Unterbrechung als Option

Als ich begann, regelmäßig Improtheater zu spielen, stellte sich unsere Gruppe eines Tages die Frage: Was geschieht eigentlich, wenn eine Szene für einen von uns inhaltlich unerträglich wird – entweder weil man glaubt, dass den Inhalt dem Publikum nicht zumuten zu können oder weil man gerade selbst in bestimmten Lebensumständen ist, in der man etwa eine Szene über Krebs nicht spielen kann, ohne zu sehr aufgewühlt zu sein? Nachdem wir uns tagelang mit der Frage quälten, beschlossen wir, uns die Option zu erlauben, jederzeit auf die Bühne zu gehen und zu sagen: „Liebe Damen und Herren, an dieser Stelle gibt es eine kleine Pause von zirka zehn Minuten.“ In dieser Pause kann die Gruppe sich kurz die Schwierigkeiten des Einzelspielers austauschen und entscheiden, ob die Szene weitergespielt wird oder ob man gar ein neues Format beginnt.
Nach dieser Entscheidung fiel es mir leichter, mich unbefangen auch an heikle Themen zu wagen, da ich ja ab sofort einen Sicherheitsfallschirm bei mir trug. Ich habe von der Option der Unterbrechung bis heute nie Gebrauch gemacht.

Lesen durch Schreiben – der ideologiegetränkte Versuch, das Scheitern aus dem Klassenraum zu verbannen

„Ales gute zum Geboztak.“
Wenn man einen solchen Gruß vom Erstklässler bekommt, kann man das noch als süß verbuchen. Was aber, wenn Viert- und Fünftklässler so schreiben? Ich rede nicht von den drei bis vier Schülern pro Klasse mit Lernproblemen oder Legasthenie, sondern von der Mehrheit der Schüler, von denen sich einige bereits mit dem Gedanken anfreunden, das Gymnasium zu besuchen. Die Ursache ist in einer relativ neuen Lehr-Methode oder besser gesagt Lehr-Mode zu suchen. Sie heißt „Lesen durch Schreiben“ und hat in einigen Bundesländern und Schulen das „alte“ Fibel-System abgelöst. Schülern lernen nun nicht mehr Buchstabe für Buchstabe zu lesen und zu schreiben, sondern bilden anhand einer Anlaut-Tabelle Wörter und basteln sich so Wörter und Sätze zusammen. Korrigiert werden soll kaum oder gar nicht, damit das Kind nicht frustriert würde. Die Folge ist, dass das Kind an seinem zehnten „Geboztak“ immer noch nicht fehlerfrei einfache Sätze schreiben kann.
Der psychologisch-ideologische Hintergrund ist kaum verborgen: Kinder dürfte man nicht mit ihrem Scheitern konfrontieren, da sie sonst die Freude am Lernen verlören. Mit derselben Begründung wurden auch die Schulnoten in den unteren Klassen abgeschafft. (Ironischerweise schleichen sie sich durch Smiley-Stempel wieder durch die Hintertür ins Klassenzimmer ein.) Der Impuls dafür ist sicherlich für fast jeden nachvollziehbar, der die Frustrationen des Schulunterrichts bis zu den 70er und 80er Jahren erleben durfte: Das Scheitern an einer Aufgabe und auch ihr Gelingen wurde tendenziell personalisiert: „Andreas ist gut in Mathe, aber schlecht in Sport.“ bis hin zu Komplett-Urteilen: „Jana ist Klassenbeste, und Steffen ist ein Schulversager.“
Nun also will man das Scheitern so weit wie möglich völlig aus dem Unterricht verbannen, um die armen Kinderseelen zu schonen (oder um das eigene Schultrauma aufzuarbeiten), aber man verkennt, dass das Scheitern zum Lernen unbedingt dazugehört. Und die Kinderseele ist in der Regel schon seit der frühesten Kindheit ziemlich gut darauf vorbereitet: Wenn ein Kind laufen lernt, fällt es Hunderte Male hin. Als Erwachsene bedauern wir sein Fallen und erinnern uns an sein Weinen, aber in Wirklichkeit ist das Weinen eher die Ausnahme. Das große Wunder ist die Unermüdlichkeit des Wieder-und-wieder-Probierens. Kinder verlernen das Scheiter-heiter-Prinzip, erstens, wenn man ihr Scheitern bestraft, aber auch, wenn man ihnen zu viele Aufgaben abnimmt, wenn man das Scheitern aus ihrem Leben zu verbannen sucht. Wer nicht gelernt hat, mit Freude zu scheitern, ist viel schneller frustriert, wenn etwas nicht funktioniert. Das heitere Scheitern neu zu erlernen, ist schwerer, je älter man wird und je stärker einem dann die Fehler auf die Füße fallen.
Das Ganze ist natürlich politisch-ideologisch befrachtet: Konservative möchten so schnell wie möglich die Spreu vom Weizen sortieren und beharren auf einer Elitisierung. Linke behaupten implizit eine Gleichheit der Schüler und geben einfach allen einen Smiley. Aber weder das Eine noch das Andere hilft den Schülern. Lernen ist ein komplexer Prozess, der Freude beim Gelingen und beim Scheitern erfordert. Scheitern muss als positives Erlebnis erfahrbar gemacht werden. Es darf nicht von Konservativen personalisiert werden („Versager“) und es darf auch nicht von den Linken aus dem Klassenraum verbannt werden.
Scheiter heiter.