Immer wieder Lektüre zum Thema Kommunismus. Als gäbe es da etwas aufzuarbeiten im eigenen Denken, als müsse die Vergangenheit neu erfasst und interpretiert werden.
Diesmal also "Stalin. Volume 1. Paradoxes of Power". Als ich die begeisterte Rezension im Guardian Weekly las, muss mir das "Volume 1" entgangen sein. Und so halte ich einen über 900 Seiten langen Wälzer in der Hand, der sich als der erste von drei Bänden entpuppt. Stalin bis 1928, also bis zur Kollektivierungs-Kampagne. (Der zweite Band, der die Jahre bis zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion umfasst, ist wohl, so der Autor, schon geschrieben und werde gerade poliert.) Knapp 200 Seiten sind allerdings Endnoten, Verweise und Index-Einträge. Der Stil erweist sich als erstaunlich literarisch, selbst administrative Vorgänge werden fast wie in einem Roman behandelt. Die Sprache ist flüssig, präzise und gewählt, wobei ich fast den Eindruck habe, ich würde bei einem rein politologischen Buch seltener ins Stocken (und leider auch Nachschlagen) geraten. Obwohl der Drucksatz sehr eng geraten ist, liest es sich flüssig. Aber ich brauche pro Seite etwa doppelt so lang wie bei einem normalen belletristischen englischsprachigen Werk. Das ganze Buch in kurzer Zeit durchzujagen, ist also für mich schon physisch unmöglich. Dazu lässt die Beschreibung der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und der Grundsteinlegung für immer weitere Verbrechen es kaum zu, dass die lesende Seele Frieden findet. Man muss Zuflucht nehmen in Lyrik, komischer Kurz-Prosa und dergleichen.
Kapitel 1 – Ein Sohn des Reichs
Gleich zu Beginn verabschiedet sich Kotkin mehrmals von der Idee, den späteren Diktator Stalin durch etwaige "traumatische" Kindheitserlebnisse erklären zu wollen. Erstens wäre dies zu einfach gedacht – eine Handvoll Kindheitserlebnisse, so traumatisch sie auch sein mögen, kann nicht ein derart komplexes Phänomen wie diesen Diktator und sein Regime erklären. Zweitens kann man davon ausgehen, dass einiges, was andere Biographen bei Stalin als Kindheitstrauma herausgefiltert wurde, einfach zum normalen Alltag damals gehörte. Es war z.B. nicht nur in Georgien, sondern auch in Westeuropa eher ungewöhnlich, wenn ein Vater sein Kind nicht schlug.
Auch andere Kleinigkeiten scheinen in anderen Biografien überbeleuchtet, so etwa die ständig wiederholte Aussage, Stalin habe als Jugendlicher eine Straßengang angeführt. Dass diese Punkte anderswo solch prominenten Platz erlangen, hat wohl eher damit zu tun, dass die Autoren Stalins Biografie von hinten aufziehen, also kleine Hinweise für den paranoiden Massenmörder und Diktator in der Jugend suchen und entsprechend hervorheben, Widersprechendes aber übergehen. Kotkin sucht nach Komplexität und lässt die Widersprüche nicht aus.
Was den jungen Dschugaschwili vor anderen Jugendlichen auszeichnet, ist vor allem ein ungeheures Lese- und Lernbedürfnis, welches unter den gegebenen Umständen (Sohn eines Schuhmachers und einer Gelegenheitsarbeiterin) kaum zu befriedigen war. Nur mit Glück, Ehrgeiz und Talent gelang er ins Priesterseminar nach Tiflis. Als Sohn eines ins Proletariat geratenen Bauern strebte er auf in die Semi-Intelligenzija.
Der junge Dschugaschwili erweist sich als gläubig und folgsam in den Ritualen des Seminars.
"… the future Stalin may have thought to become a monk himself. But changes in the Russian empire and in the wider world opened up a very different path."