Don’t prepare?

Es gibt ein wunderschönes kleines Buch von Patricia Ryan Madson „Improv Wisdom“, das die Möglichkeiten beschreibt, Tugenden und Fähigkeiten aus dem Improtheater in den Alltag herüberzuretten.

Der Untertitel (und auch das zweite Kapitel) des Buchs lautet „Don’t prepare. Just Show Up“. Mit anderen Worten: Wir können uns derart in Planungen und Vorbereitungen für die große wichtige Sache verstricken, dass wir vielleicht das Eigentliche vergessen, nämlich dass erst einmal nur unsere Anwesenheit wichtig ist: Für die anderen und für uns selbst. Alles weitere kann improvisiert werden.
Aber je länger die Botschaften des Buchs sich in meinem Kopf sedimentiert haben, umso mehr denke ich, dass Madson hier das Kind mit dem Bade ausschüttet. Sie hat natürlich Recht – es gibt eine Paralyse der Vorbereitung, nicht nur im Alltag, auch im Improtheater: Szenen, die quasi ewig vorbereitet werden durch endlose Publikumsinteraktionen, Storys, die durch endlose Vorgeschichte unanschaubar werden, szenisches Ausweichen, Spieler, die vor der Show eine halbe Stunde überlegen, ob sie das grüne oder das weiße Hemd anziehen sollen, Gruppen, die in Panik geraten, wenn sie sich vor der Show nur fünfzehn statt fünfundvierzig Minuten aufwärmen können. Und wir kennen es auch aus dem Alltag: Frauen, die täglich eine halbe Stunde entscheidungsparalysiert vor dem Kleiderschrank stehen, gefangen in der Angst, für ihr Äußeres beurteilt zu werden, Freunde, die ihren Urlaub dermaßen mit Sightseeing verplanen, dass sie sich geistig für die eigentlichen schönen spontanen Überraschungen einer Reise blockieren.
ABER: Totales Unvorbereitetsein nervt ebenfalls. Wir brauchen ein gewisses Maß an Planung. Wer verpeilt zu Auftritten und Proben kommt, nervt nicht nur seine Mitspieler, sondern beraubt sich in vielerlei Hinsicht auch der eigenen Freude. Planung heißt nicht (und da gebe ich Madson wiederum Recht), dass jedes Detail festgelegt sein muss. Vielleicht ist es nicht so wichtig, welche Schuhe du anziehst, solange sie geputzt sind. Vielleicht ist es nicht so wichtig, vorher zu wissen, welcher Spieler heute die Show anmoderiert, aber sich im Klaren darüber zu sein, mit wem ich heute Abend auf der Bühne stehen werde und welche Art von Show wir spielen werden. Möglicherweise kann ich auch das nicht einmal wissen, weil ich gerade in einer fremden Stadt bin und von Improspielern, die ich nur über Facebook kenne, eingeladen worden bin, irgendeine Improshow mitzuspielen. Aber selbst dann sollte ich mich zumindest geistig und körperlich darauf einstellen: Stelle dich geistig auf die Show ein, statt dir per Handy die Zeit zu vertreiben.
Sei dir klar darüber, was man heute von dir erwartet, und sei dir vor allem darüber im Klaren, was du von dir selbst erwartest.

Die Wahrhaftigkeit unserer Hochstapelei (Peter Handke im Interview mit DIE ZEIT)

Handke: Ich mag keine Könner.
ZEIT: Woran erkennen Sie einen Könner?
Handke: Er weiß genau: in welchem Moment muss ich welche Wirkung erzielen?
ZEIT: Ein Könner ist ein Rechner?
Handke: Man kann nicht können in der Kunst! Früher hat man gesagt; Kunst kommt von Können. Aber Kunst kommt vom Lassen. Kunst bedeutet: das tun, was man nicht kann. (…)
ZEIT: Ist er [der Künstler] auch ein Hochstapler?
Handke: Ja. Man stapelt hoch, und im Hochstapeln erwischt man doch eine Wahrhaftigkeit. Schon sich hinzusetzen und zu sagen, ich schreib jetzt ein Theaterstück, ich schreib jetzt einen Scheißroman (…) ist eine Hochstapelei. Aber weil man der Gefangene der Hochstapelei ist, geht man in ihr weiter – und plötzlich entsteht aus der Hochstapelei eine Realität, die herrlicher ist als jede tägliche Realität.

Key Pankonin – Keynkampf

Key Pankonin war Sänger der Band Ichfunktion, eine Gruppe musikalischer Punk-Zauberer, die mich in den 90er Jahren in Form einer Kassette begleiteten, die ich der Band nach einem Konzert in Lichtenberg, bei dem nur sechs Gäste und davon zwei zahlende anwesend waren, abkaufte. Pankonins Stimme klang der Johnny Rottens ziemlich ähnlich, aber was die Band an harmonischen, rhythmischen und textlichen Überraschungen in die Lieder steckte, war für Punkrock sehr ungewöhnlich.
Ich ging später nicht mehr auf Punkkonzerte, und die Ichfunktion schien sich aufgelöst zu haben. Jedenfalls hörte ich nichts mehr von ihnen. Und jetzt fällt mir das Buch, dass Sänger und Dichter Key Pankonin 1993 geschrieben hat, in die Hände: Eine Art biografischer Roman, der zwischen banalen Tagebuchnotizen, genialen Beobachtungen und surrealistischen Fragmenten trudelt. Manchmal nähert er sich gefährlich dem Punk-Hausbesetzer-Duktus, um im letzten Moment (ähnlich wie in seinen Songs) noch die Kurve zu kriegen und den eigenen Ton einzusetzen.
Tief tauchen wir ein in die hoffnungsvoll-wüste Szenerie des Spät-DDR-Punkrocks. Die Firma, Feeling B, Freygang. Teilweise sind die Namen der Protagonisten leicht chiffriert. Für den Kenner dann aber doch leicht zu entschlüsseln: Der König ist André Greiner-Pol, der Schänder ist Trötsch, die Zauberin Tatjana Besson, und Flake ist eben der Feeling B- (und jetzige Rammstein-)Flake.
Für die anarchisch-erschütternden Situationen findet er seltsame Formulierungen. So, als er die ungeheuer vermüllte Wohnung des „Schänders“ beschreibt, in der der Müll in eine Badewanne auf dem Balkon geschmissen wird: „Die hauptamtliche Lichtquelle in diesem Zimmer war ein uralter Ostfernseher, von dem der Schänder behauptete, er hätte ihn mit einem Popel repariert.“
Einem seiner Mädchen, die er „FF“ nennt, spielt er eine erste Version des Hits „Europa“ vor:
„Sie ist schön diese heile Welt
keimfrei, hygienisch, gesund
alles blitz und alles ist sauber
was noch stinkt, wird übertüncht
sieh her, Mutter Erde, jetzt wirst du gelyncht“
In der Endphase der DDR gab es Nischen, in denen man die scheinbar totale Freiheit auskosten konnte. Wer damals den Film „Flüstern und Schreien“ sah, weiß, was ich meine: Da sagte Flake doch tatsächlich, dass er nicht arbeiten gehe, sondern vom Verkauf von Armbändern lebe. Feeling B baute einfach am Ostseestrand eine Bühne auf und spielte drauf los. Als Fun-Punk-Band testeten sie erfolgreich aus, was möglich war. Und in die so geschaffenen Nischen nutzten die eher politischen Bands. Wobei Bands wie Die Firma (hatte bei dem Namen wirklich niemand die Dekonspiration geahnt?) und die Ichfunktion textlich zwar radikal, aber doch noch einigermaßen duldbar waren.
Der Nihilismus des Punk-Denkens stößt aber auch bei Pankonin irgendwann an seine Grenzen. Kann man zum Beispiel von der Welt angekotzt sein und trotzdem mit Freude Musik machen? (Bei Aljoscha war es im Grunde genau andersrum: Sein überbordender Hedonismus, das Auskosten der Freiheit, das Bis-ins-Extreme gehen, machten dann Konzerte mit Feeling B irgendwann unhörbar, da Aljoscha praktisch dauerbesoffen war. Und am Ende in einem Bauwagen krepierte.) Das Fehlen der positiven Vision und der gefräßige Zynismus nehmen irre Züge an. Pankonin läuft andauernd mit einer Gaspistole herum. Immer wieder Tierquälerei: Die Eimer-Besetzer werfen ein lebendes Schwein vom Dach, ein Meerschwein vergammelt in Trötschs Müll-Wanne, ein humpelndes Huhn muss in Pankonins Bett schlafen.
Der Ichfunktion geht es nach der Wende schließlich wie den meisten Bands (nicht nur Punk-Bands): Sie verlieren ihr Bezugssystem und ihr Publikum. Für Pankonin, der, wie er zugibt, gar nicht so rebellisch ist, bleiben seltsame Jobs: Kinderbeschäftigung im Schülerfreizeitzentrum. Und auf einmal spürt er, wie es da etwas gibt, was ihn jenseits des Aufbegehrens, der lauten Gitarre, des Bühnen-Exzesses fasziniert: Mit ein paar Kindern Giraffen und Blumen zu malen. Der Selbstmord kann verschoben werden.
Es folgen leider eine Menge Seiten halbwegs uninspirierter Notizen und banal-philosophischen Gelabers, bis er wieder zur Hochform auffährt. Nachdem er von einem Überfall auf Musikerkollegen erfährt, regt sich das Bedürfnis nach Rache in ihm. „Rache aber ist Hass, und Hass ist der Körper der aufgewachten Beschissenheit.“
Man liest in Pankonins Buch wie im Notizbuch eines äußerst sensiblen Künstlers. Ihm hat er alles anvertraut: Seine Inspirationen, seine Ekstasen, seine Niederlagen, seinen künstlerischen Leerlauf, seine Zärtlichkeit. Gut, dass es geschrieben wurde.

Mach dich sichtbar… Und dann?

In David Zweigs Buch „Invisibles. The Power Of Anonymous Work In An Age Of Self Promotion“ werden diejenigen geehrt, die ihre Arbeit unsichtbar ausüben, oder noch deutlicher gesagt: deren Existenz uns erst dann ins Gedächtnis gerufen wird, wenn sie ihre Arbeit schlecht gemacht haben: Der Klavierstimmer, der Anästhesist, ein Dolmetscher bei der UNO.
Als Schauspieler und Theatermacher gehören wir natürlich nicht zu dieser Sorte. Aber wir können vielleicht von ihnen lernen. Der Unsichtbare beschäftigt sich mit dem Wesentlichen, dem Kern der Dinge, während wir uns allzu leicht in der Selbstdarstellung verlieren können. Nicht nur in Form von Werbung für die eigene Show, Promo für Improtheater als solches und so weiter, sondern auch für unser Verhalten auf der Bühne. Haben wir etwas zu sagen? Nutzen wir Improvisation? Oder geht es nur darum, unsere Fertigkeiten als Improvisierer zu demonstrieren. Oder wie Oliver Burkeman es ausdrückte: „Sicherlich ist das Leben als Unsichtbarer nicht für jeden geeignet. Aber wenn man sich zu sehr auf das Gegenteil konzentriert, nämlich sich sichtbar zu machen, dann könnte es sein, dass man eines Tages feststellt, dass man nur aus Sichtbarkeit besteht und nichts hat, was wert wäre, gesehen zu werden.

Hier geht es zur äußerst lesenswerten Rezension des Buchs von Oliver Burkeman.