Improvisation entsteht aus dem Moment heraus. Und wenn wir diesen Moment erfassen, den Moment des Spiels, den Impuls der gemeinsamen Kreativität, wenn wir ungehinderten Zugriff auf unsere Assoziationskanäle zulassen und uns von unseren Partnern und unseren eigenen Gedanken überraschen lassen, dann brauchen wir tatsächlich keine Vorschläge aus dem Publikum, um improvisieren zu können. Um das klar zu sehen, brauchen wir nur einen Blick auf die improvisierte Musik zu werfen: Zwar finden sich auch dort inzwischen Musiker, die sich von Vorschlägen des Publikums inspirieren lassen, aber die große Geschichte der Impromusik des 20. Jahrhunderts, nämlich des Jazz, kam ohne Publikumsvorgaben aus.
Es gibt manchmal den Einwand von Improspielern, erst die Vorgaben würden „beweisen“, dass wir wirklich improvisieren. Das tun sie aber nicht. Ich habe bemerkt, dass Zuschauer, gerade wenn man das betont, skeptisch werden und (ähnlich wie bei Zauberkunststücken) nach den Tricks suchen. Die Skeptiker im Publikum muss man anders von sich überzeugen, und zwar am besten dadurch, dass man die Improvisation weniger als Sensation hervorhebt, sondern den Fokus des Publikums mehr auf den Prozess des Improvisierens bzw. auf die Inhalte lenkt. Vielleicht muss man sich auch damit abfinden, dass es immer eine Handvoll Skeptiker geben wird.
Nach einer Show, in der wir mit meiner ersten Impro-Gruppe Paula P. eine ziemlich gelungene, mehrstimmige Oper improvisierten, sprach uns nach der Show eine Skeptikerin an: „Ich wusste, dass ihr nicht alles improvisiert.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na, ihr kanntet ja den Text und die Melodie der Oper.“

*

Nachdem wir mit Foxy Freestyle ein komplettes Stück ohne Unterbrechung anhand von fünf Publikumsvorgaben im Stil von Tennessee Williams improvisierten, lasen wir anschließend in einem Online-Kommentar zu unserer Show: „Das war ein außergewöhnlich schönes Stück, aber leider nicht improvisiert. Denn wenn das improvisiert gewesen wäre, müssten ja die Schauspieler Genies sein.“

Abgesehen von der angenehmen Schmeichelei, wurde mir hier klar: Die Perspektive des Zuschauers ist durch Sehgewohnheiten verdorben worden. Wir werden Zuschauer wie diesen nicht überzeugen können, es sei denn, wir appellieren kurz an ihr Vertrauen  oder wir arbeiten als Impro-Community hart und langfristig daran, das Vertrauen des Publikums in die Improvisation herzustellen. Aber man sieht auch in einzelnen Gruppen, dass sich eine Improgruppe auch ihr Publikum „erziehen“ kann, wenn sie denn hartnäckig und mit hoher Qualität Improvisationstheater bietet, das ohne Vorschläge auskommt.
Zum Argument, die Vorschläge würden erst die wahre Verbindung zum Publikum herstellen, ist noch anzumerken: In der Tat schlagen die eingebauten Vorgaben und inspirierenden Vorschläge eine Brücke zum Publikum, aber nicht die einzige. Man überlege selbst: Was begeistert mich als Zuschauer mehr – eine runde, elegante Szene, in der der Flow der Spieler sichtbar wurde? Oder die schiere Tatsache, dass eine Handvoll Vorschläge eingebaut wurden? Außerdem muss man noch bedenken, dass es am Ende ja doch nur relativ wenige Einzel-Zuschauer sind, deren Vorschläge eingebaut werden. Und die Freude dieser Zuschauer ist nicht zu unterschätzen. Aber die Freude des restlichen Publikums, die Umsetzung eines fremden Vorschlags zu sehen, darf man eben auch nicht überschätzen.

Warum man es dem Publikum zumuten kann, ohne Vorschläge zu spielen
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2 Kommentare zu „Warum man es dem Publikum zumuten kann, ohne Vorschläge zu spielen

  • 2017-03-04 um 08:14 Uhr
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    Haha, das stimmt!! Wie oft war ich früher enttäuscht, wenn mein Vorschlag nicht genommen wurde, und dann war es mir fast egal, ob mit Vorgabe oder ohne 🙂

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  • 2017-03-07 um 08:54 Uhr
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    Was mich als Zuschauer unheimlich begeistert?
    Eine runde, elegante Szene, in der der Flow der Spieler sichtbar wurde UND eine Handvoll Vorschläge, welche sinnvoll & auf originelle Weise eingebaut wurden..

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