Warum wir Johnstone auch heute brauchen

Warum wir Johnstone auch heute brauchen

Keith Johnstones Buch „Improvisation und Theater“ beginnt mit Johnstones Beschreibung der eigenen einengenden Erfahrung als Schüler im England der 50er Jahre. Engstirnige Pädagoginnen versuchten, die Kinder zu Stromlinienförmigkeit zu erziehen. Die Lehrerinnen wussten, wie man ein Bild zu malen oder eine Geschichte zu erzählen hatte. Bestimmte Themen und Wörter durften nicht benutzt werden oder galten als obszön. Dieser ungeheure englische Konservatismus, diese Furcht vor der Freiheit begleitete Johnstone bis in seine Erwachsenen-Jahre, als Theaterstücke noch vom Zensor abgenickt werden mussten. Das Format „Theatersport“ hat unter anderem hier seinen Ursprung: Es war ja nur ein öffentliches Training, behauptete man augenzwinkernd, kein wirkliches Theater.

Für Johnstone war Improtheater auch immer ein Mittel der Befreiung. Der Befreiung des Geistes und der Befreiung der Gesellschaft. Jeder, der über Johnstone oder die Johnstonesche Schule zum Improtheater gekommen ist, hat dieses Gefühl der Befreiung empfunden.

Mehr als andere „Schulen“ des Improtheaters betonte Johnstone die Unvorhersehbarkeit. Er war ein Freund des Risikos. Improtheater, das mit Absicherungen arbeitete (zum Beispiel durchstrukturierte Langformen oder zu gut gespielte Games) waren ihm ein Gräuel. Und diese anarchistische Schlagseite von Keith Johnstone liebe ich am meisten an ihm. Fortgeschrittene und Profi-Improvisierer rümpfen bei Impro-Games manchmal die Nase. So als sei alles, was nicht dem elaborierten Storytelling diene, etwas niederes. Sie sind dermaßen mit ihren Formaten beschäftigt, dass sie das Aufregende von Improtheater – die Unvorhersehbarkeit, das Ungewollte, das Peinliche, das unbewusst entstehende Obszöne, das Groteske  – am liebsten ausschalten wollen.

Johnstone bestand sehr auf dem körperlichen Spiel: Wenn wir unseren Körpern die Regie überlassen, gewinnen wir einen Zugang zu unseren Emotionen und schrumpfen tendenziell unseren Zensor, unser Über-Ich. Es gelingt uns weniger, vorauszuplanen. Viele der Johnstone-Games sind auch so angelegt, dass sie die Spieler überfordern sollen. (Und sie funktionieren nicht mehr, wenn man sie beherrscht.)

Das erste Kapitel von Johnstones Buch wird gerne von den Lesern übersprungen, damit sie schnell zum „Eigentlichen“ vorstoßen. Aber auch heute gibt es engstirnige Pädagoginnen in den Schulen, die vorgeben wollen, was gute Kunst sei, die Schnappatmung kriegen, wenn sie böse Wörter hören, die genau wissen, wie eine Erzählung aufgebaut sein muss und welche Themen sie behandeln darf.

Johnstone hat auch jetzt immer noch seine Berechtigung. Wir sollten ihn genau lesen und nicht nur als Lieferant von Games und Status-Regeln sehen.