Positivität = Normalität (auch des Absurden)

Wenn wir von „positiv beginnen“ sprechen, bedeutet das nicht, dass wir eine harmlose Plüschwelt etablieren sollen. Es heißt zunächst nur, dass wir das einmal Etablierte, nicht sofort problematisieren, so seltsam es uns als Spieler auch erscheint.

Anna tischt Spaghetti auf: „Harry! Simone! Das Essen ist fertig.“
Simone setzt sich. Anna setzt sich.
Harry setzt sich und mischt Spielkarten.

In typischen Impro-Szenen wird nun angefangen, an Harry herumzunörgeln: Dass es eine Unverschämtheit sei, beim Essen Karten zu spielen, dass die schönen Spielkarten fleckig würden usw. Die Spieler übertragen ihr eigenes Urteil auf die Situation. Was aber, wenn wir den Flow nutzen? Anna könnte bemerken, dass Simone diesmal mehr Glück haben wird. Simone könnte es bedauern, dass Fabian heute nicht mitspielen kann. Oder: Sie erwähnen das Spiel überhaupt nicht, sondern spielen es einfach! Je unproblematischer die ersten Angebote aufgenommen werden, umso selbstverständlicher fügen sie sich in die Plattform ein. Hier haben wir nun drei Kartenspieler, die sogar beim Essen spielen.
Nicht nur (scheinbar) absurdes Verhalten, sondern auch ein für sich genommen negativer oder problematischer Kontext kann zur „positiven“ Normalität gehören: Der Hitchcock-Film „Fenster zum Hof“ zeigt zu Beginn einen Fotojournalisten in seiner Wohnung, der wegen eines gebrochenen Beins zum Nichtstun verurteilt ist. Das Leiden daran wird kurz etabliert, aber dann geht es zum Eigentlichen der Szene – der Beziehung des Journalisten zu seiner Geliebten.
Es ist also völlig OK, Probleme und schwierige Situationen zu etablieren, die den Hintergrund der Szene und der Story beschreiben:

  • Eine arme Familie kämpft im Alltag hart darum, sich über Wasser zu halten.
  • Ein Pfarrer spricht den Hinterbliebenen sein Beileid aus.
  • Eine Kompanie bereitet sich auf den Angriff vor.

Armut, Tod, Krieg – das ist in diesen Fällen die „positive“ Normalität.
Die Plattform gerät genau dann ins Wanken, wenn die Situation problematisiert wird:

  • wenn die Frau, als ihr Mann sagt, dass er wieder seinen Job verloren hat, hysterisch reagiert,
  • wenn einer der Hinterbliebenen dem Pfarrer vorhält, den Verstorbenen in den Tod getrieben zu haben
  • wenn einer der Soldaten den Befehl verweigert.

Genaugenommen kann auch die hysterische Reaktion, der Vorwurf an den Pfarrer, die Befehlsverweigerung Teil der Plattform sein, wenn das jeweils die Normalität widerspiegelt. Das Plattform-Wanken, an das wir uns Dranhängen, das ist die Story. Alles andere ist Hintergrund.
Eine improvisierte Szene, in der ich mitspielte begann einmal mit einem Missverständnis:

„Könnte ich mal deinen Schal leihen?“Der Mitspieler und der Großteil des Publikums verstanden: „Könnte ich mal einen Schwan ausleihen.“Daraufhin reagierte der Mitspieler mit stoischer Ruhe und langte aus einem Käfig einen Schwan, den er „verlieh“. Die Plattform eines Schwan-Verleihs war geboren.

Aus meiner Erfahrung werden Probleme und Konflikte nicht nur aus einem ängstlich-ablehnenden Impuls heraus zu früh eingeführt, sondern auch weil die Spieler fürchten, das Publikum zu langweilen. Habt Vertrauen in die Routine! Das Etablieren von Plattform und Routine ist immer dann interessant, wenn ihr bei der Sache bleibt. Angenommen, die Routine einer Solo-Szene ist „Haare kämmen“. Ein nervöser Improspieler wird nun oberflächlich Haarekämmen mimen, ohne Emotion, ohne Charakter. Die Darstellung bleibt langweilig, weil er sie selbst für langweilig hält. In Gedanken ist er schon dabei, was er als nächstes tun könnte. Er öffnet das Fenster. Dann raucht er eine Zigarette. Dann putzt er das Badezimmer. Mit anderen Worten: Er springt von einer Handlung zur nächsten, ohne irgendeine ernstzunehmen. Wenn unser Spieler aber beim Haarekämmen bleibt und in die Handlung eintaucht, wird er sie mit Emotion füllen:

  • Er freut sich auf ein Rendezvous.
  • Er ist nervös wegen eines Vorstellungsgesprächs.
  • Er ist ein eitler Dirigent.

Und wenn ich als Improspieler in diese Hintergrundstory und die Emotionen tiefer eintauche, ergibt sich automatisch die nächste Handlung, wenn ich denn mit dem Kämmen fertig bin, z.B.:

  • Der Liebhaber prüft seinen Atemgeruch.
  • Der Bewerber prüft vorm Spiegel die angemessene Begrüßung.
  • Der Dirigent prüft seine dramatische Wirkung.

Lebenspläne

Hat der Storch die Rückkehr aus dem Süden,
bevor er uns verließ, bereits geplant?
Er findet unser Dorf und hat geahnt,
dass sein Nest noch auf dem Schlot hockt. Wie denn!

Sind auch meine Pläne nur Instinkt,
nachgeschob’ne Gründe meines Tuns?
Mein Hirn nicht weiter als das Hirn des Huhns,
das kopflos rennt, bevor’s zur Erde sinkt?

Das Nichtgetane streng mich warnend mahnt,
da’s mit dem Bummeln kurios verzahnt:
Verlass dich nicht allein auf dein Gespür!

Drum auf Instinkt und Intellekt ich horch.
Ich plane. Ach, was gäbe ich dafür,
wär konsequent und klar ich wie der Storch.

Fanatismus

In der Menge stand
einst ich in hellem Herbst.
Dröhnend scholl der Gesang:
Tragende Welle schob’s
zwischen die sehnenden Leiber hindurch.
Fahnen, Lachen und Wut.
Selbstgerecht trunken die Masse bewegt.

Meine Seele, ein Segelboot, geschubst,
schwamm, wie unsichtbar
heimlich vom Menschenmeer hinweg,
taumelnd und ohne Einigkeit.
Ob mich jemand gesehn?

Rechtfertigen im Improtheater (10) – Rechtfertigen und Miteinander

Kein Kampf um Definitionshoheit beim Rechtfertigen!
Wenn ihr bemerkt, dass ihr verschiedene Perspektiven auf Raum, Beziehung oder Handlung habt und sich eure Angebote sogar widersprechen, dann versucht nicht, das vielleicht grobgeschnitzte Rechtfertigen eurer Partner mit eurer „besseren“ Rechtfertigung auszuhebeln. Auch hier gilt: Akzeptieren! Spielt auch beim Rechtfertigen miteinander, nicht gegeneinander. Es geht hier nicht um Schlauheit oder Cleverness, sondern darum, wieder gemeinsam Boden unter den Füßen zu spüren.

Levi spielt einen Fahrer und Manuela eine Anhalterin.
Levi: „Wo wollen Sie hin?“
Manuela: „Nach Hannover. Nehmen Sie mich mit?“
Levi: „Kein Problem. Da muss ich auch hin.“
Manuela setzt sich eilig hinter ihn und mimt, auf einem Gepäckträger zu sitzen. Levi indessen, der das Fahrradangebot hinter sich nicht gesehen hat, mimt, ein Kfz zu lenken. Die zwei körperlichen Angebote widersprechen sich deutlich. (Das Publikum lacht.) Nur Manuela nimmt den Widerspruch war, Levi hingegen ist lediglich ein wenig irritiert, dass sie sich an seiner Schulter festhält.
Manuela versucht zu klären: „Ich hab’s eilig. Treten Sie in die Pedale.“
Levi steht auf dem Schlauch und versteht das Fahrrad-Angebot nicht. Stattdessen tritt er auf die Pedale und lässt den Motor aufheulen. Manuela realisiert, dass es keinen Sinn hat, auf ihrem Angebot zu beharren und „klettert“ nach vorn auf den Beifahrer-Sitz.

Rechtfertigen als Bloßstellen
Erstaunlich häufig benutzen Improspieler die Technik des Rechtfertigens, um kleine Fehler ihrer Mitspieler oder Unzulänglichkeiten der Szene herauszustellen.

  • Der Spieler soll einen Franzosen spielen und kommt mit dem französischen Dialekt nicht klar. Die Mitspielerin: „Mit dem Dialekt sind Sie aber kein richtiger Franzose, oder?“
  • Ein Spieler bittet zwei Mitspieler ins Auto einzusteigen. Da aber nur zwei Stühle auf der Bühne sind, müssen die beiden hinten stehen. Der Spieler: „Wir haben in unserem extra hohen Auto absichtlich die hinteren Sitze entfernt.“
  • Ein Spieler mimt eine Tasse etwas ungeschickt. Die Mitspielerin: „Na, Sie haben ja eine extrem lange dünne Tasse!“

Bloßstellungs-Rechtfertigen wie in diesen Beispielen führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Lachern im Publikum. Aber es ist nicht nur ein bisschen unkollegial, die Mitspieler bloßzustellen, sondern diese Formen des Rechtfertigens führt uns von dem Game oder aus der Story weg. Der Improspieler kommentiert das Spiel statt es zu spielen, er stellt sich über das Spiel. Die Zuschauer werden von der Szene abgelenkt und fokussieren nunmehr auf einen minimalen oder auch nur scheinbaren Fehler, den sie sonst hingenommen oder nicht einmal wahrgenommen hätten.

Die Szene retten oder den Partner?
Keegan Key beschreibt in einem Interview eine Szene, in der er und ein weiterer Spieler dabei sind, die Plattform zu finden und gerade geklärt haben, dass sie eine Geburtstagsszene vorbereiten, als ein Spieler von außen hinein als Dino-Saurier hineinspringt. Gerettet wurde die Szene von einem vierten Spieler, der mit den Worten: „Tommy, die Kostüme erst, wenn die Kinder da sind“, die Ausgangsszene der beiden rettet und die Rolle des Dino-Spielers zwar integriert, ihn aber dennoch mit sanftem Hinweis von der Bühne fortführt.
Man muss leider zugestehen, dass es Situationen gibt, in denen man sich entscheiden muss: Rette ich das, was bereits in der Szene etabliert wurde oder versuche ich, die absolut szenenfremden Angebote des Mitspielers noch irgendwie zu rechtfertigen? Ideal ist natürlich, wenn beides gleichzeitig gelingt, aber die Bühnenrealität und auch der kleine kreative Kobold in unserem Kopf gibt das nicht immer her.
Die nicht besonders zufriedenstellende Antwort auf das Dilemma lautet: Kommt drauf an!
Erstens kommt es auf den Zeitpunkt der Szene an. Wenn wir noch am Aufbauen sind, neige ich dazu, selbst völlig abseitige Angebote noch irgendwie einzubetten, den Spieler zu retten und so sanft wie möglich dafür zu sorgen, dass wir wieder in dieselbe Richtung segeln. Wenn wir allerdings eine lange Story improvisieren und inzwischen alles auf den Höhepunkt hinausläuft und mein Partner, sei es weil er unkonzentriert war, etwas vergessen hat oder etwas nicht hören oder sehen konnte, die Szene mit etwas völlig Abstrusem füllt, das für alle Mitspieler und Zuschauer offensichtlich fehl am Platze ist, dann würde ich die Möglichkeit offenhalten, die Szene auch mal so zu retten, indem man ein Angebot blockiert. Letztlich rette ich dann auch ihn und seine Rolle in dem Stück.
Zweitens kommt es auf den Grad der Abstrusität an. Kleinere Fehler kann man ignorieren, mittlere Fehler ausbügeln, himmelschreiende Unstimmigkeiten müssen notfalls grob zurechtgerückt werden.
Drittens: Im Zweifel entscheide dich für deinen Partner. Verwende deine kreative Energie, seine Abstrusitäten irgendwie einzubauen.

Grillen im Juni in Berlin

Luftig lockt die unberührte Wiese
Fachgerecht gehackte Schweineteile.
Bald schwebt eine leichte Kohlenbrise
durch den Park. Verweht nach einer Meile.
Zwölf Familien. Türken und Deutsche.
Fett tropft in die Glut, mit Pilsner löschen.
Wurst im Wanst und Alkohol im Blute.
Karin mampft wie eine fette Stute.
Heute Abend wird er sie verdreschen.
Der Zitronenfalter kann den angebrannten Flügel nicht mehr retten.

Rechtfertigen im Improtheater (9) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 5 – Rechtfertigen von außen

Als Mitspieler im Off können wir helfen, eine unklare Situation zu klären. Dabei sollten wir aber mehr Zurückhaltung walten lassen, als wenn wir selbst auf der Bühne stehen und bereits Teil der Szene sind. Denn zuerst sind die Spieler auf der Bühne für das Geschehen verantwortlich, das heißt, sie müssen auch für sich selbst entscheiden, wieviel Unklarheit und Noch-nicht-Definiertes sie für ihre Impro-Szene zulassen wollen.

Klänge

Emil und Finn beginnen die Szene damit, dass sie vor etwas fliehen. In ihrem Dialog tapern sie zaghaft um das Thema herum, wovor sie eigentlich fliehen.

Als außenstehender Spieler (oder Techniker) könnte ich hier eine Polizei-Sirene in die Szene jaulen lassen, was die Mitspieler von der Definitionslast befreit (oder ein Wolfsrudel, Pistolenschüsse usw. ).

Als Passagier

Gerda und Rüdiger sitzen auf zwei Stühlen und führen seit einer Weile ein Gespräch. Die Szene ist ganz nett, aber leider haben die beiden anscheinend vergessen, den Ort zu definieren oder trauen es sich nicht.

Als Passagier kann ich rasch Klarheit schaffen, indem ich mit einem Minimal-Angebot den Schauplatz kläre, etwa indem ich die Szene als Kellner betrete (Restaurant) oder als Spaziergänger mit Hund (Park) oder als Fahrkartenkontrolleur (Bahn).
Bisweilen ist einem der Spieler nicht klar, dass der andere auf dem Schlauch steht.

Sie: Sie wollen meinen Sohn wohl am ausgestreckten Arm verhungern lassen, Herr Preißler.
Er: Ich bitte Sie, das würde ich doch nicht tun, Frau Dumblodt.
Sie: Wenn Sie ihm nicht helfen, wird er nie die Matura schaffen.
Er: Die Matura? Ähm, die kann er auch ohne mich schaffen. Er ist stark genug.
Sie: Sie sind doch persönlich für ihn verantwortlich.
Externer Spieler betritt die Bühne im Hochstatus: Herr Preißler, könnten Sie mich heute Nachmittag bei der elften Klasse in Mathematik vertreten?

Der externe Spieler hat realisiert, dass der Spieler des Herrn Preißler nicht mit dem österreichischen Begriff Matura (Abitur) vertraut ist und sich deshalb auch nicht über die Beziehung zur Figur seiner Mitspielerin im Klaren ist. Außerdem ist deutlich, dass die Mitspielerin das Unverständnis von „Herrn Preißler“ nicht erfasst hat. Durch das rechtfertigende Angebot bringt der externe Spieler die Szene wieder ins Lot.
Entscheidend ist, dass ich die Szene nicht kapere, indem ich zu viel Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Schließlich geht es nicht um mich, sondern darum, dass der Szene geholfen wird.

Klagelied

Pfeifend saust die Krankheitspeitsche nieder.
„Gewähre Gnade!“, ächzen meine Glieder.
Mein Hirn ein Moshpit. Tanzende Gedanken
hüpfen auf den Nerven eines Kranken.

Beginnt die Heilung mit Verschlimmerung?
Was aß ich heut? Und wen traf ich noch gestern?
Fieberwahn gebiert Erinnerung.
Vision und Wahrheit wie zwei längst zerstrittne Schwestern.

Ängste, Klammern, Multiplikationen.
Trotz Stirnenfeuer will die Peitsche mich nicht schonen.
Halbgläubig hoffend, gleich dem von seinem Herrn geschlagnen Hund
bitt ich mein Kissen: Gott, mach mich gesund.

Rechtfertigen im Improtheater (8) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 4 – Kopieren

Eine einfache Taktik des inneren und äußeren Rechtfertigens ist das Kopieren. Wenn ich die Tätigkeit meines Mitspielers einfach nachmache, feuern meine Neuronen in eine bestimmte Richtung: Das Hirn versucht, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Es kann zwar durchaus sein, dass ich nach zwei Minuten Gemimte-Objekte-Stapeln immer noch keine blasse Ahnung habe, was wir hier eigentlich tun. Aber das Kopieren erhöht einfach die Wahrscheinlichkeit, dass mir die Schuppen von den Augen fallen. Außerdem wirkt Kopieren auch nach außen immer wie eine positive Bestätigung. Und selbst wenn ich immer noch eine Weile im Dunkeln tappe, kann das Publikum glauben, wir hätten den totalen Durchblick.
Kopieren bietet sich ganz offensichtlich bei körperlichen und pantomimischen Angeboten an: Mein Partner stapelt etwas, ich staple mit. Mein Partner schießt auf bewegliche Ziele, ich schieße mit. Mein Partner stakst in irgendetwas herum, das ich nicht erkenne, ich stakse mit. Die Pantomime selbst lässt die körperliche Erinnerung wach werden.
Aber auch verbales Kopieren ist möglich. Variieren wir einfach unsere Vogel-Szene:

Sie: Bist du dir sicher, Bertram, dass du kündigen willst?
Er: Ja, Evi. Es ist Zeit für eine Veränderung. Amsel!
Sie: Du würdest mir die gesamte Verantwortung aufhalsen. Drossel!
Er: Du bist nun lange genug dabei. Blaumeise! Sperling!
Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick. Stockente!
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!

Diesmal kopiert sie das verbale Spiel. Auch wenn wir als Zuschauer noch keine Ahnung haben, was hier los ist, sind wir fasziniert – sowohl vom scheinbar mühelosen Zusammenspiel der beiden Improvisierer als auch von der Szene selbst.

Oack ne jechn!

Ich hab mir den Fuß gestoßen.
Genauer: Den rechten Zeh.
Den Kleinen, nicht den großen.
Es tut so unfassbar weh.

Am Stuhlbein. Um zehn Millimeter
hab ich mich beim Gehen verschätzt.
Ich dacht, ich sei spät. Jetzt wird’s später.
Ich geb zu, ich bin vorhin gewetzt.

„Wenn du’s eilig hast, nimm den Umweg“,
rät lächelnd mir der Buddhist.
Und „Eile mit Weile!“ ein Deutscher.
Mir tut der Zeh weh. So’n Mist!

Rechtfertigen im Improtheater (7) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 3 – Physisch

Die eleganteste Art, eine szenische Irritation ins Improvisieren einzubauen, ist die körperliche Rechtfertigung. Sie liegt vor allem dann nahe, wenn die Irritation selbst eine körperliche ist.

Der Sohn öffnet nach dem Gespräch mit der Mutter eine schwere Tür.
à Mutter tritt ein, taucht den Finger ins Weihwasser-Becken, bekreuzt sich und kniet nieder.

Spieler A beginnt die Szene mit einem blinden gestischen Angebot: eine schräg vorgehaltene Faust.
à Spieler B hebt ängstlich die Hände und definiert, bedroht zu werden.

Spieler A definiert ein großes Lenkrad, wobei unklar bleibt, was er da lenkt.
à Spieler B mimt, Segeltaue festzuzurren. 

Nach einem kurzen, freundlichen Gespräch zwischen zwei Geschwistern, wechselt A die Tonlage und sagt streng: „Schluss mit den Spielchen. Ich weiß, dass du Mama auf dem Gewissen hast.“
à Spieler B wechselt in den Tiefstatus.

Der große Vorteil des physischen Rechtfertigens besteht darin, dass sie effizient ist. Wir müssen uns nicht verbal mit den Objekten unserer Irritation beschäftigen, sondern halten die Sprache frei für die Beziehungs-Ebene, für Poesie, für Unterschwelliges. Körperliches Rechtfertigen wirkt auch meist gar nicht wie Rechtfertigen, sondern eher wie selbstverständliches Bedienen des bereits Etablierten.

Rechtfertigen im Improtheater (6) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 2 – Verbal

Verbales Rechtfertigen bedeutet, dass wir die Dinge einfach benennen und in einen entsprechenden Kontext einordnen. Das kann subtil oder auch überdeutlich platt geschehen.
Noch einmal am Beispiel der Mutter-Sohn-Schwere-Tür-Szene:

„Pfarrer Tschernawski wird uns sicherlich einen guten Rat geben“,

wäre ziemlich subtil, vielleicht sogar noch ein bisschen zu vage, denn ein Pfarrer muss sich ja nicht notwendigerweise in einer Kirche aufhalten. „Kirche“ ist durch diesen Satz noch nicht etabliert worden. „Pfarrer“ ist lediglich ein Hinweis darauf, dass die schwere Tür das Tor einer Kirche sein könnte.

„Gut, dass Pfarrer Tschernawski hier in der Sankt-Mauritius-Kirche auf uns wartet“,

ist schon deutlicher. Mit diesem Satz ist der Schauplatz auf jeden Fall definiert, wenn auch nicht so subtil wie im ersten Beispiel, da niemand wirklich so sprechen würde.

„Die Tür der Sankt-Mauritius-Kirche könnte auch mal wieder geölt werden“,

wäre demonstratives Rechtfertigen. Man verdeutlicht dem Mitspieler, dass man gerade Schwierigkeiten hatte, das Angebot einzuordnen und thematisiert es nun für ihn und das Publikum.
Ich würde in der Regel versuchen, die dritte (demonstrative) Variante zu vermeiden. Es ist zu viel Show-Rechtfertigung dabei. Und schließlich geht es auch nicht um die schwere Tür, sondern um die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, von der wir zu sehr ablenken würden.
Manchmal sind aber „grobe“ verbale Rechtfertigungen unvermeidlich, zum Beispiel wenn man kurz davor ist, sich in arge Widersprüche zu verstricken: Nehmen wir folgendes Szenario an:

Die Mutter-Sohn-Szene ist vorbei und abgelöst worden durch eine Szene zwischen Sohn und Pfarrer. Ich betrete die Szene als Mutter, aber der Sohn beginnt mich zu siezen.
„Möchten Sie sich nicht setzen?“

Ich frage mich nun, ob ich meine Mutter nicht klar genug gespielt habe, ob er mich als Mutter ohnehin siezt oder ob es noch eine andere Variante gibt, die mir aber im Moment der Szene nicht einfallen mag. Ich muss also für mich klären: Bin ich die Mutter oder nicht? Das Problem ist: Wir haben nicht viel Zeit, das herauszufinden, denn ich muss schauspielerisch den Character Mutter verstärken oder fallen lassen, je nachdem, worauf wir uns einigen.
Hier würde ich die verbale Holzhammer-Methode durchgehen lassen:

„Sören, komm und setz dich neben deine gute alte Mutter.“

Der Satz mag unelegant sein, aber wir sind wieder auf der gleichen Spur der Szene und haben verhindert, dass wir uns in einem Wirrwarr von seltsamen Prämissen und bizarren Konsequenzen verstricken und am Ende nichts mehr zueinander passt.

Rechtfertigen im Improtheater (5) – Wie rechtfertigen wir? Taktik 1 – Nachfragen

Nachfragen ist eigentlich kein Rechtfertigen im engeren Sinne. Es ist eher eine Taktik, um für sich selbst soweit Klarheit in die Szene zu bekommen, dass man weiterspielen kann. Von Puristen wird diese Taktik bisweilen als zu holperig, negativ, zaghaft und unelegant abgelehnt. Das hat damit zu tun, dass die meisten Improspieler ihre Nachfragen negativ oder zaghaft hervorbringen.

„Was machen Sie denn da? Das geht aber nicht!“
oder
„Ähm, ich verstehe nicht. Wo fahren wir jetzt hin?“

Das Problem ist nicht nur, dass die Unsicherheit und Angst des Spielers hier zu sehr durchscheint. Ein Spieler, der nicht den Mut hat, selbst zu definieren, und stattdessen alles seinen Partnern überlässt, oder jemand, der mit seiner Angst jeglicher Tätigkeit Einhalt gebietet, ist nicht schön anzuschauen (und verschließt auch nach und nach den eigenen Geist).
Um Nachfragen einigermaßen elegant zu gestalten, sollten sie die Szene nicht allzu sehr aufhalten, sondern höchstens kurz pausieren bzw. zu ihrem emotionalen Gehalt beitragen („ausbreiten“). Wie könnte in unserem Vogelzähler-Beispiel die Evi-Spielerin ihre Unklarheit beseitigen, ohne ihren Partner zu doof aussehen zu lassen?

Er: Du bist nun lange genug dabei. Blaumeise! Blaumeise! Sperling!
Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!
Sie (immer noch auf dem Schlauch stehend): Ach Bertram, manchmal frage ich mich, was wir hier eigentlich machen.

Der Satz funktioniert sowohl szenisch als auch spielerisch. Szenisch, weil er die emotionale Beziehung der beiden verstärkt. Und spielerisch, weil das Signal an den Mitspieler („Sag mir bitte, was dein Angebot bedeuten soll!“) deutlich genug ist.
Oder denken wir an unsere Mutter-Sohn-mit-schwerer-Tür-Szene.

Er zeigt ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.
Mutter: Na schön, Sören. Wenn du es denn unbedingt willst.
Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.
Sohn öffnet eine schwere große Tür. Sie folgt ihm. Er zieht sich aus und beginnt zu duschen.
Mutter (die als Spielerin nicht kapiert): Sören, du weißt, ich liebe dich und ich vertraue dir. Aber manchmal werde ich aus dir einfach nicht schlau.

Auch hier funktioniert ihr Angebot auf szenischer und spielerischer Ebene. Wenn du selbst eine subtile Nachfrage hörst, gehe ohne Umschweife darauf ein und hilf der Partnerin aus der Patsche, auch wenn die Sache für alle anderen, inklusive Publikum, schon längst klar ist. Sei klar und frei heraus, statt ihr nur kleine Hinweise zu geben und sie weiter rätseln zu lassen.

Beim Waschen der Füße nach langer Reise

Nun hab ich euch, Füße, in fremden und
bisweilen recht fernen Ländern probiert,
mal mühelos, geschmeidig, vertraut fast,
als wäre ich längst schon dort heimisch.

Doch birgt die Scheinvertrautheit Tücke,
und bald hielt Einsamkeit mich gefangen,
schlimmer als an jenen Gestaden,
wo ich nie Tritt zu fassen vermochte.

So wasch von euch ich den Staub der Fremde,
die ihr mich trugt, oft unbeachtet.
Fremd oder daheim, ihr fragt nicht.
Ihr tragt mich.

Rechtfertigen im Improtheater (4) – Wann rechtfertigen wir?

In Rechtfertigungs-Games rechtfertigen wir logischerweise sofort und ohne Umstände.
Ansonsten hängt der Zeitpunkt des Rechtfertigens davon ab, mit wieviel Unsicherheit die Spieler und die Zuschauer leben können. Schauen wir uns diese kleine Szene an.

Frau und Mann. Beide schauen Richtung Publikum.
Sie: Bist du dir sicher, Bertram, dass du kündigen willst?
Er: Ja, Evi. Es ist Zeit für eine Veränderung. Amsel!
Sie: Du würdest mir die gesamte Verantwortung aufhalsen.
Er: Du bist nun lange genug dabei. Blaumeise! Blaumeise! Sperling!
Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!

Wie lange halten die beiden diesen Dialog durch, ohne aufzulösen, warum Bertram am Ende jedes Satzes Vogelarten nennt? Als Zuschauer können wir mit der zunächst etwas bizarren Situation durchaus eine Weile leben (vielleicht sogar länger als die Spieler auf der Bühne). Wenn allerdings die Szene vorbei ginge, ohne dass das seltsame Verhalten Bertrams aufgelöst würde, wären wir irritiert.  Das heißt, beiden dürfte klar sein, dass eine solche Verhaltensweise einer Auflösung bzw. Rechtfertigung bedarf. Aber wann? Das hängt letztlich vom Vertrauen der Spieler und dem Verlauf der Szene ab.
Ein gut eingespieltes Paar oder sehr erfahrene Spieler können die Sache erst einmal laufen lassen, bis sich ein organischer Moment findet. Wenn wir uns aber unsicher sind und außerdem zusätzliche unbekannte Variablen hinzukommen, die das Ganze unübersichtlich werden lassen, rechtfertigen wir lieber schnell.
In dem genannten Beispiel wäre anzunehmen, dass der Spieler des Bertram zumindest eine Vorstellung davon im Kopf hat, was sein Angebot bedeuten könnte. Als Mitspielerin kann ich in diesem Fall etwas entspannen und schauen, ob er es nicht selbst auflöst. Umgekehrt sollte der Bertram-Spieler aufmerksam sein und darauf achten, ob sein doch recht seltsames Angebot verstanden und aufgenommen wird. Falls die Mitspielerin nicht weiter darauf eingeht, könnte es sein, dass das Angebot nicht angekommen ist oder sie einfach auf einen Zug von ihm wartet.


Sie: Ich habe nicht dein Talent und deinen Blick.
Er: Das Einzige, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Blaumeise! Eichelhäher!
Sie: Du bist es, der mir fehlen wird, Bertram.
Er: Evi, ich bin verheiratet. Sperling! Amsel! Ich korrigiere: Sperling! Star! Vierter Mai, Tegeler See, 12:10 Uhr. Ende der Vogelzählung. (Drückt auf den Knopf seines Diktiergeräts.)

(Wird fortgesetzt.)

Ehegelöbnis

In unserem Zusammenleben
soll Fairness unsre Regel sein.
Man halte nicht den andern klein,
so dass wir zwei zum Glücke streben.
Und sollten wir einander stressen,
so schenken wir uns Raum und Zeit,
dass Friede kommt nach jedem Streit,
Wir wolln das Spielen nicht vergessen.
Die Zärtlichkeit sei unser Netz.
Und Liebe unser Grundgesetz.

Rechtfertigen im Improtheater (3) – Aber sollen wir auch fürs Publikum rechtfertigen?

Über diese Frage werden immer wieder heftige Debatten geführt. Gegner des ostentativen Rechtfertigens meinen, dass das Publikum das zu Rechtfertigende wahrscheinlich ohnehin verstehen würde, wenn die beiden Spieler es verstehen. Mithin sei eine verbale Rechtfertigung nicht nötig. Befürworter führen ins Feld, dass Dutzende Impro-Games genau darauf hinauslaufen: Das Irritierende sofort zu rechtfertigen und in die Szene ein-zubauen. Ein großer Teil der Impro-Komik ziehe ihre Kraft aus dieser sichtbar gemachten Fähigkeit der Improspieler.
Beide Seiten haben auf ihre Weise Recht. Ich denke, es hängt von der spezifischen Impro-Situation ab, in der man sich befindet. In einem Impro-Spiel, das auf verbales Rechtfertigung fokussiert, wäre es idiotisch, genau das nicht zu tun. Und tatsächlich freuen wir uns als Zuschauer, einem Improspieler, der durch ein Angebot kalt erwischt wurde, dabei zuzuschauen, wie er seine gesamte kreative Energie darauf legt, die Irritation kreativ zu verwenden. Wir lachen, wenn wir sehen, wie sich der Improspieler abmüht. Er leidet für uns.
Das Problem ist nur, dass das Lachen des Publikums über diese Irritationen viele Improspieler süchtig macht. Sie vergrößern absichtlich ihre Irritation, thematisieren Fehler und wollen vom Publikum für ihre ach so tolle Situationskomik bewundert werden. Wenn wir jede kleine Irritation auf diese Weise überhöhen, selbst wenn man darauf vertrauen kann, dass sich das Ganze schon bald von selbst ergeben wird, dann bleibt unsere Improvisation eitel und kommt auch zeitlich nicht von der Stelle, weil wir damit beschäftigt sind, jeden einzelnen Schritt zu thematisieren. Wir landen dann in einer Rechtfertigungs-Orgie. Zu viel explizites Rechtfertigen hemmt den Fluss der Szene. Um es kurz zu sagen:

Explizites Rechtfertigen – so viel wie nötig und so wenig wie möglich.

Noblesse oblige

Zwanghaft wolln sie alten Glanz bewahrn.
Dinosaurier der modernen Zeiten.
Zähln sich immer noch zu edlen Leuten.
Doch es ist vorbei seit hundert Jahrn.

Während Privilegien entgleiten,
muss man doch in altem Stil verharrn,
darf sich stets nur miteinander paarn
und am Ende übers Erbe streiten.

Dass sich bitte keiner hier beschwere!
Hältst du dich brav an die Etablierten –
Netzwerkarbeit, feine Weine trinken –
können Geld und Macht und Ruhm dir winken,
eine glänzende Finanzkarriere
und ein Foto in der Illustrierten.

Rechtfertigen im Improtheater (2) – Für sich selbst und den Mitspieler rechtfertigen

Hier zur Erinnerung die Ausgangsszene:
Etabliert sind Mutter und Sohn
Sie diskutieren, ob er einen Job im Amazonas-Dschungel annehmen soll. Dabei zeigt er ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.
Mutter: Na schön. Wenn du es denn unbedingt willst.
Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.
Sohn öffnet eine schwere große Tür.

Wenn ich für mich selbst das Angebot große, schwere Tür positiv aufgenommen, das heißt innerlich gerechtfertigt habe, gibt es eigentlich keinen besonderen Zwang, die Existenz der großen, schweren Tür irgendwie zu begründen. Sie ist eben da. Fertig. Sie kann die Tür zum Bank-Safe sein, ein Fabriktor, die Tür des Rathauses, höchstwahrscheinlich aber nicht die Tür zum privaten Badezimmer. Vielleicht gibt mir mein Partner in den nächsten Momenten (oder auch erst in fünf Minuten) verbal oder pantomimisch zu erkennen, wo wir uns befinden.

  • „Der brasilianische Botschafter freut sich schon darauf, dich kennenzulernen.“ (Wahrscheinlich sind wir im Botschaftsgebäude.)
  • Sicherheitsschleusen werden passiert und weitere schwere Türen geöffnet. (Gefängnis, Tresorraum oder etwas Ähnliches.)
  • Mutter kniet nieder bekreuzigt sich, erhebt sich und sagt: „Pfarrer Tschernawski wird uns sicherlich einen guten Rat geben.“ (Ah, wir sind in einer Kirche.)

Wenn mein Partner und ich mit dem Flow gehen, wird sich der Ort bald von selbst ganz natürlich herausstellen. Wenn ich aber merke, dass wir beide unsicher sind und vorm Definieren zurückschrecken, dann ist es besser, ein paar Pflöcke füreinander in den Boden zu rammen. Ich sagte eben, dass ich es unwahrscheinlich empfinden würde, dass das Szenario Schwere Tür in einem Badezimmer spielt. Wie aber soll ich dann reagieren, wenn er plötzlich mimt, sich auszuziehen und zu duschen?
Wenn sie ein Angebot nicht einordnen können, gehen die meisten Spieler davon aus, ihr Partner habe noch eine Idee in petto, die das alles erklären wird. Sie beginnen dann, vorsichtig zu spielen, werden langsamer und weniger engagiert, da ihr Geist nur damit beschäftigt ist, ihren Partner zu lesen, um herauszufinden, was zum Teufel er ausheckt. In der Folge kommt die Szene ins Stocken. Vielleicht hat ja der Partner auch gar nichts weiter in petto, sondern will die Szene nur ein bisschen mit einem irritierenden blinden Angebot aufpeppen. Oder seine Pantomime war einfach ein bisschen schludrig und die Tür in seinen Augen gar nicht so schwer, wie es auf mich gewirkt hat. Das Problem ist nun: Wenn mein Kopf die ganze Zeit mit diesen Optionen beschäftigt ist, verliere ich den Moment des Zusammenspiels. Deshalb rate ich dazu, in Situationen wie diesen, in denen die Irritation überhand zu nehmen droht, das Seltsame zu rechtfertigen, auch wenn es unbeholfen oder holprig erscheinen mag:

„René, denkst du bitte dran, nach dem Duschen die Tür des Badesaals zu ölen? Du merkst ja selbst, wie schwer sie inzwischen geht.“

Ob mein Partner „Badesaal“ im Kopf hatte oder nicht, ist egal. Was in meinem oder deinem Kopf vorgeht, ist für die Szene irrelevant. Entscheidend ist, was etabliert wird.
Selbst wenn mein Partner mit seinem vagen Angebot etwas anderes im Sinn gehabt hatte, dürfte er nun froh darüber sein, dass wir beide wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Morgendliche Lektion

Meines Spiegels scharfe Reflexionen
lehrn mich unbarmherzige Lektionen.
Ins Gesicht des frühren glatten Jungen
ist die äußre Welt scharf eingedrungen.
„All das ist Erfahrung“, könnt ich mich belügen.
Doch das Alter würd’ die Haut auch so besiegen.
Und so pflügt die Zeit des Antlitz’ Falten.
Lach gequält ich: Alles bleibt beim Alten.
Aber durch des Lächelns heitres Spiel
lern ich: Schenk dir selber Mitgefühl.

Rechtfertigen im Improtheater (1) – Was ist Rechtfertigen?

(Dies ist der erste Teil einer Serie zum Thema Rechtfertigen.)

Um meine Angebote und deine Angebote miteinander zu verzahnen, müssen wir

  • diese Angebote überhaupt erst einmal akzeptieren, 
  • etwas zu den Angeboten hinzufügen
  • Zug um Zug spielen, damit Akzeptieren und Hinzufügen überhaupt möglich werden.

Das Problem ist natürlich, dass wir als Improspieler permanent mit Unerwartetem konfrontiert werden. Das heißt, wir sind praktisch gezwungen, Inhalte einzubauen,

  • mit denen wir nicht rechnen,
  • die mit unserer Konzeption der Szene nicht übereinstimmen
  • die beim ersten Betrachten gar „unpassend“ erscheinen.

Diese Fähigkeit, das Unerwartete szenisch sinnvoll einzubauen, nennen wir Rechtfertigen.
Viele Zuschauer empfinden gerade diese Fähigkeit bei Impro-Schauspielern als genial. Sie vermuten ein geradezu übernatürliches Talent und außerordentliche kreative Begabung dahinter. In Wirklichkeit ist diese scheinbar geniale Fähigkeit vor allem eine Geisteshaltung: Wir müssen auf der Bühne den skeptischen, prüfenden Verstand hinter uns lassen und freudig das Unbekannte mit einem kräftigen „Au ja!“ umarmen.
Das ist natürlich leichter geschrieben als getan. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch dieser geistigen Haltung eine körperliche Haltung entspricht: Wenn ich auf ein unerwartetes Angebot hin den Kopf zurückziehe, die Stirne krausziehe und womöglich auch noch den Kopf schüttle, erscheint mir das „seltsame Angebot“ einfach immer dümmer, abseitiger, sinnloser. Wenn ich hingegen freudestrahlend auf es zugehe, nicke, mich auch körperlich für es öffne, feuern die Nervenbahnen im Gehirn und die Wahrscheinlichkeit erhöht sich ungemein, dass sich mir ein Sinn des Angebots auf irgendeine Weise erschließt. Ich schreibe „ein“ Sinn, nicht „der“ Sinn, da ein Angebot nie nur einen Sinn hat. Das heißt, es geht nicht so sehr darum, zu erraten, was mein Mitspieler mit dem Angebot bezweckt, sondern dem Angebot selbst einen Sinn zu verleihen.
Stellen wir uns folgende Szene vor:

Etabliert sind Mutter und SohnSie diskutieren, ob er einen Job im Amazonas-Dschungel annehmen soll. Dabei zeigt er ihr Bilder in einem Buch, das sie von seiner Mission überzeugen soll.Mutter: Na schön. Wenn du es denn unbedingt willst.Sohn: Danke dir Mama. Dann lass uns jetzt gehen.Sohn öffnet eine schwere große Tür.

Wenn ich als Spielerin der Mutter jetzt erwartet habe, dass die beiden sich gerade im Wohnzimmer befinden, dann dürfte ich von dem Angebot öffnet eine schwere große Tür ziemlich überrascht sein. Die Frage ist, wie ich innerlich mit der Irritation umgehe: Wenn ich der Irritation Nahrung gebe oder gar meinen Mitspieler infrage stelle, werde ich nur schwer eine Möglichkeit finden, dieses Angebot zu rechtfertigen, denn dann habe ich mich ja schon längst aus dem Spielmodus verabschiedet.
Um rechtfertigen zu können, muss ich den Fluss des Spielens aufrechterhalten. Ich muss mich von den vorgefassten Vorstellungen und Plänen verabschieden. Meine Aufgabe als Improvisierer ist es nicht, großartige Ideen zu produzieren, sondern aus den Angeboten der Mitspieler etwas Großartiges zu bauen.
Für den Spieler des Sohnes könnte die schwere große Tür etwas völlig Offensichtliches sein oder auch ein blindes Angebot an dich. Wie auch immer – du musst es zunächst für dich innerlich rechtfertigen.
Aber wer im Improtheater von Rechtfertigen spricht, meint meist weniger die innere Rechtfertigung, sondern die äußere. Unter der äußeren Rechtfertigung verstehen wir das explizite Verdeutlichen und Klären des irritierenden Angebots.
Es stellen sich nun drei Fragen: Für wen, wann und wie rechtfertigen wir?
(Wird fortgesetzt.)

Unglaube

Im Lebenswirrwarr dieser Postmoderne
kann man sich leicht im Nirgendwo verlieren.
Wenn wenig gilt, so schaut man in die Ferne.
Ein Glaube hilft, sich klar zu orientieren.

Doch was der Glaube nicht verändern kann,
ist, dass in ander’n auch ein Glaube ruht.
So kommt’s zum Glaubensüberbietungswahn.
Wer wenig glaubt, erzeugt in euch die Wut.

Und wer nicht glaubt, den schlagt ihr einfach tot,
als wüsche fremdes Blut die eignen Sünden rein.
Wenn nicht zu glauben euren Gott bedroht,
wie wacklig muss dann euer Glaube sein.

Die Improvisation nicht thematisieren

Eine kleine Falle, in die auch Profis immer wieder tappen, ist, die Improvisation als solche zu thematisieren oder indirekt auf sie zu verweisen.

„Herr Schimmelmayer, was werden Sie tun, wenn Sie in drei Wochen in Rente gehen?“
„Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich weiß nicht einmal jetzt, was ich in einer Minute tun werde. Ich bin eher so ein spontaner Typ.“

Im Grunde ist es eine Form das Gagging: Der Spieler nimmt sich aus der Figur und aus Szene heraus und kokettiert mit dem Publikum. Wie so oft beim Gagging ist ihm auch ein Lacher sicher, und wahrscheinlich wird er von einzelnen Zuschauern auch noch für besonders smart gehalten. Das Problem ist nur, dass sich der Spieler hier vom Mitspieler und von der Szene löst und beider wahrscheinlich wieder eine Weile brauchen, um die Tiefe zurückzuerobern.
Eine andere Variante, in der die Improvisation thematisiert wird, ist der Verweis auf die Fehler, sei es die eigenen oder die der Mitspieler. Das nimmt meistens die Form des Über-Rechtfertigens an:

Spieler A läuft durch die Stelle, an der ein paar Minuten zuvor ein Tisch etabliert wurde.
Spieler B: Na, ein Glück haben wir den Tisch vorhin auf die andere Seite des Zimmers geschoben, sonst wärst du ja gerade mitten durch unser Mobiliar gelaufen.
Spieler A: Ja, das passiert mir immer wieder, dass ich durch Möbel und geschlossene Türen gehe. (läuft demonstrativ durch eine Wand.)

Der erste Halbsatz von Spieler B hätte völlig ausgereicht, um den kleinen Fehler geradezurücken. Der Nachsatz „sonst wärst du ja gerade mitten durch unser Mobiliar gelaufen“ eröffnet aber das neue Gagging-Spiel für den Mitspieler, und schon verlieren wir den Kern der Szene.
Geht also sparsam mit euren Rechtfertigungen um. Die Zuschauer wissen, dass ihr improvisiert. Man muss ihnen nicht noch extra zeigen, dass man mit ihnen auf einer Seite steht.

Sympathie

War’s ein flüchtig Lächeln, das ich glaubt’ zu haschen?
Hallte ihre Stimme in mir nach?
Kurz blieb ich stehen, doch mit raschen
Schritten folgt ich ihr. Und in mir sprach
die Stimme meines Sehnens, meiner Lüste.
Wie töricht diese Stimme ich auch achte –
ich hör ihr zu, obwohl ich’s besser wüsste.
Das Herz schlägt seinen Beat zu irren Tänzen
der Sympathie ganz ohne Konsequenzen.

Einander glänzen lassen

Improspieler sind nie perfekt. Selbst den erfahrenen, professionellen Spielern unterlaufen grundlegende Fehler: Angebote werden übersehen oder ignoriert, es wird zu unspezifisch gespielt, Figuren werden unsauber angelegt usw. Das heißt aber umgekehrt auch, dass jeder Improspieler nicht nur mit seiner eigenen Imperfektion klarkommen muss, sondern auch mit der Imperfektion des Gegenübers. Zusätzlich zu den Fehlern und Schlampereien unserer Mitspieler müssen wir auch ihre Angebote annehmen, die wir nicht verstehen, die uns sinnlos erscheinen, weil wir den Subtext nicht kapiert haben. Und bei all dem müssen wir den Ball im Spiel lassen.
Wie reagieren wir technisch darauf? Wir nehmen das Angebot an und reagieren groß darauf.

„Es ist fünfzehn Uhr, Lennart. Bist du nicht ein bisschen spät?“„Tut mir leid, Herr Timmermann.“„Und die Degen hast du offenbar auch vergessen!“(Die Degen? Was für Degen?, mag sich der arme Improspieler fragen, der vielleicht eine Mathematikstunde oder die Beichte imaginiert hat. „Degen“ scheint nun wirklich ein etwas wildes Angebot.)„Oh nein! Oh nein! Ich hab die Degen in der U-Bahn liegengelassen! Herr Timmermann, bitte sagen Sie nichts meinen Eltern!“

Durch die große Reaktion wird das Degen-Angebot erst groß und wirkt wie ein genialer Zug im Storytelling. Schauen wir uns das Gegenteil an.

„Es ist fünfzehn Uhr, Lennart. Bist du nicht ein bisschen spät?“
„Tut mir leid, Herr Timmermann.“
„Und die Degen hast du offenbar auch vergessen!“
„Was? Ja. Aber dafür habe ich Ihnen ein paar neue Bibeln für den Kon-firmationsunterricht mitgebracht.“

Der Spieler hängt hier so sehr an seiner Idee, dass er das Angebot des Mitspielers zwar nicht völlig blockiert, aber doch so sehr in die Bedeutungslosigkeit schiebt, dass die Impro-Arbeit des Mitspielers fast nutzlos erscheint.
Unsere große Reaktion auf das Angebot unseres Mitspielers hat auch den Effekt, dass nicht nur das Angebot genial erscheint, sondern auch unser Mitspieler selbst. Und nun stelle man sich eine Show vor, in der sich sämtliche Improspieler permanent gegenseitig wie Genies behandeln. Eine solche Show und eine solche Gruppe wirken wie eine Sensation. Grundlage dafür ist natürlich, dass wir uns unserer Eitelkeiten entledigen müssen. Es geht nicht um die Anerkennung, die ich auf der Bühne bekomme, sondern es geht um die gesamte Show.
Unsere große Reaktion auf das Angebot unseres Mitspielers hat auch den Effekt, dass nicht nur das Angebot genial erscheint, sondern auch unser Mitspieler selbst. Und nun stelle man sich eine Show vor, in der sich sämtliche Improspieler permanent gegenseitig wie Genies behandeln. Eine solche Show und eine solche Gruppe wirken wie eine Sensation. Grundlage dafür ist natürlich, dass wir uns unserer Eitelkeiten entledigen müssen. Es geht nicht um die Anerkennung, die ich auf der Bühne bekomme, sondern es geht um die gesamte Show.
Und so sehen wir, dass die Technik, groß zu reagieren, nur eine Seite der Medaille ist. Wir brauchen auch eine mentale Haltung zu unseren Mitspielern, die sie befreit von der permanenten Selbstkontrolle. Es ist als gehe man mit dem Mantra „Mein Mitspieler ist ein Genie“ auf die Bühne. Eine Show, die mit dieser Kraft gespielt wird, wächst über sich hinaus.

Kein Wunder

Handaufleger, Homöopathen,
Wunderheiler aller Arten.
Tibet-Salze, Wasser-Schwingung.
Nur der Glaube ist Bedingung.

Schicksals-Lenkung durch die Sterne.
Böse Pharmazie-Konzerne.
Lieber Zuckerkugeln schlucken
als denen Geld in’ Rachen spucken.

Wi-Wa-Wunder bitte sehr.
Ick wunder mir über jar nischt mehr.
Quacksalbern das Ohr geliehn,
die aus der Tasche Geld dir ziehn.