenbihl "Von nix kommt nix" und "Viren des Geistes"
mp3-CDs Joachim Behrendt "Vom Hören"
Sangharakshita Mind-reactive & creative
Foto CD Foxy Freestyle
Gutschein Fotosession
Dan-Mappe bestehend aus 4 Bildcollagen, 3 Lesebühnen-Texte, 2 Gedichte (ungereimt), 2 Briefe, ein Zeitungsausschnitt, ein altes Foto
Live: fünf Lieder, 3 Impro-Szenen, 1 gereimte Impro-Rede, 1 Gratulation von mir selbst als 7jährigem
selbstgebautes Bilderbuch "6 Jahre Dan & Steffi" und Miniheft der Chronik "Dan & Steffi"
Reise nach Wustrow (Darß), Aufenthalt in Ferienwohnung für 2 Personen
Ein verlängerter Aufenthalt von Bau in unserer Wohnung.

Früher habe ich nicht verstanden oder es zumindest für eine jener typischen Erwachsenen-Heucheleien gehalten, wenn sie sagten, es läge ihnen am Besuch mehr als an den Geschenken. Heute freue ich mich über jeden entfernten Bekannten, der es zu meiner Feier schafft, mehr als über das wertvollste Geschenk.
Mit dem Alter verändert sich auch der Charakter der Geschenke. Bücher habe ich immer geschenkt bekommen und geschätzt. Neu sind Kosmetikartikel und Spirituelles. Seltener geworden im Vergleich zu sonst: Gutscheine, Rotweine, Hörbücher.

Gründe für Absagen:
Preis-Entgegennahme
Vor wenigen Tagen Kind bekommen
In Göttingen, Tansania, Hamburg, Mexiko oder Passau wohnend.
Gut bezahlter Auftritt
Vor langer Zeit gegebenes Versprechen an jemand anderen
Krankheit und/oder Alter
psychische Probleme

Unglaubliche Anreisen für nur wenige Stunden aus
Zürich
Amsterdam

*

Sa, 28.10.06

Betrachten wieder einmal die schöne Stadt Würzburg. Steffi hat für so etwas wie immer einen viel schärferen Blick als ich.
Am Abend sehen wir eine Impro-Show mit Puppen, die trotz des Überladenen doch inspirierend ist: Von der kleinen Fingerpuppe bis zur überlebensgroßen Menschenpuppe wird alles eingebaut.
Abschiedsparty des Festivals und so sehr ich mich auch bemühe, merke ich, dass ich für derartige Feste nicht geschaffen bin.

Jochens Beziehungsideal sei vom Paar auf der Verpackung von "Super-Hirn" geprägt, das ich nur als "Mini Master Mind" kannte.
"Wie ein Torero, der auf Knien das Publikum grüßt, den Stier im Nacken, sitzt der Mann da und sieht uns über die spiegelnde Tischfläche hinweg herausfordernd an, die Asiatin hinter sich. So stellte ich mir meine Ehe vor."
Wenn Jochen Johnstone gelesen hätte, könnte er diese Haltung als absoluten Hochstatus einordnen. Der Hochstatus, der nicht einmal den Blick halten muss, der nicht nur die Kehle, sondern sogar den Nacken freihalten kann.

J.S.: "Daß einen beim reinen Lesen anstrengende Beschreibungen vom Verlangen nach "Spielen" ablenken würde, darf man bezweifeln. Jemand hat ja einmal behauptet, geistige Arbeit mache lüstern, und ein aufgeschlagenes Buch sehe aus, wie ein Hintern, woran ich seitdem immer denken muß, auch wenn ich nie darauf gekommen wäre." Dieses Bild pflanzt sich natürlich auch beim Leser von Jochens Blog fort, vor allem, wenn es im Buch abgedruckt ist. Vermutlich war das auch der einzige Grund, den Proustblog binden zu lassen.
Marcel wird auf Albertine und Andrées gemeinsames Tanzen erst eifersüchtig, als Doktor Cottard ihn darauf hinweist, dass "die Empfindung bei Frauen vor allem durch die Brüste geht. Sie sehen ja, wie vollkommen beide sich mit ihren berühren."

*

So, 29.10.06

Frühes Aufstehen. In der Dusche dauert es ca. 30 Sekunden zwischen Wärmeeinstellen und der Auswirkung. Pendle also erst mal zwei Minuten zwischen eiskalt und brühheiß.
Noch ein Frühstück in dieser Jugendherberge. Natürlich das jugendherbergsübliche Sonntags-Weißbrot. Setze mich neben Sänger des Gospelchors, die hier auch nächtigen. Nach dem Austausch einiger Grundinformationen schwillt das Gespräch bald ab. So intensiv interessiert man sich dann doch nicht für die Liebhaberei des anderen.
Ulrike, die Mitfahrerin, wartet in der Bäckerei auf uns. Sie sagt, dass sie Referendarin ist und weiß, dass der Name Dan aus dem Hebräischen kommt. Aufgrund dieser Informationen tippe ich auf Religionslehrerin. 100 Punkte für den Kandidaten.
Diesmal noch lauter als die Hinfahrt. Der vergrößerte Auspuff des Polo lässt es ohnehin schon ordentlich brummen, nun sind wir durch zusätzliche Fahrerin und Cello extra beschwert. Will man Musik hören, muss man sie richtig aufdrehen. Trübes Wetter. Zwei kurze Pausen.
Zuhause müssen wir uns versichern, dass unsere Meckereien nicht persönlich gemeint sind, sondern aus unserer Erschöpfung geboren wurden.
Anfrage zu meiner Ebay-Auktion aus Holland. Bei Auslandsbietern immer Vorsicht angesagt. Die verstehen oft die Beschreibung nicht, wollen Sonderkonditionen für den Versand oder auf französisch kommunizieren. Oder ihr Deutsch liest sich wie Französisch.
Drei Bö-Spieler sagen die Probe ab. Das ist die Haltung zum Team.
Treffen mit einem PR-Menschen der XY-Werke, der von mir ein Coaching des Teams in Gesprächsführung wünscht. Im verqualmten "Sonntag im August" kann ich ihn mit meinem Konzept überzeugen.
Helfe Ch. und M. beim Workshop aus. Gratis.
Ich gehe heim, wärme mich kurz auf, dann ins Via Nova, Spiegel-Lektüre, taz. Gutes Essen.
Zurück an den PC. Müdes Internet-Surfen, bis mir fast die Augen zufallen, und ich denke, dass das nicht die Art ist, wie ich meine Tage beenden sollte.

Unklarheit der Datierung in Jochens Blog. Der Weblog zeigt keinen Eintrag an, im Buch wird der Montagseintrag als der Sonntagseintrag ausgegeben. Das zerstört ja alles. Soll man da noch weiterlesen, wenn der Autor einen so betrügt?
Lob des Mittagsschlafs: "Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlafen Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler." … aber auch jeder Ballsportler, jeder Musiker, schließlich auch jeder gute Autor.

J.S:: "Man träumt von der sehr unterschiedlichen Konstellation, dass ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen [??] Autorin zusammenlebt und am Ende ihres Lebens zwei ebenso umfangreihe und einander ebenbürtige Romanzyklen vorliegen, in denen nichts die gleiche Deutung erfährt." Im Weblog formulierte er noch: "Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammentrifft, und am Ende ihres Lebens zwei gleich umfangreiche Recherchen vorliegen, die beide recht haben."
So oder so erinnert das an "Meine Tage mit Pierre" / "Meine Nächte mit Jacqueline", was mir sowohl Ralf Petry als auch meine Mutter empfahlen. Ich hab die Filme bis heute nicht gesehen, vielleicht weil es französische Liebesfilme sind, und mit französischen Liebesfilmen kann ich noch weniger anfangen als mit tschechischen Märchenfilmen.

*

Mo, 30.10.06

Kuriose Vorgänge bei Ebay:
1. Ebay löscht mein Angebot einer Elvis-CD automatisch, weil Aufforderungen zu Western Union Zahlungen nicht statthaft seien. Dabei ist es nur ein Titel von Elvis, der "Western Union" heißt.
2. Ein Ebay-Spammer schickt mir Werbe-Post für seinen Schuh-Versand. Offensichtlich weil ich die Elvis-Platte "Blue Suede Shoes" verkaufe.
3. Ersteigere das Begleitheft zum Film "Peppermint-Frieden" von Marianne Rosenbaum, den ich so geliebt habe und der immer noch zu meinen Favoriten gehört. Als DVD gibt es ihn nicht, und die Regisseurin ist gestorben.
Wir beantragen Alice DSL (ein Fehler, wie sich 10 Monate später herausstellt).

Jochen Gastredakteur beim Salbader, wo er mit den teils ausgesprochenen, teils unausgesprochenen Regeln kämpft, die ja eigentlich diese mühsame Arbeit erleichtern. "Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären, wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich wenig vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf 3-4000 Zeichen zu kürzen, hätte er vielleicht eine Chance."

J.S:/M.P: >>Und wenn der Zufall dem "Anbranden unserer Wünsche" so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, "daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird." … Man kann sich natürlich immer in Frauen aus dem Ausland t verlieben, dann muß man sich wenigstens sprachlich nicht wiederholen. Oder man lernt mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien der Liebessprache  zu vermeiden."<< Als ginge es nicht gerade darum in der Liebe: Einmaligkeit durch Tautologie herzustellen. Aber der Blumenstrauß oder der Satz "Ich liebe dich" unterstreichen ja nur die nonverbalen Kommunikationen, die Ausdruck und Botschaft der Liebe sind, bzw. versichern deren Liebes-Gehalt. Ich muss nicht unbedingt den Satz "Ich liebe dich" hinzufügen, aber unter Umständen verleiht er den Liebesakten eine gewisse Eindeutigkeit:
– dem Händehalten
– dem Reparieren des Fahrrads
– dem zusammengestellten Mix-Tape
– dem gemeinsamen Rummelbesuch
– dem Lob des geschmackvoll zubereiteten Essens