Gebuchte Shows – Wenn der beste Vertrag nichts nützt

Man sollte, wenn man als Improgruppe gebucht wird, alle Eventualitäten vertraglich berücksichtigen: Bühnensituation, Zeitpunkt des Auftritts usw. Es gibt einen Level des Irrsinns, den kann man auch im besten Vertrag nicht ausschließen.
Einer meiner schlimmsten Auftritte sah ungefähr so aus:  In einem achtzig Meter langen Saal saßen die Gäste an langen Bierbänken mit schlechter Sicht zur Bühne, die auch noch in zwanzig Meter Distanz zu den ersten Zuschauern aufgebaut war. Es begann mit öden Ansprachen, langen Umbaupausen, es folgte ein schrecklicher Weihnachts-Chor mit einstündigem Programm. An den Seiten liefen parallel weitere Vergnügungen, wie Hau-den-Lukas-Geräte und Ähnliches. Das Publikum wurde immer betrunkener. Um die Umbaupause nach dem Chor zu überbrücken, legte der DJ schon mal laute Tanzmusik auf. Die Gäste glaubten, nun könnten Sie sich endlich amüsieren und tanzen. Aber nach zehn Minuten wurden die Party von der Organisatorin unterbrochen: „Es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen sagen, dass jetzt erst mal noch ein Improtheater kommt.“ (Murren der Gäste) „Doch! Setzen Sie sich jetzt bitte alle stille hin und warten Sie das Theater ab.“
Während der Show unterhielten sich 480 von 500 Gästen, die Anlage begann ab einem bestimmten Level rückzukoppeln.
Hier hilft nur noch, die Gage von vornherein so hoch anzusetzen, dass man sie als Schmerzensgeld akzeptieren kann.

Pseudo-Fragen ans Publikum

„Nennen Sie mir bitte eine Hunderasse!“
„Cocker Spaniel.“

Die Szene beginnt, und wir sehen jemanden mit einem Hund spazieren gehen.
Warum, so frage ich mich als Zuschauer, wurden wir überhaupt nach einer Hunderasse gefragt? Der Improspieler hatte ja offensichtlich ohnehin den Plan, mit einem Hund spazieren zu gehen. Man könnte nun argumentieren, dass es sehr wohl einen Unterschied mache, wenn es zum Beispiel ein Pitbull ist. Aber eben nur, falls dieser Extremfall gewählt wird und auch nur dann, wenn das Element gefährlicher Hund eine Rolle spielt. Der Spieler könnte dann auch fragen: „Soll ich mit einem gefährlichen oder einem ungefährlichen Hund spazieren gehen?“ Und die Antwort auf diese Frage kann man hundertprozentig voraussagen. Also warum geht er nicht gleich, ohne zu fragen, mit einem Pitbull spazieren?

„Ich hätte gern ein Gemüse!“
„Zucchini.“
Die Spielerin beginnt eine Zucchini-Schnippel-Pantomime.

„Warum“, so wollte ich wissen, „fragst du in den Shows immer wieder nach Gemüse?“ – „Weil ich eben die Szenen gern mit Gemüseschnippeln beginne.“ Nun ist es bekannt, dass viele Spieler sich in Eröffnungen auf eine Standard-Pantomime einschießen. Aber soll man daran festhalten? Und wenn, wozu dann noch so tun, als hätte das Publikum irgendeinen Einfluss auf die Szene?

Dildo, Puff und Bahnhofsklo – Vorschläge annehmen und ablehnen

„Wo soll die nächste Szene spielen?“
„Auf dem Bahnhofsklo!“

Was nun? Auch das geschickteste Fragen kann nicht garantieren, dass wir nicht obszöne oder vulgäre Vorschläge aus dem Publikum bekommen. Ob der betreffende Zuschauer den Improvisierern eine besondere Herausforderung stellen will oder ob er besondere Freude an derben Themen hat, lässt sich nicht genau sagen und ist im Grunde auch egal. Die Frage ist, wie die Improvisierer damit umgehen.
Der übliche Rat, den man Improvisierern hier erteilt, lautet, den Vorschlag humorvoll beiseitezuschieben, etwa: „Danke, aber es muss sich ja nicht um Ihren Lieblingsaufenthaltsort handeln.“
Aber warum müssen wir einen Vorschlag wie „Bahnhofsklo“ überhaupt ablehnen? Man weiß natürlich, welche Assoziationen dieser Vorschlag wachruft – Körperausscheidungen, Verruchtheit, Dreck, Billigprostitution, Drogenhandel und -konsum. Aber bedeutet das, dass unsere Szenen davon handeln müssen? Wie wäre es mit folgenden Szenen:
Zwei Männer streiten um eine Frau.
Zwei Polizistinnen diskutieren die ethischen Grenzen beim bevorstehenden Einsatz.
Ein obdachloser Mann sucht mit seinem kleinen Sohn einen Schlafplatz.
Ein Flüchtiger versteckt sich vor der Polizei.
Zwei Angestellte eines Schnellimbiss beenden ihren Arbeitstag.
Keine dieser Szenen muss mit dem unmittelbar Dreckigen zu tun haben. Das Dreckige wäre zwar implizit vorhanden, aber nicht vordergründiges Thema der Szene. Denn wer sagt, dass man bei einer Klo-Szene auf dem Klo sitzen muss? Andererseits kann auch das angedeutet werden, und ich rate dazu, das mal in einer Probe auszuprobieren: Zwei Freunde/Partner/Verwandte sitzen in benachbarten Klo-Kabinen und diskutieren über Gott und die Welt, wie es eben auch manchmal geschieht. Das Thema Klo selbst wird nicht berührt.
Bei eindeutig sexuellen Vorschlägen mag die Sache heikler sein. Aber wer sagt, dass eine Szene in einem Bordell unbedingt sexuell sein muss?
Wir können den Gerichtsvollzieher bei der Arbeit sehen.
Angestellte befüllen ein Aquarium.
Eine Prostituierte führt während ihrer Arbeitspause ein Telefonat mit ihrer Tochter.
Abgesehen davon birgt das Thema Sexualität durchaus Potential für Komik, insofern man es sanft behandelt, denn jede psychologische Klemme, die entsteht, wenn man sich zwischen den persönlichen Bedürfnissen und den sozialen Erwartungen bewegt, ist tendenziell komisch.

Das Comedy-Duo Key & Peele entwickelte einen „sexuellen“ Sketch, der vom Game-Aufbau geradezu aus der Impro-Kiste kommen könnte: Die Frau fragt ihren Mann, ob er die Browser-History gelöscht habe, da sie Schwerigkeiten habe, sich auf dem Laptop einzuloggen. Er verneint dies, aber ein Schweißtropfen läuft über sein Gesicht. Sie vermutet, er habe sich heimlich Pornos angeschaut, was ja OK sei, solange er sich keine Sado-Maso-Filme… Sein Gesicht ist nun völlig verschwitzt. Gut, SM sei ja OK, solange es sich um Frauen handele … Mit jeder Eskalationsstufe steht sein Gesicht immer mehr unter Wasser…



Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, wie man mit dem häufigen Vorschlag „Porno“ umgehen kann: Man zeigt nicht den Porno an sich, sondern den Umgang damit. Den Porno-Darsteller, die Konsumenten, das Business.
Die Skepsis gegenüber den Publikums-Vorschlägen kann so weit gehen, dass manche Vorschläge abgelehnt werden, weil man dem Publikum a priori üble Absichten unterstellt.
In einer Show, die ich mit einem Impro-Kollegen besuchte, bat einer der Improvisierer um ein Musik-Genre für seinen nächsten Song. Da wir nicht schon wieder Reggae oder Heavy Metal (die häufigsten Genre-Musikvorschläge) hören wollten, schlug der Freund „Marsch“ vor, was zwar ein eingestaubtes, aber für Improvisierer leicht zu handhabendes Genre bietet. Zwischen Militär- und Trauermarsch entfaltet sich ein recht großer Kosmos. Was tat der Improspieler? Mit einer kurzen Nazi-Assoziation tat er den Vorschlag als dumm und geschmacklos ab. An dieses Gefühl des Von-der-Bühne-Abgekanzelt-Werdens versuche ich mich zu erinnern, sobald ich mich gezwungen sehe, einen Vorschlag abzuweisen.
Man umarme also die Vorschläge wie die Angebote eines Mitspielers und versuche sich mental darauf einzustellen, so wenig wie möglich abzulehnen.
Hier sind Situationen, in denen ich Ablehnungen prinzipiell OK finde:
1. Vorschläge, die an der Kategorie, die man erfragt, völlig vorbeigehen. Wenn wir zum Beispiel nach einer Emotion für die nächste Szene fragen und ein Zuschauer ruft: „Darth Vader!“, so ist es recht offensichtlich, dass die betreffende Person nicht zugehört hat, sondern einfach nur ihren Begriff loswerden wollte.
2. Vorschläge, die die Grenzen des guten Geschmacks extrem überschreiten.
Das hat auch fast immer mit der Form zu tun. Während man in einigen Langformen gewiss auch harte Themen wie Krieg, Aids oder häusliche Gewalt ansprechen kann, so sind sie doch für äußerst gag-lastige Games wie Armrede oder Switch/Change ungeeignet.
3. Vorschläge, die niemanden auch nur ansatzweise inspirieren.
Wenn jemand das bereits erwähnte Buxtehude nennt, aber keiner der Schauspieler noch irgendjemand im Publikum einschließlich des Zurufers kann etwas über Buxtehude sagen,  dann suche man einen anderen Vorschlag.
4. Wiederholungen.
Wenn man für ein kurzes Game in zwei aufeinanderfolgenden Wochen den Schauplatz „Küche“ bekommt, ist das kein Problem. Aber man will wohl kaum zwei Mal hintereinander einen Harold zum Thema „Karussell“ spielen.

Ungeschicktes Erfragen von Vorschlägen

„Ich hätte gerne eine Beziehung!“
„Ich auch.“

Was sonst soll der arme Single-Zuschauer denken? Wir Improvisierer denken in Impro-Kategorien und benutzen Impro-Jargon. Zuschauer erleben dieselbe Show, sehen sie aber durch eine andere Brille. Für uns geht es darum, inspiriert zu werden. Zuschauer aber wissen nicht, was uns hilft und was nicht. Wie wir schon gesehen haben, suchen sie entweder nach der unterhaltsamsten bzw. lustigsten Idee oder nehmen das, was ihnen als erstes durch den Kopf schießt, was dann auf Prototypen hinausläuft.

„Wer ist diese Person?“
„Angela Merkel.“

Wenn man die Frage so stellt, kann man sich dieser Antwort sehr sicher sein (bzw. des prominentesten Politikers, über den das aktuelle politische Kabarett gerade seine Scherze treibt). Für uns als Improvisierer ist dieser Vorschlag spätestens nachdem wir ihn zum dritten Mal gehört haben, völlig wertlos, aber das wissen die Zuschauer nicht, denen täglich in Kabarett-Shows suggeriert wird, Politiker zu verspotten sei die Königsdisziplin der Comedy. Mit anderen Worten: Wer „Merkel“ einruft, will helfen. Wenn wir also Vorschläge hören wollen, die auf soziale Rollen wie Hausbesetzer, Geliebte, Ärztin, Kunde im Matratzenladen, hinauslaufen, müssen wir anders fragen:

Wie sind die Wohnverhältnisse dieser Person?
In welcher Beziehung lebt diese Person?
Was arbeitet sie?
Wo befindet sich diese Person und was macht sie dort?

Manche Fragen laufen immer wieder auf dieselben Klischees hinaus, da sie der Semantik-Psychologie einen Streich spielen. Hier ein typisches Beispiel: Für eine improvisierte Figur, besonders wenn sie die Protagonistin der Szene ist, ist es gut, ein Ziel oder einen Traum zu haben, um die Story voranzutreiben. Warum also nicht den Traum des Helden erfragen!
„Welchen Traum könnte ein Mensch haben?“
„Fliegen.“
Die Antwort ist so bescheuert wie unvermeidlich. In der Frage steckt die zum Klischee geronnene Formulierung „Traum der Menschheit“, auf die man unweigerlich „Fliegen“ assoziiert. Aber in Zeiten, in denen ein Flugticket billiger als eine Monatskarte im Öffentlichen Personennahverkehr ist und praktisch jeder Erwachsene schon die Erfahrung zu fliegen gemacht hat, ist so ein Vorschlag eigentlich ziemlich absurd. Hier würde ich auch zur Biografisierung oder Personalisierung raten:

„Ich bitte Sie, an eine Freundin oder einen Verwandten zu denken. Gibt es im Leben dieser Person eine große Sehnsucht?“

Hört euch zu, wenn ihr mit dem Publikum kommuniziert. Wie verstehen die Zuschauer unsere Fragen. Bleibt klar, einfach und offensichtlich. Wenn man sich neue Fragen für Inspirationen überlegt und darauf mehrmals hintereinander unbefriedigende oder immergleiche Antworten bekommt, klopfe man die Fragen darauf ab, wie sie ein unbefangener Zuschauer versteht und welche Assoziationen sie wecken.
Noch ein Beispiel für personalisiertes, aber dennoch ungeschicktes Fragen:

Wo waren Sie heute Mittag um 13 Uhr?

Man bekommt auf eine solche Frage fast immer dieselben Antworten:
Im Büro.
In der Uni.
Am Mittagstisch.
Zuhause.
Man erinnert sich an bestimmte Dinge eben eher grob. Man weiß noch, dass man im Büro war. Aber ob man gerade auf dem Raucherbalkon, am Schreibtisch, im Meeting oder in der Kaffeeküche war, weiß man eigentlich nicht genau. Man weiß, dass man auf dem Weg zur Arbeit war, aber ob man gerade sich einen Kaffee zum Mitnehmen holte, die Straße überquerte oder im Bus saß, hat man schon vergessen, bzw. die Zeit zum Überlegen genügt in der Show Situation nicht.

Gute Presse, böse Presse

Bei der Lektüre einer Impro-Rezension erfährt man als interessierter Impro-Konsument so gut wie gar nichts. Diese Reportagen sind inzwischen zum Sub-Genre des Bratwurstjournalismus verkommen.
„Da blieb kein Auge trocken…“
„Ein Abend, der den Gäste noch lange in den Köpfen bleiben wird…“
„Die Vorschläge aus dem Publikum nehmen kein Ende.“
Inhaltlich gehen Rezensionen so gut wie nie über das hinaus, was die Zuschauer als Vorschläge einrufen: Eine Romanze zwischen Pfarrer und Transvestit. Eine Eifersuchtsszene beim Zahnarzt! Eine chinesische Oper! Ein Krimi im Großhirn!“
Der Impro-Rezensionist berichtet, dass improvisiert wird, niemals übers Wie. Dann weiß der Leser, dass es dieses Theater gibt, und dabei bleibt’s.
In Berlin haben wir die kuriose Situation, dass sich hier inzwischen 40-50 Improtheater etabliert haben, darunter ungefähr sieben, die man zu den Profis rechnen kann. Ausführliche Rezensionen gibt es so gut wie keine. Für ein paar Jahre berichtete die zitty fleißig über das von Gorillas veranstaltete Festival – in geradezu vorhersagbar gleichen Worten.
Hier und da mal eine klitzekleine Ankündigung, wenn es ein größeres Ereignis gibt, wie vor einigen Jahren die Impro-Liga. Aber auch hier keine qualifizierten Berichte.
Dabei gäbe es viel zu berichten – Experimentelles, neue Schauspieler, Impro-Genies und jämmerliches Scheitern. Künstlerische Größe und Warnungen vor Trash. Qualifizierte Kritik eben. Aber so wunderbar Theaterjournalisten über Tanzprojekte schreiben können, ein Auge für Theaterimprovisation haben sie offenbar nicht.
Der Community bleibt nichts anderes übrig als qualifizierte Nabelschau, wie wir sie bei Impro-News praktizieren müssen. Und wenn Kollegen einander rezensieren, dann bleibt’s bei Lobhudelei oder Nestbeschmutzung.

Impro-Rezensenten wo seid ihr?

„Witzige“ Vorschläge

Intelligentes Fragen eliminiert auch „lustige“ und obszöne Vorschläge. Wenn wir auf die Frage nach einem Ort nicht „Paris“ hören, ruft nämlich mit großer Regelmäßigkeit ein Witzbold „Buxtehude“ oder „Castrop-Rauxel“ rein – zwei Orte, die, ich geb’s ja zu, im Deutschen wirklich ulkig klingen, aber die für niemanden, der nicht zufällig dort wohnt, Assoziationsräume schafft. Und auch unser „Klempner“ ist sowohl Prototyp als auch „lustig“ gemeint. (Der Zuschauer erhofft sich irgendeine peinliche Klo-Szene.)
Viele Improvisierer hassen solche Hans-Lustig-Zuschauer, und ich kann den Impuls der Abneigung auch ein kleines bisschen verstehen: Oft sind diese Witzel-Heinis etwas lauter, etwas gröber und wollen sich als originell gegenüber ihren Freunden präsentieren. Oder sollten das nur Bilder sein, die wir auf diese Zuschauer projizieren? Ein laut gerufenes „Bahnhofsklo!“ klingt einfach dreister als das gleich laut gerufene Wort „Hotel-Lobby!“ Es hilft, sich vorzustellen, dass die Zuschauer uns helfen wollen. Die Zuschauer sind keine Impro-Profis. Sie wissen nicht, welche Art von Vorschlägen uns inspirieren. Sie sind medial abgefüttert mit (meist schlechter) Comedy. Also ist es unsere Verantwortung, so zu fragen, dass wir Vorschläge bekommen, die uns inspirieren.
In eine ähnliche Kategorie fallen auch obszöne oder vulgäre Vorschläge: Dildo, Porno, Mundgeruch, usw. Ich halte es für verkehrt, solche Vorschläge rundweg mit der Annahme abzutun, die betreffenden Zuschauer seien vulgär oder obszön. In den allermeisten Fällen fordern die Spieler solche Vorschläge regelrecht heraus, wenn auch unbewusst. Wenn die Show bereits mit dem Versprechen anmoderiert wird: „Egal was ihr uns hereinruft, wir machen eine Szene draus“, dann wird das Publikum entsprechend konditioniert, sich wirklich schwere Vorschläge auszudenken. Der Hintergedanke ist: Schaffen die das wirklich?
Ähnlich ist es, wenn man die Zuschauer nach dem Alter einer Figur fragt: Sie gehen in die Extreme. Vier Jahre oder neunzig. Nicht dass man mit solchen sehr jungen oder alten Figuren keine Szene spielen könnte, aber als Hauptfiguren lassen sie sich nur sehr schwer behandeln, da sie entweder zu wenig Herr ihrer Umstände sind oder nichts mehr zu verlieren haben.
Wenn einem die Art der Vorschläge egal ist, dann sind diese Ausführungen irrelevant. Will man aber den Zuschauern wirklich etwas mitgeben, lohnt es sich, sanft ihre Wünsche zu entdecken.
Hat man einen hohen Anteil an Stammzuschauern, so kann es auch gelingen, auf lange Sicht das Publikum zu „erziehen“. Wenn sie nämlich merken, dass aus jedem Vorschlag etwas Schönes gemacht wird und Obszönität nicht gerade zum Unterhaltungswert der Show beiträgt, dann reduzieren sich solche Vorschläge mit der Zeit.
Eines der stärksten Mittel, den Schrott-Anteil zu mindern, ist, die Zuschauer direkt und einzeln zu befragen, zum Beispiel indem man sie bittet, sich zu melden, wenn sie etwas vorschlagen wollen. Wer einzeln und direkt gefragt wird, ist auch direkter für seinen Vorschlag verantwortlich als der, der sich im Mob verstecken kann. Sieht man mehrere Wortmeldungen, kann man auch anhand der Körpersprache und anderer äußerer Merkmale aussortieren:
Keine betrunkenen oder kichernden Zuschauer fragen.
Die Alphamännchen in Gruppen ignorieren.
Die letzte Reihe meiden.
Frauen bevorzugen.
Bekommt man dennoch einen „witzigen“ Vorschlag, hilft es, ihn genau als das zu nehmen – als Witz. Man lächelt freundlich darüber, wie über einen Insider-Gag und geht zu einem anderen Zuschauer über.

Mittel gegen häufige Vorschläge – Fragen personalisieren

Wenn wir die Zuschauer nach Vorschlägen fragen, wollen wir natürlich am liebsten Dinge hören, die wir vorher noch nicht zu hören bekamen, die unsere Assoziationskanäle öffnen, kurz – die uns inspirieren!
Stattdessen hört man aber im Improtheater immer wieder dieselben Vorschläge.
„An welchem Ort soll die Szene spielen?“ – „Paris!“
„In welcher Beziehung stehen diese beiden zueinander?“ – „Geschwister!“
„Nennen Sie mir einen Beruf!“ – „Klempner!“
Vorschläge dieser Art werden eingerufen, wenn
1. die Zuschauer dazu aufgefordert werden, rasch das zu sagen, was ihnen als erstes durch den Kopf geht und
2. die Fragen so gestellt werden wie oben.
Vorschläge wie Paris und Klempner sind im Grunde Prototypen für das, was wir erfragen.  Paris ist einfach der Ort, der den meisten als hoch assoziative Stadt als erstes einfällt (und ist übrigens auch im englischen Sprachraum die geographische Ortsvorgabe Nummer Eins).
Fragt man nach „Berufen“, hört man als Antwort fast immer Handwerksbezeichnungen. Auch wenn es inzwischen in Deutschland wahrscheinlich wesentlich mehr Informatiker als Klempner gibt, hängen die alten Berufsbezeichnungen tief in unserem kollektiven Bewusstsein fest, abgesehen davon, dass der Durchschnittszuschauer meist einen Installateur meint, wenn er von Klempner spricht.
Die regelmäßige Antwort „Geschwister“ erklärt sich dadurch, dass zwei Schauspieler, die mit der gleichen Haltung auf der Bühne stehen, eine Art Ähnlichkeit suggerieren, wie man sie eben von Geschwistern kennt. (Oft hört man auch „Zwillinge!“)
Wie lösen wir nun dieses Problem?
Da wir die Zuschauer ja auch nicht ewig grübeln lassen wollen oder ausgesprochen „originelle“ Vorschläge brauchen, hilft es auch nichts, ihnen zu sagen, sie sollen uns mit etwas „besonders Schönem“ inspirieren. Vielmehr sollten wir uns fragen:
Was wollen wir wirklich vom Publikum hören?
Wenn wir uns darüber vor der Show Gedanken machen, so werden wir nämlich sehen, dass uns Städtenamen in der Regel so gut wie gar nichts bringen, da wir ja eigentlich einen Schauplatz für die Szene brauchen.  Die einfachste Lösung besteht also darin, genau das zu fragen: „An was für einem Schauplatz soll diese Szene spielen?“
Wenn man die berufliche Tätigkeit (oder die beruflichen Ziele) einer Figur erfragen will, hilft es, sich die Realität zunutze zu machen: Man kann die Zuschauer nach ihrer Tätigkeit fragen. Aber auch das kann einengen: Erstens scheuen sich viele Zuschauer, ihre berufliche Tätigkeit oder ihre Studienrichtung zu nennen, weil sie fürchten, veralbert zu werden oder weil sie ihre Tätigkeit (im Vergleich zum aufregenden Leben eines Impro-Schauspielers) für langweilig halten. Und zweitens kann das wiederum einengen, wenn das Publikum eher homogen ist.
Ich rate daher dazu, bei Vorschlägen, die eine Figur ausstatten sollen, einen kleinen Umweg zu gehen. Man fordert das Publikum kollektiv auf: „Denken Sie an eine Freundin oder einen Verwandten.“ Nachdem man zwei Sekunden gewartet hat, kann man verschiedene Zuschauer einzeln fragen:
Wie heißt Ihre Person mit Vornamen?
Und Ihre mit Nachnamen?
Wie alt ist die Person, an die Sie gedacht haben?
Was arbeitet, lernt oder studiert sie?
Was macht sie liebenswert?
Ist sie liiert?
Hat sie Kinder?
usw.
Eventuelle Ungereimtheiten lassen sich ausgleichen: Wenn die Person 52 Jahre alt ist und die nächste Zuschauerin antwortet: „Meine Freundin studiert Veterinärmedizin“, dann ist unsere Figur eben schon Veterinärmedizinerin.
Die Frage nach Schauplätzen lässt sich auf ähnliche Weise personalisieren:
Wenn Sie an Ihre Jugend denken: An welchem Ort in ihrer Stadt hielten Sie sich gerne auf?
Wo lesen Sie gern?
Hatten Sie als Kind ein Versteck?
Ebenso für Gegenstände:
Liegt etwas im Kofferraum Ihres Autos, was nicht dahin gehört?
Haben Sie in der letzten Zeit etwas bei Ebay verkauft?
Für Überschriften:
Wie heißt der Titel des Stücks, das sie als letztes auf ihrem Musik-Player gehört haben?
Für Dialogzeilen:
Schlagen Sie eine zufällige Seite Ihres Romans auf und lesen Sie den ersten Satz in wörtlicher Rede laut vor.
Die Vorschläge, die man auf diese Weise erhält, sind dreidimensional und wirken weniger „ausgedacht“.
Bleibt zu klären: Wie gehen wir mit dem Problem um, dass wir für „Beziehung zwischen zwei Personen“ häufig „Geschwister“ hören? Auch das können wir personalisieren: „Denken Sie bitte an eine Person, die Sie persönlich kennen. (kurze Pause) In welcher Beziehung stehen sie zu ihr?“
Ich halte dieses persönliche Fragen überdies auch für eine gute Klammer zum Publikum. Wenn ein Vorschlag, der aus der persönlichen Erfahrungswelt kommt, auf der Bühne umgesetzt wird, entsteht eine Doppelbindung zum Publikum.

Gutes Scheitern, ungutes Scheitern

Man kann schön und unschön scheitern .
Schön, wenn man voller Hingabe Risiken eingeht, das Engagement sichtbar wird.
Unschön, wenn sich ein Gefühl der Trägheit, der Leere, der Vorsicht auf der Bühne ausbreitet.
Letzte Woche ein künstlerisch anspruchsvolles Genre über einen ganzen Abend gemeistert. Diese Woche mit zwei Langform-Standards, die wir seit Jahren spielen gescheitert. Die Jonglier-Bälle der Improvisation sind uns nicht bei einer atemberaubenden Nummer zu Boden gefallen, wir haben sie nicht einmal hochgeworfen, da kullerten sie uns schon aus der Hand. Vielleicht stellt sich nach enormem Erfolg auch ein Gefühl der Nachlässigkeit ein: Wir können’s ja. Auf einmal ist man weniger engagiert, und missachtet sogar die Grundlagen der Kunst.
Da ist das heitere Scheitern nicht leicht. Nicht die Schuld beim Publikum suchen, nicht bei den Mitspielern. Was hätte ich tun können, um die Show zu retten!
Durchatmen, lächeln, toitoitoi fürs nächste Mal.

Formen üben

Formales Training in der Kunst erhöht die Menge der Optionen. Die Forderung „Sei offensichtlich!“ (Johnstone) kann ja auch irgendwann langweilig werden. Je mehr eigene Offensichtlichkeit wir uns ermöglichen, umso eher haben wir die Chance, überraschend und dennoch organisch zu sein.

Warum man es dem Publikum zumuten kann, ohne Vorschläge zu spielen

Improvisation entsteht aus dem Moment heraus. Und wenn wir diesen Moment erfassen, den Moment des Spiels, den Impuls der gemeinsamen Kreativität, wenn wir ungehinderten Zugriff auf unsere Assoziationskanäle zulassen und uns von unseren Partnern und unseren eigenen Gedanken überraschen lassen, dann brauchen wir tatsächlich keine Vorschläge aus dem Publikum, um improvisieren zu können. Um das klar zu sehen, brauchen wir nur einen Blick auf die improvisierte Musik zu werfen: Zwar finden sich auch dort inzwischen Musiker, die sich von Vorschlägen des Publikums inspirieren lassen, aber die große Geschichte der Impromusik des 20. Jahrhunderts, nämlich des Jazz, kam ohne Publikumsvorgaben aus.
Es gibt manchmal den Einwand von Improspielern, erst die Vorgaben würden „beweisen“, dass wir wirklich improvisieren. Das tun sie aber nicht. Ich habe bemerkt, dass Zuschauer, gerade wenn man das betont, skeptisch werden und (ähnlich wie bei Zauberkunststücken) nach den Tricks suchen. Die Skeptiker im Publikum muss man anders von sich überzeugen, und zwar am besten dadurch, dass man die Improvisation weniger als Sensation hervorhebt, sondern den Fokus des Publikums mehr auf den Prozess des Improvisierens bzw. auf die Inhalte lenkt. Vielleicht muss man sich auch damit abfinden, dass es immer eine Handvoll Skeptiker geben wird.
Nach einer Show, in der wir mit meiner ersten Impro-Gruppe Paula P. eine ziemlich gelungene, mehrstimmige Oper improvisierten, sprach uns nach der Show eine Skeptikerin an: „Ich wusste, dass ihr nicht alles improvisiert.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na, ihr kanntet ja den Text und die Melodie der Oper.“

*

Nachdem wir mit Foxy Freestyle ein komplettes Stück ohne Unterbrechung anhand von fünf Publikumsvorgaben im Stil von Tennessee Williams improvisierten, lasen wir anschließend in einem Online-Kommentar zu unserer Show: „Das war ein außergewöhnlich schönes Stück, aber leider nicht improvisiert. Denn wenn das improvisiert gewesen wäre, müssten ja die Schauspieler Genies sein.“

Abgesehen von der angenehmen Schmeichelei, wurde mir hier klar: Die Perspektive des Zuschauers ist durch Sehgewohnheiten verdorben worden. Wir werden Zuschauer wie diesen nicht überzeugen können, es sei denn, wir appellieren kurz an ihr Vertrauen  oder wir arbeiten als Impro-Community hart und langfristig daran, das Vertrauen des Publikums in die Improvisation herzustellen. Aber man sieht auch in einzelnen Gruppen, dass sich eine Improgruppe auch ihr Publikum „erziehen“ kann, wenn sie denn hartnäckig und mit hoher Qualität Improvisationstheater bietet, das ohne Vorschläge auskommt.
Zum Argument, die Vorschläge würden erst die wahre Verbindung zum Publikum herstellen, ist noch anzumerken: In der Tat schlagen die eingebauten Vorgaben und inspirierenden Vorschläge eine Brücke zum Publikum, aber nicht die einzige. Man überlege selbst: Was begeistert mich als Zuschauer mehr – eine runde, elegante Szene, in der der Flow der Spieler sichtbar wurde? Oder die schiere Tatsache, dass eine Handvoll Vorschläge eingebaut wurden? Außerdem muss man noch bedenken, dass es am Ende ja doch nur relativ wenige Einzel-Zuschauer sind, deren Vorschläge eingebaut werden. Und die Freude dieser Zuschauer ist nicht zu unterschätzen. Aber die Freude des restlichen Publikums, die Umsetzung eines fremden Vorschlags zu sehen, darf man eben auch nicht überschätzen.

Was für die Verwendung von Publikums-Vorschlägen spricht

Es gibt eine größere Debatte darum, ob wir überhaupt Publikumsvorschläge brauchen. Ich habe hier schon öfters eine Lanze dafür gebrochen, auch in Deutschland häufiger das Improvisieren ohne Vorschläge zuzulassen. (Mir ist zurzeit kein Ensemble bekannt, dass das regelmäßig machen würde.)
Hier nun aber ein paar Gründe, die für die Verwendung von Publikums-Vorschlägen sprechen.

  1. Vorschläge führen uns aus der Komfortzone.
    Wenn man viele Jahre improvisiert, stellen sich unweigerlich Muster ein – man etabliert ähnliche Handlungen in ähnlichen Konstellationen an ähnlichen Orten mit ähnlichen Konflikten. Vorschläge aus dem Publikum können einen im positiven Sinne irritieren und zwingen, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen. (Das setzt eine kluge Fragetechnik voraus, damit nicht die immergleichen Vorschläge zu hören sind.) Die Auseinandersetzung mit neuem Material zwingt Künstler zu neuen Lösungen, und uns Improvisierer hält das auf der Bühne frisch.
  2. Zeitersparnis in Kurzformen
    In einer Szene, die nur wenige Minuten dauern soll, erspart man sich die Zeit, sämtliche Plattform-Elemente nach und nach gemeinsam zu etablieren. Wenn ich hingegen weiß, dass wir Mutter und Vater sind, die im Garten den Kindergeburtstag vorbereiten, können wir sofort zum Kern der Szene kommen.
  3. Verbindung zum Publikum
    Das Verwenden von Vorschlägen ist zwar längst nicht das einzige Mittel, um eine Verbindung zum Publikum herzustellen. Aber die Verbindung wird verstärkt, wenn die Vorschläge aufgenommen und kreativ verarbeitet werden. Wir improvisieren dann nicht mehr nur für das Publikum, sondern auch mit dem Publikum. Die Verbindung wird noch verstärkt, wenn es um mehr als „Vorgaben“ geht. Denn wenn wir das Publikum nach Vorgaben fragen, wird es versuchen, „originell“ zu antworten. (Heraus kommen dabei Szenen wie „Eine Oper, in der ein Yeti in der Sauna von einem Pinguin rasiert wird“.) Das mag zwar im Einzelnen ganz hübsch sein, aber bleibt letztlich belanglos. Vorschläge, die auf das Persönliche zielen, haben das Potential, die Storys emotionaler werden zu lassen, da sie dem einzelnen Zuschauer mehr bedeuten und das gesamte Publikum weiß, dass das so ist. Die Vorschläge schlingen also ein einmaliges Band um Publikum und Improvisierer. Es ist, als sei man eine verschworene Gemeinschaft, als sei das alles ein riesiger Insider-Witz.

Backstage – Nach der Show ist vor der Show

(Ergänzung: Diese Gedanken habe ich bearbeitet und weiter ausgeführt im Buch „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management


Feiert euch! Egal ob du persönlich mit dem Ergebnis zufrieden warst, egal ob die Reaktion des Publikums verhalten oder begeistert war: Ihr habt Großes vollbracht. Aus dem Nichts habt ihr eine komplette Show auf die Beine gestellt.
Bedankt euch bei euren Mitspielern, so wie ihr euch zu Beginn „Toi toi toi!“ gewünscht habt.
Der Übergang von „Nach-der-Show“ in den Alltag sollte genauso geehrt und zelebriert werden wie das Ankommen. Statt also sofort wieder aus dem Backstage zu rennen, sich ein Bier zu schnappen und sich vom Publikum feiern zu lassen, sollte man der Show noch für einen kleinen Moment nachlauschen.
Unmittelbar nach der Show ist das Adrenalin oft noch hoch, die Eindrücke manchmal überwältigend und die Distanz zum Geschehen noch nicht groß genug, um eine gründliche Auswertung vorzunehmen. Ich plädiere allerdings sehr für ein kurzes Feedback.  Die Kunst besteht hier darin, das Positive überwiegen zu lassen, auch wenn es anstrengend war. Bedenkt die drei verschiedenen Perspektiven: Publikum, Mitspieler und Ich. Jeder hat die Show anders wahrgenommen. Selbst wenn wir glauben, an unseren künstlerischen Maßstäben gescheitert zu sein, könnte es dennoch sein, dass das Publikum sich zu Recht über die Show gefreut hat. Und umgekehrt: Selbst wenn ich mich wohlfühle, kann es sein, dass sich meine Mitspieler von mir im Stich gelassen fühlten. Auch wenn drei Zuschauer die Show verlassen haben, können wir uns freuen, in neue Impro-Sphären vorgestoßen zu sein.
Zügelt euren Ärger und das zeitliche Ausmaß des Feedbacks. Mehr als anderthalb Minuten pro Spieler muss es nicht dauern. Bei großen Gruppen sogar weniger.
Beendet die Feedback-Runde mit einem kleinen Ritual und geht dann den Weg zurück, den ihr gekommen seid: Kümmert euch um euer persönliches Wohl, zieht euch um, schminkt euch ab. Packt eure Requisiten und Kostüme weg. Schaut zu, ob Techniker oder andere Assistenten Hilfe brauchen.
Dreht euch um, bevor ihr das Backstage verlasst und hinterlasst es in präsentablem Zustand.