Die dritte Sache muss nicht auf die Bühne

Zwei kurze Vater/Tochter-Szenen mit anschließender Analyse und Diskussion.
Entscheidend ist, dass wir das Dritte (hier den Boyfriend bzw. die Mutter) gar nicht zu sehen brauchen. Und als Publikum vermissen wir sie tatsächlich nicht. Den das Dritte ist hier Symbol für das, was zwischen den beiden Spielern läuft.
Das heißt aber auch, dass wir als draußen stehende Spieler Raum geben müssen und nicht als nervige Mutter oder säßer Boyfriend auf die Bühne springen müssen. Für flinke Spieler bedeutet das Disziplin-Üben.
Poesie des Storytelling: Der Zuschauer baut die Geschichte im Kopf zusammen.
Ich empfehle vor allem, die Analyse von Randy nach der zweiten Szene.

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Scheiter heiter oder bewusst scheiße spielen

Die Haltung, dass man heiter scheitern kann und dass das sogar für andere heiter sein kann, wenn man selber heiter bleibt, hat sich bei manchen Improspielern derart verfestigt, dass sie manche Games oder Rollen bewusst schlecht spielen, um des Lachers willen. Am Schlimmsten ist es beim Singen: Natürlich honoriert das Publikum oft schon den Ansatz. Dennoch: Gib dein Bestes. Du kannst scheitern, aber es nicht wenigstens zu versuchen, ist kein Scheitern, es ist billig. Und ist langfristig sogar der bessere Weg zum Herzen des Zuschauers, der das Mühegeben ja auch honoriert.

Streit

Die alte „Kein Streit“-Regel noch mal gegen den Strich gebürstet: Wie können wir einen schönen Streit spielen.
Wenn man ihn musikalisch nimmt, kann er die Dynamik einer Beethoven-Sonate haben.
Außerdem wird’s produktiv, wenn wir keinen Ja-Nein-Streit haben, sondern Inhalt hinzufügen und uns ständig aufeinander beziehen.

309. Nacht

7 Uhr. Ich werde vorm Weckerklingeln wach. Stehe besorgt auf und prüfe den Himmel auf dem Balkon: Kein Wetterumschwung. Regen und keine Ende in Sicht. Soll ich’s vielleicht doch wagen? Keine Frage – irgendwie würde ich durchkommen. Aber dann, auf den letzten 10 Kilometern das Geacker, ohne noch genügend innere Wärme zu haben. Und dann liege ich womöglich eine Woche flach. Ich entscheide mich dagegen. Beim Frühstück kommen wir Zweifel. In meinem Kopf sehe ich die Läufer bei ihren Vorbereitungen. Im Tiergarten riecht es jetzt nach Franzbranntwein und Pisse, aus den Lautsprechern die peinliche Bumsmusik, freundliche Jugendliche auf den Kleidungscontainern, die das alles auf sich nehmen und eigentlich kaum etwas vom Geschehen mitbekommen. Die ohnehin stets matschigen Wiesen werden jetzt versumpft sein. Die Läufer kleben sich ab, machen sich warm, betreiben ihre persönlichen Rituale, ziehen sich die Mülltüten über, um warm zu bleiben. Ob ich vielleicht doch noch losgehe. Ich könnte es noch schaffen. Schließlich habe ich fast 100 Euro für die Anmeldung bezahlt. Ein dummer Gedanke. Als ob der Betrag etwas daran ändert, wenn ich nachher im Bett meine Grippe auskuriere.
Setze mich zum Trost ans Klavier. Meine neue Aufgabe: Mozarts Es-Dur-Sonate 1. Satz, KV 282. Perlende Dreiklänge in die linke Hand bekommen.

*

Desweiteren lehrt der sterbende Vater den Wert des Reichtums, die Notwendigkeit der Barmherzigkeit, die Ehrfurcht vor Älteren, sich vor Weingenuss in Acht zu nehmen.

Dan schwanden ihm die Sinne, und er schwieg eine Weile; als er wieder zu sich gekommen war, bat er Gott um Verzeihung für seine Sünden, sprach das Glaubensbekenntnis und ging ein in die Barmherzigkeit.

Einen Atheisten müssen doch derartige Parallelen zwischen Christentum und Islam erstaunen.

Dem Verstorbenen schreiben sie aufs Grab:

Aus Staub geschaffen tratest du ins leben
Und hast der Sprache edle Kunst erlernt;
Du kehrtest heim zum Staube jetzt als Toter,
Als hättest du dich nie vom Staub entfernt.

Kurze Zeit darauf verstirbt auch die Mutter. Alî Schâr versucht, Handel zu treiben, jedoch ohne Glück. Da

schlichen sich die Bastarde mit List bei ihm ein und gesellten sich zu ihm, bis er mit ihnen schlechte Dinge trieb und abseits vom rechten Wege blieb; und er schlürfte dein Wein aus Bechern ein, und zu den Mägdelein ging er früh und spät zum Stelldichein.

Hast du dein ganzes Leben lang
Für dich gesammelt und gerafft –
Wie hast du dann Genuss an dem,
Was du gesammelt und geschafft?

Bald hat er sein ganzes Geld verprasst, und seine Bastard-Freunde, an die er sich nun wendet, verleugnen ihn.

Dann ging er zum Basar der Kaufleute.

308. Nacht

Null Uhr, es ist ziemlich frisch. Radle durch Mitte. Seit langem mal wieder durch die Oranienburger Straße. Kaum noch etwas wiederzuerkennen. Die letzten 10 Jahre haben so viel verändert wie die 10 Jahre zuvor. In den Räumen der Assel ein Luxus-Schuh-Geschäft. Selbst wenn es 50 Jahre besteht, wird es nie ein Tausendstel an Menschen glücklich machen, wie die Assel früher in einem Monat.

Vor der Synagoge stehen nie Nutten, auch nicht auf der gegenüberliegenden Seite. An wen muss man sich da als Synagogen-Verantwortlicher wenden?
Auf der Brücke Bodestraße die russische Akkordeonistin, der ich schon vor 15 Jahren dort immer auf dem Weg zur Uni begegnet bin. Gebe ihr 50 Cent und spreche sie zum ersten Mal an, nur kurzer Wortwechsel; erfahre, dass sie aus Moskau stammt und in der Nähe wohnt. Aber eigentlich wollen wir beide nicht reden. Fahre weiter. Die historische Mitte fast ausgestorben, und ich bin erschüttert wie schon früher, wenn man sich der Einmaligkeit dieses einsamen Moments bewusst wird. Ich stehe am Berliner Dom, der angemessen beleuchtet ist und bin jetzt der Einzige, der das sieht. Was für ein Luxus!

*

Am Tisch des Kalifen el-Mamûn gibt es eine Sitzordnung. Und mit jeder weisen Antwort, die der Fremde dem Kalifen gibt, rückt er eine Stufe höher, d.h. näher an den Kalifen.

Dann rüstete man zum Trinkgelage; die heiteren Tischgenossen kamen zuhauf, und der Wein begann seinen kreisenden Lauf.

Der Weise aber verweigert sich und erwidert auf die verwunderte Nachfrage des Kalifen:

"Wenn dein Knecht Wein tränke, so würde der Verstand weichen und die Torheit ihn erreichen."

El-Mamûn belohnt ihn für diese Weisheit mit hunderttausend Dirhems, einem Ross und prächtigen Gewändern.

Ob er zu saufen aufhört, wird hingegen nicht berichtet.

*

Die Geschichte von Alî Schâr und Zumurrud

In Chorasân lebte ein Kaufmann, der, als er merkt, dass er stirbt, seinen Sohn zu sich ruft, und ihn zu Misstrauen ermahnt:

"Werde mit keinem Menschen vertrauter, als es sich gebührt."

In deiner Zeit lebt keiner, des Freundschaft man erstrebet,
Kein Freund, der Treue wahrt, wenn das Geschick betrügt.
Drum leb für dich allein, verlasse dich auf niemand!
Mein Wort ist guter Rat für dich, und das genügt.

Soziologisch gesehen, sind Vertrauen und Misstrauen zwei Seiten einer Medaille. Die Medaille heißt Reduktion von Komplexität: Angesichts der Unfähigkeit, genügend Informationen zu haben, entschließt man sich, zur Erwartung, dass Alter im Sinne von Ego handelt. Oder (im Falle von Misstrauen), dass er das nicht tut. Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen befähigen zu auf Intuition beruhenden Entscheidungen.
Psychologisch hingegen sind weniger misstrauische Menschen meist im Vorteil. So konnten in einer Studie die misstrauischen Probanden weniger gut Lügner am Gesicht erkennen.

Doch auch folgendes gibt der Vater mit auf den Weg:

Es bietet nicht zu jeder Zeit und Stunde
Sich uns Gelegenheit zu guter Tat.
Wenn sie dir möglich ist, so tu sie eilends,
Eh sich die Möglichkeit entzogen hat.

Den Zuschauer abholen. Oder nicht?

Muss man den Zuschauer wirklich „abholen“? Es ist sozusagen der kürzeste Weg des Entertainment und der Komödie: Ich beginne mit einer alltäglichen Situation, die ins Wanken gerät und in der Groteske völlig aus den Fugen geraten kann. Wir brauchen, so die Annahme, die stabile Plattform, um sowohl für uns als auch für den Zuschauer den Rahmen abzustecken. Aber können wir ihn nicht auch ein wenig zappeln lassen? Zugegebenermaßen ist das Ungenaue, das Verwaschene, Abstrakte oft ein Zeichen improvisatorischer Schwäche: Der Spieler fürchtet sich zu definieren oder ist im schlimmsten Fall dazu gar nicht in der Lage. Konkret zu sein, erfordert Konzentration, gestalterischen Willen und gestalterische Kraft. Vagheit hingegen entlastet. Der Spieler tut so als ob, und was übrig bleibt, ist heiße Luft.
ABER: In einer perfekten Improwelt – Könnten da nicht die Spieler mit einer Fülle verrückter Andeutungen beginnen, die an sich formal gesehen, stimmig sind, die aufeinander aufbauen.
Der Zuschauer verlässt den Saal irritiert, diskutiert mit seiner Begleitung, man regt sich auf. Und dann nachts wacht er schweißgebadet auf: Er hat verstanden.

Die zehn Comedy-Regeln

Aus Scott Sedita: „The Eight Characters of Comedy“

  1. Wähle eine spezifische Figur mit spezifischen Merkmalen.
  2. Häng dich voll in deine Figur rein.
  3. Gute Comedy hat ihre Wurzeln in Schmerz und Konflikt.
  4. Füge kein Wort hinzu, ändere nichts, lass nichts weg; und folge der Interpunktion.
  5. In der Comedy wird nicht geflüstert. Sprich laut und deutlich.
  6. Halte das Tempo.
  7. Finde den Witz.
  8. Halte fürs (Zuschauer-)Lachen inne.
  9. Wenn ein Witz fällt, unterlasse körperliche Bewegung.
  10. Hab Spaß.

Man denke nach und übernehme, was passt. Erläuterung zu Punkt 9: Physische Bewegung ist immer auffällig und bindet Aufmerksamkeit, sie verwässert also den Gag.

Präsentation oder Repräsentation, Bernhardt vs. Duse

In ihrem Buch „Respect for Acting“ unterscheidet Uta Hagen representational und presentational acting.
Das Repräsentations-Schauspiel, wie wir es im Spiel von Sarah Bernhardt sehen, setzt auf äußere Effekte. Das Präsentationsspiel ist „natürlicher“ und kleiner.
„Bernhardt’s audience stood to scream and shout its admiration. Duse’s audience wept.“

Das führt uns wieder auf die Frage zurück, was Schauspiel ist und was es kann. Und obwohl man tendiert, ihr zuzustimmen, beantwortet Hagen hier ein paar Punkte nicht.
Schauspiel ist ja weiterhin ein Spiel, d.h. als Schauspieler brauche ich zwar einen tiefen Zugang zu meiner Gefühlswelt, benötige aber genauso eine Flexibilität, um mit diesen Gefühlen umzugehen. Es hilft ja nichts, wenn ich mich als Schauspieler dermaßen in die Rolle fallenlasse, dass ich z.B. vor Rührung hemmungslos schluchze und mich nicht mehr einkriege oder, wie auch Hagen es beschreibt, meiner Mitspielerin den Arm quetsche, „weil ich das gerade so fühle“.
Und ich brauche ein drittes Auge, schon für die technischen Gegebenheiten: Meine Stimme muss im Theater zu hören sein, auch wenn ich „leise“ spreche. Ich darf mich als Filmschauspieler nur im Kamera-Feld bewegen. Als Impro-Schauspieler kommen noch Elemente wie Wachheit für die Story hinzu. Das alles ist kein Entweder/Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch.
Bediene dich also deiner emotionalen Palette, soweit du es kannst. Zeig uns deine innere Wahrheit. Die Grenze ist erst dort erreicht, wo du nicht mehr spielen kannst.