Die Türen fallen lauter heut ins Schloss.
Die Krankheit unsres Nachbarn ist der Boss.
Hat er nicht Ruhe, Klarheit, Sicherheit,
weiß man, es gibt heut Krach für lange Zeit.
Durchs Treppenhaus kann man ihn rasen sehn,
wenn er so leidet, und er ist erst zehn.
Dein Üben
Leise übtest du Klavier
Das Stück hieß irgendwas mit „Regen“.
Ich schlich vorbei an deiner Tür
und wollt mich nicht bewegen.
Und wie die Finger die Tasten klopften
im völlig selbstvergessnen Spiel
(die Töne perlten wie kleine Tropfen),
der Regen dann tatsächlich fiel.
Genesen (Corona 36)
Langsam richte ich mich auf
gleich dem Lindwurm,
der zu lang gedöst
und nicht mehr weiß,
was er dort bewacht
und ob die Kräfte,
die einst in ihm wohnten,
ihm noch gehorchen.
Ich huste Asche,
statt Feuer zu spei’n.
Angesteckt (Corona 35)
Du bist krank und ich gesund.
Du liegst und ich steh.
Dir tun Nas und Hals und Mund
und die Därme weh.
Wenn ich dich so seh,
scheint mir das Leben wahrlich dumm.
Ich koch dir einen Tee.
Gestern war es andersrum.
Herrscherköpfe
Putin und der Olaf Scholz.
Der Eine Gas, der Andre Holz.
Svenja Flaßpöhler: „Sensibilität“
Eigentlich weiß ich nicht mehr genau, was mich bewog, Svenja Flasspöhlers Buch „Sensibel“ zu kaufen. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass ich jetzt einfach mal eines ihrer Werke lesen musste, statt nur über sie zu lesen oder sie in Interviews zu hören.
Nachdem ich es bestellt hatte, sah ich schon, dass ihrem Werk ein gehöriger Wind entgegenblies. Ich erwartete eine Streitschrift. Stattdessen bekam ich eine kleine feine philosophische Analyse der Sensibilitäts-Debatten der heutigen Zeit.
Flasspöhler ordnet nicht nur den Begriff historisch ein, sondern zeigt auch, dass die Auseinandersetzung um „Sensibilität“ gar nicht so neu ist. Sie zeigt sich nur im neuen Gewand. Wenn es um dieses Thema geht, kochen in der öffentlichen Debatte rasch die Emotionen hoch. Selbst kluge Leute scheuen dann nicht zurück vor Unterstellungen, persönlichen Angriffen, werden laut usw., was oft ein Zeichen für vollkommenes Unverständnis der anderen Seite ist. Mit anderen Worten: Die Analyse kommt zur rechten Zeit.
Wir haben es, kurz gesagt, mit zwei Seiten der erhöhten Sensibilität zu tun: Der aktiven und der passiven Seite, das heißt, wir sind empfindlicher für Zumutungen geworden, aber auch sensibler für das, was man anderen zumuten kann.
Flasspöhler zeigt im historischen Rückblick auf Hume, Rousseau und de Sade, dass Mitgefühl nicht genügt:
„Die reine Empfindung [ist] noch keine Moral… Nichts kann uns von der Notwendigkeit des Urteils und der damit einhergehenden Distanzierung entbinden.“
Verletzungen haben nun zwei Seiten: Sie können eine Person dauerhaft schädigen („Trauma“) oder sie können sie stärken. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, ist von der Intensität der Einwirkung, aber auch von der Persönlichkeitsstruktur, gelernten Coping-Mechanismen und der Art und Weise des Umgangs abhängig.
Flasspöhler erwähnt es nur en passant, aber es ist schon ein Unterschied, ob man z.B. meditatives Training, Psychoanalyse oder preußische Härte im Umgang mit Verletzungen einsetzt.
Ein gesellschaftliches Problem entsteht dann, wenn selbst die kleinste Irritation als Trauma bezeichnet wird – ein irritierendes Kunstwerk, der Sprachcode einer anderen sozialen Gruppe usw. und wenn dann die Folgerung besteht, die Gesellschaft müsste jede noch so kleine Irritation, die jedes Individuum empfinden könnte, verhüten. Dies führt zu einer endlosen Spirale des Unsagbaren (und ich würde sogar sagen zu einem magischen Verständnis von Sprache). Dann sind selbst zitierende Verwendungen von Schimpfwörtern tabu, dann werden jedem größeren Werk der Weltliteratur „Triggerwarnungen“ vorangestellt, so als wüsste niemand, der einen Krimi aufschlägt, dass es hier um Verbrechen geht, dann wird letztlich jede Kontroverse (auch wissenschaftlicher und politischer Natur) unter Vorbehalt gestellt.
Andererseits stellt Flasspöhler klar, dass Hassrede durchaus in handfeste Gewalt umschlagen kann, wie die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Jahre gezeigt haben.
Aber wo liegt die Grenze?
Welche Kraft hat also die Sprache und wie sensibel ist sie zu gebrauchen?
Man sieht schon: Jetzt kommt das "schlimme Thema" in Hochgeschwindigkeit auf uns zugerast, das Thema, zu dem jeder eine Meinung hat, und zwar eine klare. Und die andere Seite, das sind die Bösen.
Überraschenderweise argumentiert Flasspöhler nun nicht gegen Judith Butler, sondern nimmt sie für sich in Anspruch: Sprache kann nicht fixiert werden, sie ist performativ (so wie sich auch Geschlechter sozial performativ und fluid konstituieren). So wie in den 1970er und 80er Jahren eine performative Umdeutung des einst abwertenden Begriffs „schwul“ gelang, könnte dies auch mit anderen Begriffen gelingen.
Man denke etwa an die "Slutwalks", bei denen gegen Vergewaltigungs-Kultur demonstriert wird, aber gleichzeitig auch wie nebenbei das Wort "slut" (Schlampe) performativ umgedeutet wird.
Butler beschreibt den Drag, die Travestie als Spiel, um den performativen Aspekt von „Geschlecht“ zu entlarven. Davon ausgehend fragt sich Flasspöhler, ob das generische Maskulinum nicht seine Freiheit daraus bezieht, dass es von geschlechtlichen Identifikationen absieht.
„Nicht das Geschlecht, sondern das Tun wäre der Kern der Bezeichnung. Unbestritten gehört es zu den Errungenschaften der Emanzipation, dass man Menschen nicht auf ihr Geschlecht reduziert, sondern für das anerkennt, was sie können und machen… Böte das generische Maskulinum dann nicht ein erstaunliches emanzipatorisches Potential – und zwar gerade durch seine umfassende Bezeichnungskraft, die nicht nur einzelne Gruppen meint, sondern alle?“
Im Weiteren fragt sich Flasspöhler, wie weit es Grenzen der Einfühlung gibt. (Man denke an die Forderungen, dass Schwarze Dichterinnen nur von Schwarzen Übersetzerinnen übersetzt werden sollten, dass Homosexuelle nur von homosexuellen Schauspielern dargestellt werden dürften usw. Die Begründung dafür lautet, dass jemand, der nicht dieselben Diskriminierungen erfahren habe, nicht wirklich nachvollziehen könne, was es wirklich bedeutet, in dieser Situation zu sein. Diese Position, die sich an nicht nur an Einzelbeispielen (wie Amanda Gormann) festmacht, sondern in Hollywood allmählich zur Hauspolitik wird, ist natürlich radikal (und wird auch letztlich nicht jenseits einiger symbolischer Akte durchzusetzen sein. Flasspöhler lässt hier den Juristen und Autor Bernhard Schlink zu Wort kommen:
„Das Schreiben über Menschen aus anderen Welten misslingt leicht. Aber es kann auch gelingen, es braucht dazu Wissen und Einfühlung. Warum es ein Verbot geben soll, kann ich nicht verstehen.“
Die konsequente Umsetzung hieße ja, die einzige legitime Literaturform wäre das Tagebuch. Und im Film könnte man nur noch sich selbst spielen. Ja, letztlich nicht einmal das. Denn wer garantiert, dass du dich in dein früheres Ich auch wirklich hineinversetzen kannst?
Wie aber soll die Sensibilität sich angemessen im Miteinander ausdrücken? Wir versuchen zwar, die Ambivalenzen zu überwinden, etwa indem strafrechtlich festgelegt wird, dass im sexuellen Verhalten ein „Nein“ auch wirklich ein Nein bedeutet. Damit wird aber lediglich das Problem verschoben. Denn es gibt ja verschiedene Neins – das kategorische Nein, das flirtende Nein, das Nein, das sich vielleicht in ein Ja ändern könnte, das Nein, das sich auf die Tageszeit, nicht aber auf die prinzipielle Beziehung bezieht usw, usf.
Hier könnte die Rechtsprechung noch interessante Überraschungen parat halten.
Flasspöhler diagnostiziert:
„Worum es im Kern geht, ist die Eliminierung verunsichernder Ambivalenz.“
Mit Helmuth Plessner fordert Flasspöhler
„Takt – das Erfassen von Nähe- und Distanzbedürfnissen“.
Wobei man auch hier die Frage stellen kann, wie das gelingen kann, wenn es schon allein in Deutschland Dutzende Formen der Begrüßung gibt: Handschlag, Küsschen auf die Wange, Faustschlag, kurzes Winken, Küsschen auf den Mund, verbale Unterformen, feste Umarmung, lockere Umarmung usw. usf.
Abschließend Flasspöhler:
„Wann muss die Gesellschaft sich ändern, weil ihre Strukturen schlicht ungerecht sind – und wann muss das Individuum an sich arbeiten, weil es die Chancen, die es doch eigentlich hätte, nicht nutzt. Brauchen wir gesetzlich verankerte Frauenquoten oder geht es eher darum, Frauen zu ermutigen und zu ermächtigen, ihre Wünsche zu verwirklichen, und zwar auch gegen Druck und Widerstände?“
„Nicht jede Ungleichheit ist ungerecht und privilegienbehaftet. Es gibt Ungleichheiten, die aus eigener Anstrengung – respektive deren Unterlassung – resultieren.“
Ferienlager-Käufe – 511. – 514. Nacht
Was wir von den 10 Mark im Ferienlager kauften
Als Kind hatte man im DDR-Ferienlager 10 Mark dabeizuhaben. Nicht mehr, nicht weniger. Das galt von 7 bis 13 Jahre. Manchmal hatte sich einer noch heimlich 5 Mark vom Gesparten mitgenommen oder die Oma hatte noch einen Zehner draufgelegt. Aber diese Kinder gehörten zu den Exoten und pflegten ihr Extrageld rasch zu verlieren oder auszugeben.
Die Frage war natürlich: Was sollte man sich kaufen? Manche gaben schon am ersten Tag am Kiosk fast all ihr Geld aus. Der Ruhm des Vielbesitzenden umwehte sie für nicht mal eine halbe Woche, dann gehörten sie zur Bettler-Kaste. Ich war einer von denen, die den Ehrgeiz hatten, nach zwei Wochen mit möglichst viel Geld wieder nach Hause zu fahren. Aber bald fand ich heraus, dass Ferienlager ohne jeglichen Hedonismus im Grunde nichts wert war.
Hier die Top Ten der Dinge, die ich im Ferienlager kaufte.
10. Zahnputzbecher
Wenn man den Zahnputzbecher vergessen hatte, bemerkte man das schon am ersten Abend, und beim nächsten Frühstück gab es eine lange Schlange der Bummelbecherkinder. Dass man sich den Mund auch einfach ohne Zahnputzbecher ausspülen könnte, war für mich damals eine Idee aus dem Bereich der Fantasy.
9. Zahnpasta
Eng mit dem Zahnputzbecher verwandt war die Zahnpasta. Aber man kaufte Zahnpasta nicht etwa, weil man sie vergessen hatte, sondern weil irgendjemand Zahnpasta dabei hatte, die hundert Mal besser war als die eigene, was in meinem Falle immer Silca war. Wäre nicht das Ferienlager gewesen, hätte ich nie von Ajona erfahren, von der man nur eine linsengroße Menge benötigte. Oder von Rot-Weiß, der Zahnpasta, die extra damit warb, nicht zu schäumen. Oder Chlorodont, die eigentlich ziemlich furchtbar schmeckte, aber dermaßen billig war, dass es völlig irre erschien, sie nicht zu kaufen. Die Freude meiner Eltern über die angefangene Tube hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen.
8. Creck
Meiner Sparneigung kam außerdem die ebenfalls im Ferienlager entdeckte Creck, einer Schokoladen-Ersatztafel, die aus einer Mischung Hartfett, Zucker und gemahlenem Knäckebrot bestand. Der Kakao-Anteil lag bei zirka 3 Prozent. Entsprechend schmeckte sie auch. Es half, wenn man möglichst viel davon auf einmal aß, das Ganze möglichst schnell verdrückte und sich dabei über die Sammelbilder freute, die es – hallo Sparfuchs! – gratis auf der Innenseite der Packung gab. Jedes Mal im Sommer begann ich, Creckbilder zu sammeln. Nach zwei Bildern hörte ich immer auf, der Ekel war doch zu groß.
7. Taschenlampe
Wer ins Ferienlager fuhr, brauchte natürlich eine Taschenlampe. Diese dem Kind mitzugeben, wurde den Eltern eingeschärft. Wie sonst hätte man nachts den Weg zum Klo finden sollen? Oder den Weg zum Mädchen-Bungalow? Wie sonst hätte man nachts noch lesen können? Oder Schattenspiele an der Bungalow-Decke veranstalten? Wie sonst hätte man bei der Nachtwanderung den Weg zur alten Bunkerruine finden können? Wie sonst hätte man Monster spielen können, wenn man sich nicht die Lampe in den Mund gesteckt hätte? Nun war es aber so, dass manche eine Stabtaschenlampe besaßen, mit der man ungelogen bei der Nachtwanderung bis zum Mond hochleuchten konnte. Mit anderen Worten: Über 300.000 Kilometer weit. Meine leuchtete nicht einmal über vier Meter. Das Problem war natürlich, dass man so ein Riesenteil nicht in die Hosentasche stecken konnte. Außerdem waren eigentlich Signaltaschenlampen, bei denen man die Farben verstellen konnte, deutlich cooler. Nur dass wir damals nicht „cool“ sagten, sondern „lässig“, was im Grunde dasselbe bedeutete.
6. Batterien
Die Taschenlampen-Manie führte schließlich dazu, dass man andauernd Batterie-Nachschub benötigte. Besonders beliebt waren die Flachbatterien, an deren Kontakten man lutschen konnte, um zu prüfen, ob sie noch gut waren. Manche behaupteten sogar, von ihren größeren Brüdern gelernt zu haben, dass man auf diese Weise die eigene Energiezufuhr erhöhen könnte. Ich konnte das nicht prüfen, ich hatte ja keinen großen Bruder. Ich war selber einer.
5. Cola
Dass es in der DDR überall immer nur dieselben Dinge zu kaufen gab, ist ein Märchen. Das mussten wir auf die harte Tour erfahren, wenn wir außerhalb Berlins Cola kauften. Während die Berliner Club-Cola ganz passabel schmeckte waren die Provinzsorten, die auch immer in braunen Flaschen verkauft wurden, eine Zumutung. Hier also innerhalb meiner Top Ten eine Unterliste der Bottom 25 der DDR Colas
• Asco-Cola (u. a. VEB Brauhaus Saalfeld; VEB Getränke Zerbst)
• Bongo-Cola (Jos.Gastrich, Bernburg)
• Cherry-Cola (u. a. VEB Margon Dresden; VEB Getränkekombinat Neubrandenburg; VEB Fruchtlimonaden Cainsdorf)
• Chico (VEB Getränkekombinat Karl-Marx-Stadt)
• Co-Bra (VEB Vereinigte Getränkebetriebe Cottbus)
• Cola-Hit, koffeinfreie Cola (u. a. VEB Stadtbrauerei Forst)
• Colette Cola, (u. a. VEB Harzer Brunnen Wernigerode; VEB Brau- und Malz-Union Hadmersleben; VEB Getränkekombinat Schwerin)
• Diabeli Cola, Kola-Getränk für Diabetiker, (VEB Getränkekombinat Neubrandenburg)
• Disco-Cola, (u. a. VEB Brau- und Malz-Union Hadmersleben)
• Efro Kristall (u. a. VEB (K) Rosenbrauerei Pößneck; Kastner KG Berlin-Köpenick)
• Gold-Cola, (u. a. VEB Brauhaus Halle; VEB Rose-Brauerei Grabow; VEB Berliner Brauereien; VEB Getränkekombinat Leipzig)
• Inter-Cola (u. a. VEB Getränkekombinat Hanseat Greifswald; Brauerei H.Schönfeld Potsdam)
• Margon Cola (VEB Margon Burkhardswalde)
• Marika (Fasscola)
• Markola (Stadtbrauerei Markneukirchen)
• Pola Cola (Konrad Pohlmann, Mineralwasserfabrik Coswig-Anh.)
• Prick-Cola (u. a. VEB Altenburger Brauerei)
• Quick-Cola (u. a. Brauerei Ernst Bauer Leipzig; VEB Ostthüringer Brauereien Pössneck; Johannes Köhler KG Eilenburg)
• Quiss Cola (Johannes Köhler KG Eilenburg)
• Sport-Cola
• Stern-Cola (VEB Getränkebetrieb Stadtroda, VEB Brauerei Neunspringe Worbis)
• Vita Cola (u. a. VEB Turmbräu Leipzig; Konsum-Brauerei Weimar-Ehringsdorf; VEB Greifswalder Brauerei; EB Klosterbrauerei Bad Salzungen; VEB Berliner Brauereien)
• Trako Kristall, (Brauhaus Markranstadt)
• Tropen-Cola (u. a. VEB Vereinsbrauerei Greiz; VEB Brauerei Colditz, Brauerei F. A. Ulrich Leipzig)
• Win-Cola (Bergquell-Brauerei KG Löbau)
4. Skatkarten
Absolut unverzichtbar waren Skatkarten. Man brauchte sie für den All Time Favorite Mau-Mau, für Schummellieschen, für den Verarschungs-Gag 32-Heb-auf, den man mit den Neuen machen konnte, in den späteren Jahren für Skat, für Kartentricks, Krieg/Frieden, wenn man mit jemandem spielte, der sonst nichts konnte. Da man immer ein Skat-Kartenspiel dabei hatte, hätte man sich auch kein neues kaufen müssen, wäre da nicht Knipper gewesen, auch Fingerkloppe oder Folter-Mau-Mau genannt, an dessen Ende man dem Verlierer mit dem Kartenstapel auf die Fingerknöchel schlagen durfte, bzw. wenn die verschärfte Variante „mit Treppe“ gespielt wurde, wurde dem Verlierer mit dem angeschrägten Kartenstapel die Haut von den Knöcheln regelrecht heruntergefräst. Knipperspieler erkannte man folglich an den Pflastern, die sie während der Ferienlagerzeit auf den Händen trugen. Da aber bei diesem Spiel auch die Karten in Mitleidenschaft gezogen wurden – entweder weil sie während der Folter geknickt waren oder durch die Blutschlieren unbrauchbar gemacht worden waren, musste nachgekauft werden. Notfalls legten die Folterer zusammen.
3. Richtige Schokolade
Wenn der Ekel vor der Creck-Tafel überhandnahm, blieb einem nichts anderes übrig, als das schöne Geld für richtige Schokolade auszugeben. Schokolade, die teuer war. Schokolade, die man sich zuhause nicht kaufen würde. Mit Pfefferminzfüllung, mit Fruchtfüllung, mit Kokosfüllung, mit Knäckebrotfüllung. Die Riegel wurden eingeteilt, so dass drei Stückchen pro Tag blieben.
2. Pfeffi-Stangen
Natürlich blieb es nicht bei drei Stückchen pro Tag. Und dann war es so weit. Noch fünf Tage bis zur Abreise, und man hatte nur noch 90 Pfennig, was nicht mal für Creck reichte. Und so wich man auf Pfeffi-Stangen aus. 10 Stück für 10 Pfennig. Glück konnte so billig sein.
1. Fahrtenmesser
Aber irgendwann kam der Tag, an dem sich jeder Junge entscheiden musste: Bleibe ich ein kleines Kind oder investiere ich sieben Mark in ein Fahrtenmesser. Mit Blutrinne. Diese Messer waren meistens. Sie ließen sich nicht mal richtig zum Schnitzen benutzen. Aber für Gruppenrituale benutzen. Einmal, als wir mit einem Hungerstreik gegen die Entlassung unseres alkoholsüchtigen Gruppenleiters protestieren wollten beschlossen wir, diesen Streik mit einem Schwur zu besiegeln, indem wir unsere Fahrtenmesser gemeinsam in den See werfen würden. Erst im letzten Moment schlug Dirk vor, wir könnten die Messer ja auch in die Weide stechen. Warum waren wir nicht schon früher darauf gekommen? Im Nachhinein hätte es nichts geschadet, die Messer in den See zu werfen, diese stumpfen Mistteile. Ich war der Einzige, der den Hungerstreik wenigstens bis zum Abend durchhielt. Aber eine Blutrinne würde nie wieder eines meiner Messer haben.
*
511. Nacht
Nach einem Jahr kommt tatsächlich der Vogelzug wieder daher. Doch muss sich Dschanschâh noch weitere drei Tage im Pavillon verstecken, bis die drei Riesenvögel aufkreuzen, ihre Gefieder ablegen und als nackte Mädchen im Teich baden.
Wie sie aber im Wasser schwammen und zur Mitte des Teiches gelangten, sprang er auf, eilte wie der blendende Blitz dahin und ergriff das Gewand der jüngsten Maid, der, an die er sein Herz gehängt hatte und die Schamsa [Sonne] hieß.
Sie bittet ihn um ihr Kleid, um herauskommen zu dürfen. Er gesteht ihr lediglich zu, dass eine der Schwestern ihr etwas von ihren Federn abgeben darf, um die Blöße zu bedecken.
Nun kam sie daher, als wäre sie der aufgehende Vollmond, der helle, oder eine äsende Gazelle.
Und er berichtet wieder einmal seine Erlebnisse.
512. Nacht
Der Herr der Vögel, Scheich Nasr, nimmt der jungen Frau das Versprechen ab, Dschanschâh nie untreu zu werden. So bleiben sie noch drei Monate;
und sie aßen und tranken, spielten und scherzten.
513. Nacht
Nach dieser Zeit willigt sie ein, mit Dschanschâh in dessen Heimat Kabul zu ziehen und sich dort mit ihm zu vermählen.
Der Tag der Abreise kommt, Schamsa erhält ihr Federkleid zurück und Dschanschâh steigt auf ihren Rücken und sie trägt ihn drei Tage lang. Sie schwebt herab
auf ein weites Wiesenland in der Blumen Prachtgewand, mit äsenden Gazellen und sprudelnden Quellen, woe Bäume voll reifer Früchte standen und breite Bäche sich wanden.
Sie erklärt ihm:
„Wir haben eine Strecke von dreißig Monaten zurückgelegt.“
Sie rasten auf der „Wiese Karâni“.
Wo das sein soll, konnte ich nicht herausfinden.
Da begegnen ihnen zwei Mamluken. Einer von ihnen ist der, der im Fischerboot geblieben war. Man einigt sich darauf, dass sie Dschanschâhs Vater die Nachricht seiner baldigen Ankunft geben sollen, damit man ihn nach einer angemessenen Pause zum Prunkzug abholen möge.
514. Nacht
Als die Mamluken dem König die Botschaft der Ankunft seines Sohnes überbringen, fällt dieser in Ohnmacht, und verspricht ihnen, als er aufwacht eine Summe Geldes:
„Nehmt diesen Lohn für die frohe Botschaft, die ihr gebracht habt, mag sie nun falsch oder wahr sein!“
Eine bemerkenswerte Geste für den König eines Großreichs.
Er reitet dem Sohn mit großem Gefolge entgegen zum Fluss.
Dort saßen die Krieger und die Mannen ab, schlugen die Zelte und Prunkzelte auf und errichteten die Standarten; und die Trommeln wirbelten, die Flöten erklangen, die Pauken dröhnten und die Hörner schmetterten. Nun befahl König Tighmûs den Zeltaufschlägern, ein Zelt aus roter Seide zu bringen und es für die Herrin Schamsa herzurichten.
Der Beruf des Zeltaufschlägers dürfte inzwischen auch ausgestorben sein.
Sie legt ihr Federkleid ab und es kommt zur großen Vereinigung von Vater, Sohn und Schwiegertochter. Dschanschâh muss abermals seine Geschichte erzählen.
Leise
Leise ziepelt der letzte Kiebitz im Hain
unter der Eiche.
Wir sind allein.
Bald brechen für ihn und mich die letzten Deiche.
Lübeck, Oktober 2021