Impro-Tips für Frauen

  1. Bändigt eure Haare. Ihr geratet in einen automatisierten Tiefstatus, wenn ihr ständig damit beschäftigt seid, euch die Haare aus dem Gesicht zu schieben.
    Tragt keine Accesoires, die immer wieder gerichtet werden müssen.
  2. Tragt bequeme Schuhe und einen BH. Röcke schränken bekanntlich die Bewegungsfreiheit ein, Miniröcke noch mehr.
  3. Versucht nicht, niedlich zu sein.
  4. Seid ausreichend bekleidet. Arschgeweih und Bauchnabelpiercing sind für offstage OK.
  5. Fangt offstage keine Stutenbeißereien an. Eure Bühnenpartnerinnen müssen nicht eure “besten Freundinnen” sein.
  6. Wenn du die Älteste im Team bist, wirst du wahrscheinlich öfters als “Mutter” angespielt. Nimm’s nicht persönlich. Sei schneller und nenne deine Mitspielerin “Mutter”.
  7. Wenn du als “Prostituierte” angespielt wirst, nimm die Rolle ernst. Wirst du vom selben Typen drei mal hintereinander als “Prostituierte” angespielt, sprich mit ihm nach der Show darüber, dann lacht und trinkt ein Bier.
  8. Wenn ihr eine reine Frauentruppe seid, müsst ihr das nicht im Namen deutlich machen.
  9. Wenn ihr das Gefühl habt, die Typen geben euch nicht den Platz auf der Bühne, der euch zusteht, nehmt ihn euch.
  10. Seid nicht höflich auf der Bühne: Geht ins Gegenteil eures Partners (charakterlich und statusmäßig), Habt keine Angst, den anderen zu unterbrechen.
  11. Nicht jede Show muss eine Liebesszene enthalten.
  12. Wenigstens einmal ausprobieren, wie es ist, auf der Bühne aggressiv zu sein.

18.-20.11.2006

Sa, 18.11.06

Auch H. will Agent für die Chaussee spielen, und ich habe inzwischen nichts dagegen, wenn mehrere gleichzeitig ihre Fühler ausstrecken. [Nachtrag 2008: H. wird nichts unternehmen.]
Fast den ganzen Tag bin ich mit der Organisation der Silvesterfeier beschäftigt. Studieren der beiden Verträge, Telefonate mit R., Nachbessern der Verträge, Kalkulationen.
C. hat die Impro-Pause genutzt und schlägt eine neue Langform vor. Ich bin überrascht.
Diskussion im Schusterjungen mit Volker, Kathrin, Heiko: Kann man trainieren, sich Gesichter zu merken? Die Höhe des allgemeinen Alkoholpegels ist wie immer umgekehrt proportional zum Niveau des Gesprächs.

Keine Proust-Lektüre von Jochen

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So, 19.11.06

Impro-Marathon: 15.30 – 21.30 Uhr erst mit den Wrestlern, dann mit meiner Impro-Gruppe. Erstaunlich manchmal die Talente, und zwar in beiden Gruppen. Dann wieder völlig überraschend, wenn das Gespür für dramaturgische oder spielerische Momente fehlt, und zwar besonders dann, wenn man selbst nie damit Probleme hatte.
Lasse den Abend noch mal im Kültürzeit ausklingen. Habe das Gefühl, dass das Essen schlechter geworden ist. Dass sie die Musik immer wieder laut stellen, ist kein gutes Zeichen. Als wollten sie mit lauter Musik von der mangelnden Qualität des Essens ablenken.
Später noch die erste Hälfte von Eyes Wide Shut. Bis dahin sehr merkwürdige Adaption von Schnitzlers Traumnovelle. Seltsames Spiel mit Farben und Raum. Die Charaktere glaubwürdig, im Gegensatz zum Buch. Die Eifersucht schön gezeigt und die sexuelle Besessenheit. Man will über die Stränge schlagen, aber dennoch nichts aufgeben. Die Brutalität des kaum verkniffenen Lachens bei Kidman, oh das kenne ich auch von Frauen, die mich verließen.

Jochen trägt seine Aufzeichnungen vom 20.11. zusammen. Unklar, warum sich Buch und Blog beim Datum wieder widersprechen.
2002: Im Fernsehen ein Toilettenmann von Hagenbeck in Hamburg. Er trinkt ein Glas Wasser aus seiner Kloschüssel, um zu beweisen, wie sauber es bei ihm ist.
Erinnert an den Chef jener Firma, die damals eine Zugladung Milchpulver durch die BRD hin und her gondeln ließ. Dieser Chef entblödete sich nicht, einen großen Haps Milchpulver vor laufenden Kameras zu schlucken, um dessen Ungefährlichkeit zu beweisen. Die Ironie – gerade die Unnatürlichkeit dieses Vorführ-Effekts wirkte abschreckend. Ich würde schon von einem halben Teelöffel unverstrahltem Milchpulver drei Tage Durchfall bekommen.

J.S.: "Albertine kennt nicht nur die Tochter Vinteuils, sondern hat auch mit deren Freundin eine Seereise unternommen und wird sie wiedersehen. Jetzt wird dem Leser endlich klar, warum wir im ersten Buch Zeuge der lesbischen Fensterszene in Vinteuils Haus geworden sind, denn diese Enthüllung dürfte seiner Eifersucht einen Schlag versetzen, ist er doch sowieso schon davon überzeugt, daß Albertines Neigungen in Gomorra siedeln, und dort sind ihm als Mann bekanntlich die Hände gebunden."
Gomorra? Wofür steht denn Gomorra? Vor allem auf Sodom beziehen sich Neues und Altes Testament sowie spätere Referenzen – Bruch der Gastfreundschaft und Homosexualität.

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Mo, 20.11.06

Diskussion, ob wir bei der Brillenschlangenparty ungewöhnliche Orte ausprobieren wollen. Wir diskutieren anscheinend wieder zu prinzipiell statt konkret.
M. wird, nachdem er eine Bühnenpause eingelegt hat, auch wieder juckig, denn immerhin macht er Technik für uns und bleibt dadurch mit uns verbunden. Ein wenig scheint er unter post-examinalem Stress zu leiden.
Treffen zur Gründung eines Impro-Verbands, der die Interessen deutscher Impro-Theatergruppen vertreten soll. Aber wer entscheidet über Qualitätskriterien? Soll beraten werden? Soll es eher ein Dachverband ^^^^^^ oder eine Plattform ______ werden?

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J.S.: "Der Brief kam vom SOS-Kinderdörfer-Fonds aus München: ‘Sehr geehrter Herr Schmidt, Weihnachten ist die Zeit, in der kein Mensch gerne alleine ist.’ Und da mußte ich irgendwie lachen, weil sie mich so nett an mein Unglück erinnerten."
Schrieb er nicht vorher, dass ihn seine Eltern besuchen wollten?

J.S./M.P.: "Marcel hatte ja damals in Montjouvain durchs Fenster die leicht sadomasochistische Szene zwischen Vinteuils Tochter und ihrer Freundin beobachtet und in seinem Innern eingelagert. Als Albertine nun beiläufig erwähnt, daß sie mit ebendieser Freundin befreundet war, erscheint das Bild wieder ‘…zu meiner Marter, zu meiner Züchtigung, wer weiß?’"
Was quält ihn eigentlich genau? Die Vorstellung, Albertine sei eventuell lesbisch? Oder die Ahnung, er könne selbst s/m-veranlagt sein?

17.11.06

Das erste abgearbeitete Geburtstagsgeschenk ist, neben zwei Tafeln Schokolade, die Serie "the office", von der ich jetzt fast täglich eine Folge gesehen habe. Und ich weiß immer noch nicht, was ich davon zu halten habe. Eine brillante Idee schön umgesetzt, gute Schauspieler, denen sicherlich eine Menge Freiheit in der Umsetzung gegeben wurde. Selbst die ekelhaften Charaktere sind intelligent, was gerade der Punkt ist, weshalb sie so gruselig sind. Und dennoch – es zieht mich runter. Ich bin hinterher jedesmal deprimiert. In der letzten Folge der zweiten Staffel kann man zwar wirklich Mitleid bekommen mit David und dem Pärchen, das sich nie kriegen wird. Aber es bleibt immer ein schaler Geschmack zurück. Vielleicht kann man ja so etwas nur gucken, wenn es einem gerade blendend geht oder wenn man selber jegliche Hoffnung verloren hat. Die richtige Serie zur falschen Zeit.

Fr, 17.11.06

Euphorisches Feedback einer Agentin, die de Chaussee vermitteln will. [Nachtrag 2008: Auch dieser Ansatz versickert.]
Die erste Staffel des Umzugs in die Wohnung meiner Schwester beginnt heute schon. Meine Eltern nehmen fünf Kisten von mir mit.
Gespräch mit R., der berichtet, sich mit seiner Ex von vor 5 Jahren seit langem mal wieder getroffen zu haben. Alles harmlos, aber als ihm beim Umarmen ihr Geruch in seine Nase stieg, musste er sich schon zusammenreißen, um nicht zu weinen. Diesen Hunger habe er nie wieder gespürt. Versuche, ihn zu trösten. Alles habe eben seine Zeit, und mit seiner jetzigen Flamme sei er doch glücklich. Ja eben, meint R., das sei es ja gerade, deshalb habe ihn dieses Erlebnis so verschreckt.
Surfen bei Youtube, und dann finde ich endlich eine schöne uralte Aufnahme der Stones. Ihr I’m Alright ist fast Punk. Die drei Silben brüllen sie raus, immer und immer wieder, dazu ein bisschen improvisiert, aber sie verstecken ihre Sexualität nicht. Ihr Schreien ist keine Gebärde der Hässlichkeit, sondern es sind Brunftschreie. Ich schicke es an C., von dem ich 1986 erfahren habe, worum es bei den Stones wirklich ging.
Der Internetbursche, der unsere Texte verwerten will, dem ich aus Höflichkeit geantwortet hatte, listet sieben Vorteile auf, die "die Brauseboys" hätten, wenn wir unsere Texte ins Netz stellen. Ich lächle entspannt.
Leicht verspätete Geburtstagsgrüße aus Beirut. Wie ich mich freue!
Abends Tanzworkshop. Entspannung zu Beginn. Ich schlafe fast ein. Dann aber wieder gut neue Impulse.
Abends Dunkeltheater. Ein zum großen Teil angeheitertes Publikum. Aikido-Ansatz. Deren Energie in die eigene umwandeln und dann etwas Gutes draus machen.

Keine Proust-Lektüre bei Jochen

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14.11.-16.11.2006

Im Hausflur ein Doppeljahrgang 2005/2006er Men’s Health zum Mitnehmen. Greife mir ein Heft heraus. Es ist schwer, dieses Heft zu fassen zu bekommen. Es ist ja nicht völlig doof. Doof vielleicht auf eine spezielle Männer-Art. Listen, Listen, Listen. Bildung, Konsum, Gesundheit – alles dient dem Protzen. Und so wie bei healthy living immer eine sanft lächelnde 30jährige im leichten Farben uns anlächelt, protzt bei Men’s Health anscheinend immer derselbe Waschbrettbauch vom Cover. Gibt es Männer, die sich davon kirre machen lassen, so wie Diät-Fanatikerinnen?
Der Idealtyp der Men’s Health ist ein sportiver Frauenversteher, der ein paar dufte Gerichte zusammenzaubern kann, der teure Uhren trägt, einen lockeren eleganten T-Shirt-und-Anzug-Stil bevorzugt, der seine Freundin liebt, aber am laufenden Band Weiber aufreißt, der im Prinzip gesund lebt, aber eine gute Zigarre zu schätzen weiß, der mit seinen Kumpels in angesagten Kneipen Fußball guckt, allein in den Ki- oder Surf-Urlaub fährt und weiß, was PMS ist und wer Dostojewski war.
Der wahre Leser des Heftes schlägt sich wahrscheinlich seit Jahren mit einem Bauchansatz herum, kompensiert Liebe mit Geldgeschenken, ist regelmäßiger Kunde des nahegelegenen Bordells, hat einen uneingelösten Gutschein fürs Fitness-Studio, fliegt im Sommer in die Dominikanische Republik, fährt einen Wagen zwischen Opel und BMW und glaubt, Stil habe etwas mit Geldausgeben zu tun.
Artikel, die mich interessieren:
– "In vierzehn Tagen zur Strandfigur" – Ich kann mir nicht helfen, für solche Instant-Lösungen bin ich auch immer zu haben.
– Fitness auf dem Kinderspielplatz – Preise für Fitness-Studios finde ich meist zu teuer, und die Betreuer liegen mir nicht.
– Retten Sie Ihren Urlaub! Tödliche Gefahren, die von Bibern, Seeanemonen und Würfelquallen drohen.
– Sex – was Frauen uns verschweigen.
– Was man über Hunde unbedingt wissen muss (Aber das auch nur, weil ich gerade dabei bin, meine Kynophobie zu überwinden
Artikel, die ich nur auf einer einsamen Insel lesen würde, wenn es denn keine andere Lektüre in den 30 Jahren meines Aufenthaltes dort gäbe:
– Stärker als Jan Ulrich
– Das macht Sie zum Grillgott
– Die besten Anmachtipps – Die 5 leckersten Dressings
– Genug geschwitzt – Die effektivsten Strategien gegen nasse Achseln, feuchte Hände und Schweißfüße
– Das wird ihr Flirt-Sommer – Was Frauen wirklich von Ihnen wünschen
– So bekommen Sie Ihre Versagensängste im Job in den Griff
– Hier finden Sie die schönsten Buchten
– Nicht schon wieder ans Meer! Ein Biwak an der Eigernordwand
– Mode-News
– Geschickte Outfits
– Frischer Wind für Ihre Garderobe
– Digitalkameras für die Weltmeisterschaft
– Der Soundtrack für die heißen Tage
– "Ich kann keinen Fußball mehr sehen"
– Unser Fußball-Special zur WM

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Di, 14.11.06

Eine Mail von Steffis amerikanischer Freundin:
> Ich geniesse noch mein Chausse-der-Entusiastin CD. Ich arbeite jetyt  bei einer Firme wo ich Forschung auf deutsch mache. Ich habe das CD zu meinem Chef geliehnt. Er dachte es war totally cool.
Meine Klagen über die Weddinger Comedy-Show beantwortet Jochen mit dem Hinweis auf "die beiden ibsen-sachen an der schaubühne"
Honeckers FDJ-Ausweis wird bei Ebay angeboten.
Ersteigere einen guten Rasierpinsel für 2,20 Euro.

Die Übersetzung des Seneca-Textes hält Jochen vom Bloggen ab. Der entscheidende, schwierige Satz:
"Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar te quaerit."
Wie würde man an diesen Satz herangehen, wenn man, wie ich, kein Latein kann? Ich versuche es. Zunächst, Wort für Wort, das eine oder andere hat man schon mal irgendwo gehört.
– Caeasaris – Kaiser – plural?? dekliniert?
– Prima – erste/r/s
– tempora – zeit(lich)
– loquitur – ?? Vielleicht irgendwas mit "Ort", von wegen "Lokus" itur kennt man von Abitur. Etwas erreichen? Den Lokus erreichen?
– nec – ?? Völlig unklar. Erinnert mich an "Hic" und das "N" verneint etwas. Vielleicht "Hier nicht"? Unwahrscheinlich.
– quod – Bekannt aus "Quod erat demonstrandum" ("Was zu beweisen war"), also "Was"
– te – ?? Vielleicht "dich" wie im Spanischen
– imitari – imitieren. Das "i" als Suffix könnte, so wie im Persischen und im Russischen auf die 2. Person Singular hinweisen.
– velit – "drehen". Bekannt aus dem ersten Lied von Carmina Burana. "Oh fortuna, velet luna"
– exemplar – Beispiel
– te – s.o.
– quaerit – ?? Auch völlig unklar. Wenn ich das Wort hin und her kaue, denke ich an "Aqua" und "equal". Vielleicht irgendwas mit glatt.
So. Was kommt dabei durch reine Aneinanderreihung heraus?
Kaiser erste zeitlich Ort erreichend, was du imitierst drehen, Beispiel dich glatt.
Daraus baue ich den Satz:
Egal, wie du dich auch auf den Kopf stellst um sie zu imitieren, die Kaiser sind doch immer schon vor Ort und plätten dich.
Klingt sinnvoll. Ich google und muss feststellen, das Jochen das Wort "extra" vergessen und der Satz den Zusatz "principatus tuus ad gustatum exigitur" hat. Die Übersetzung lautet:
Niemand sucht das Vorbild, das er dich nachahmen sehen möchte, außerhalb deiner: deine Regierung als Princeps wird nach dem Vorbild der eben gekosteten gefordert.
Ah ja, Macchiavellische Tipps statt "Hase und Igel". Aber ich hab’s wenigstens versucht.

Charlus weiß nicht (oder gibt vor, nicht zu wissen), was die anderen über seine Invertierung wissen. Man spottet über ihn und (M.P.:) "derjenige, welcher liebt, gezwungen ist, immer von neuem einen Versuch zu machen und sein Gebot dauernd zu erhöhen.

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Mi, 15.11.06

Jochen sendet uns Show-Inspirationen in Form der Diskussionen bei der BL-Show.
Anfrage von Comedy-Central. Ich sage zu. Erst mal nur per Internet.
A.G.: "gestern verstrich der Stichtag zwecks Abgabe der Urlaubsgeschichte." Hatte mich nicht überwinden können, über meine erste Russlandreise im November 1989(!) zu schreiben, meine einzige Pauschalreise.
Wieder unschöne Show und unschöne Stimmung bei BÖ. Was nur zieht uns hier runter. Der Geschmack geht zu weit auseinander, die Publikumszahlen sind nicht befriedigend, es gibt nicht genügend Geld, was als Kitt dienen könnte.

Jochen im Internetcafé in Berlin. Wieso das? Im Buch sind wir bei "Mittwoch". Der Original-Post verrät allerdings Donnerstag 19.21 Uhr, also kurz vor Chaussee-Beginn.
J.S: "Man wartet ja in seinem Leben sowieso ständig darauf, dass sich endlich der Moderator zu erkennen gibt, und es heißt ‘Verstehen sie Spaß?’" Der entscheidende dramaturgische Fehler bei Truman-Show bestand meines Erachtens darin, dass man als Zuschauer schon wusste, worauf alles hinauslief. Die Perspektive von Truman wäre viel interessanter gewesen: Ein fröhlicher Mensch, dessen bester Freund immer im richtigen Moment mit einem Sixpack ankommt, der einen gut bezahlten Job hat, vielleicht ein bisschen ängstlich, und dessen Überängstlichkeit ihn schließlich in eine handfeste Paranoia treibt. Und erst am Schluss löst sich unsere Unsicherheit auf: Sie sind hinter uns her. Alle!

Nun auch noch Duelle. Charlus phantasiert eines herbei, um Morels Ehre zu retten.
Dazu fällt mir gar nichts mehr ein.

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Do, 16.11.06

Alle paar Monate bekommt man Anfragen von irgendwelchen Portalanbietern. Heute wieder einer, dem die Eurozeichen schon den Augen zu stehen scheinen. Die Enthusiasten sollen ihre Texte als kostenpflichtigen Download anbieten. Dabei hatte man doch geglaubt, dass der Knall beim Platzen der Internetblase laut und deutlich zu hören war.

Erstmals seit Wochen wieder Laufen. Das extrem milde Wetter hat mich praktisch mit der Nase drauf gestupst: Keine Ausreden mehr! Eine knappe Stunde sehr langsames Gewöhnungsjogging mit positivem Effekt.
Abends Chaussee. Eine Besucherin bemerkt "kein einziger schwacher Text dabei."
Die Mozartanekdote diesmal nur zwei Sätze. Die Dreistigkeit der Kürze liebt das Publikum immer. Diesen Satz könnte man in Großbuchstaben auf ein Schild malen. Robert – Alkoholsucht und Schachmatt, Bohni im Philosophenzoo und der Verlierertext, Stephan über Französischlehrerin und Frauen mit Kindern, denen er Glückwunschbriefe schreibt, Volker mit dem traurigen Lied und neuer Freizügigkeit in der Bahn, Jochen übers Zeitunglesen und für die Zeitung schreiben, ich mit dem Sitten-Text, Schneewittchen-Video und Mozart. Am offenen Mikro A. mit ordentlichem Slamtext, aber zu brav und unaufregend, wir belohnen sie mit Bier und dem Hirnmasturbator.

Jochen beobachtet eine tote Maus im Stadion: "Eigentlich hat die Maus es gut, ich quäle mich hier, meinen Körper zu stärken, und sie hat es hinter sich und kann relaxen und muß niemandem mehr zu gefallen versuchen."

Workshopnotizen

Ich ermutige die Schüler, sich Notizen zu machen, Gedanken auszuformulieren, oder ein Impro-Journal zu führen. Aber nicht während des Workshops! Der Workshop hat seine eigene Dynamik, und die liegt im körperlichen und emotionalen Erfahren und im mündlichen Austausch. In der Regel ist in den Pausen und nach dem Unterricht genügend Zeit für Notizen und Stichpunkte.

12.11.-13.11.06

So, 12.11.06

Per E-Mail Glückwünsche von YesAnd (automatisch generiert) und von Andreas.
Geburtstagsgeschenke bei der Familie sind hauptsächlich Gutscheine, die ich demnächst abarbeiten muss.
Micha und Volker gewinnen den Poetry Slam als Team.

Posts wieder asynchron. Dieser Eintrag im Blog erst am 13.11.
Jochens Gespräch mit der Mutter, die an psychomatischer Migräne leidet. Streckenweise wirkt es fast wie ein Selbstgespräch des besorgten, hypochondrischen Jochen mit seinem heiteren, gelassenen Alter Ego.

Albertine und Marcel unterwegs beim Kirchenbetrachten. Unterschiede im musikalischen, Gemeinsamkeiten im architektonischen Geschmack. J.S.: "Wie sich die Zeiten gleichen, der Mann klagt über den Musikgeschmack seiner Frau. Viel zu selten sucht man sich ja seine Partnerinnen nach ihrem Gebäudegeschmack aus." Überhaupt: Schnell die Gemeinsamkeiten entdecken und wertschätzen, die Unterschiede achten.
J.S./M.P.: >>"die Flaschen brachten wir zurück". Muß man in einem Roman erwähnen, daß man die Flaschen zurückgebracht hat?<< Auf der Suche nach "Müller haut uns raus", um ein ähnliches Detail zu finden, muss ich feststellen, dass ich das Buch verborgt habe, und ich weiß nicht, an wen.
Als Marcel zu Hause ankommt, "findet er sogar noch ein Telegramm von ihr vor, das sie von unterwegs geschrieben hat (Telegramm klingt auch besser als SMS)". Und Depesche klingt besser als Telegramm.

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Mo, 13.11.06

Ich sortiere weiter großen Kram aus, den ich meinen Umzugshelfern nicht zumuten will. Schenke Tube meine Vermona-Orgel, die ich mal dem Kurzzeit-Keyboarder von Bolschoi Rabatz im Dezember 1989 für 200 Mark abgekauft habe. Stelle meine alte Liege bei Ebay ein. Die hatte noch meinem Vater gehört. Baujahr 1964(?). Habe von 1974 bis 1997 drauf geschlafen, womöglich bin ich darauf sogar gemacht worden. Jetzt muss sie weg. In den letzten Jahren stand sie als Feng-Shui-Black-Hole immer nur rum, wurde als Ablage und Gästebett benutzt. An ihrem Stöhnen würde ich sie aus Hunderten wiedererkennen.
Und wo ich mich schon bei Ebay rumtreibe, kaufe ich vier große Pizzateller (unbunt), in Erwartung angenehmer Pizza-Abende.
Nachdem wir das alte schließen mussten, stelle ich ein neues Enthusiasten-Gästebuch ein. Betreiber Webtropia. Aber schon bald gibt’s wieder Spam und Webtropia wird von den fiesen Pop-Up-Blocker-Austricksern "Motigo" übernommen.
Steffi schreibt eine Szene.

Balkan-Black-Box-Festival. Jetzt, da er es darf, hat Jochen keine Lust, zu dem Thema zu schreiben. Sich zur verpflichteten Arbeit zu überwinden ist immer schwerer, so wie bei Tom Sawyers Zaun.

J.S.: "Immer öfter taucht bei Marcel der Wunsch auf, sich an die Arbeit zu machen, wobei nicht gesagt wird, was er unter Arbeit versteht. Aber man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man vermutet, daß das Ergebnis dieser Arbeit am Ende das Buch sein soll, das wir in der Hand halten." Und das kommentiert das Obenstehende mehr als genug.

8.11.- 11.11.2006

Mi, 8.11.06

Ebay. Mit vollbepacktem Rucksack zur Post. Je 28 Euro für Frankierung und für neue Briefmarken.
Mir fehlt die Meditation des Laufens.
Langweilige Impro-Show. Warum soll ich so etwas spielen? "Ja, Sie kommen hier durch, aber nur unter einer Bedingung…", improtypisches Gelaber. Warum soll ich mich auf der Bühne von X immer wieder schlagen lassen? Wie soll auf der Bühne etwas entstehen, wenn schon von Anfang an negativ gespielt wird?
Mir fehlen Energien, stattdessen lulle ich mich mit Youtube ein, in der irrigen Annahme, die kleinen Freuden würden mich inspirieren. Aber im besten Falle kichere ich ein bisschen.

J.S: Laut Buch keine Proust-Lektüre. Die Synchronizität von Blog und Buch ist dadurch wieder hergestellt.

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Do, 9.11.06

Wieder einmal länger als geplant sitze ich daran, einen kleinen Song auf dem QY zu basteln. Nachdem ich die Zeilen der letzten Woche komprimiert und in lockere Reimform gebracht habe, wirken sie auf dem Papier gar nicht mehr witzig, schon gar nicht, wenn ich sie in halbwegs lesbares Deutsch übertrage. Kann nur auf den Effekt des Dialekts, des Gestus und der Emotionalität hoffen. Dieser stellt sich dann auch tatsächlich ein. Wie so oft in letzter Zeit vergesse ich aber (so auch gestern) meine Stimme sanft zu behandeln, indem ich sie abstütze.

Mit meiner Mozart-Anekdote der Woche bin ich zufrieden: "Einmal unternahm Mozart eine Rundfahrt auf der Donau, ein Fluss, der bekanntlich mitten durch das schöne Wien hindurch flitscht. Der Kapitän ließ das Schiff zunächst gemütlich treiben, doch plötzlich gewahrte er eine Wolkenzusammenballung am Horizont, worüber er dermaßen in Sorge geriet, dass sich seine Augenbrauen zu einer zeltförmigen Figur auf seiner Stirne zusammenzogen. Er ließ die Segel reffen, aber zu spät – das Schiff ging unter, und alle waren tot. Außer einer – John Maynard. Mozart, der berühmte Politbarde. Sein Opus "An der schönen blauen Donau" schmiss er nach diesem betrüblichen Vorfall einfach weg, so dass der Strauß es später einfach noch mal komponieren musste.

Schon 19.15 Uhr im RAW, wo ich ein kleines Video aufnehme – eine Geburtstagsüberraschung für Jochen gegen Ende der Show.

J.S.: "Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte "Der Wolf und die sieben Geißlein"-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: "Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!" Was in der Erinnerung eine längerer Spottgesang ist, war  in Wirklichkeit ein rasch ausgeblendetes leises Meckern."
Dies war auch meine erste Platte, kaum eine hat so viele Knackser. Aber wie kam eigentlich der West-Schauspieler Offenbach dazu, diese Platte zu besprechen? Benno Gellenbeck ebenfalls aus dem Westen, Henri Gruel, der für die Geräusche zuständig war, ist ein französischer Regisseur. Rätselhaft.

Professor Cottard demütigt seine Gattin in der Öffentlichkeit: ‘Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.’

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Fr, 10.11.06

Kurs bei Nina in Kastanienallee 77. Wie verspannt ich doch zurzeit bin.
X braucht vor dem Auftritt so oder so ein Ventil für ihre Aufregungen. Ich erinnere mich, wie ich vor vier Jahren versuchte, sie zu trösten, als sie aus der Band geflogen war. Nach der gelungenen Show kündigt sie eine längere Auszeit an. [Nachtrag 2008: Es wird ihr dauerhafter Ausstieg.]
Silvesterplanung mit RAW, Vorlesern, Band, Improtheater. Jeder mit seinen kleinen Eitelkeiten, Problemchen, Bedürfnissen, während die ganze Sache doch auch ein finanzielles Risiko ist, wenn die Agentur hart bleibt. Andere gönnen sich für die Organisation einer solchen Veranstaltung einen ordentlichen Extrahappen vom Kuchen. Ich bin aber den Egalitäts-Stil der Lesebühnen gewöhnt.
Warum sind es meistens die unwichtigsten Mails, die mit einer Prioritätsstufe versehen werden? Vielleicht weil man als Absender schon ahnt, dass sie untergehen würde, weshalb man sie markiert?
Anfrage von Jochen, den Trash-Song über Löbau erst eine Woche später in der Kantine zu singen, da dann seine Cousinen kämen. Aber die sind doch gar nicht aus Löbau.

Jochen auf einer traurigen Rentnerveranstaltung in der Urania, wo seine Angebetete tanzt [was der Blogleser nicht erfahren hatte, der 2008er Jochen im Buch aber nachschiebt]. Chris Howland, schlüpfrige Gags. Der Saal ist aus dem Häuschen. J.S.: "Was werde ich hier in 50 Jahren mit meinen Altersgenossen singen?" Das klingt, als gäbe es Hoffnung. Aber ich sehe schwarz. Sie werden Wolfgang Petry bis zum Abwinken spielen und das Frechste ist dann "Finger im Po, Mexiko". Aber wieviele von uns werden bevor sie selbst dort landen, noch auf diesen Bühnen tingeln.

Mittendrin, nach über 400 Seiten des dritten Bandes, meldet sich das Erzähler-Ich zu Wort: "ich selber bürge dafür, ich, das seltsame Wesen, das, während es darauf wartet, daß der Tod es erlöst, bei geschlossenen Fensterläden, abgeschieden von der Welt, unbeweglich wie eine Eule lebt und wie jene einigermaßen klar nur im Dunkel sieht." Glaubt er, nur weil 20. Jahrhundert ist, darf er sich einen solchen Bruch erlauben?

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Sa, 11.11.06

Die Schauspielerei hat manchmal was Zerstörerisches. Unser neuster Running Gag – wir spielen ein nörgelndes Ehepaar. Dumm nur, dass es einen auf Dauer wirklich zermürbt. [Vielleicht ist es ja dasselbe wie bei den Cottards?]
Von der Frau, die Jochen "unsere Praktikantin" nennt, wissen wir nicht einmal den Namen, wir wissen nicht, ob sie für uns arbeiten will. Jochen spricht mit ihr regelmäßig nach der Show mindestens eine Stunde, hält sich aber für nicht zuständig.
Vier alte Schulfreunde beim Kantinenlesen zu Besuch, das mit Jochen, Tube, Ahne und Andrés wunderbar funktioniert. Sie haben überraschenderweise noch miteinander zu tun. Nehme sie mit in den Schusterjungen, wo sie von der Art des Wirts geschockt sind. Ich weiß ja schon, dass ihm wenig Besucher lieber sind als viele. Er ist schnell überfordert, der Ärmste.

J.S: "Ich habe 12 Jahre Lebenszeit damit verschwendet, mich zu drücken. Immer mußte man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde machen. Ich war meine gesamte Schulzeit genau eine Stunde hinterher." Das Beunruhigende für unsereinen ist ja, dass man, obwohl man als freischaffender Künstler alle Zeit der Welt hätte, dieses Gefühl, hinterherzuhasten, nicht los wird, es sei denn, man betreibt Meditation oder meditativen Ausgleichsport wie Joggen oder Yoga.
"Im Nieselregen nach Hause geradelt. Immer eine Art Kontrollgang, welche meiner Erinnerungsorte noch existieren und welche der geistlosen Bautätigkeit zum Opfer gefallen sind." Der letzte Satz ebenfalls ins Buch dazugeschummelt. Ich vermute, dass sich die 2008er Schwermut ihr Ventil vor allem im Ärger über die "Bautätigkeit" sucht. Aber wer weiß, vielleicht hinkt er ja hier nicht nur eine Stunde, sondern 20 Jahre hinterher und wird dann das betrauern, was man jetzt aufbaut. (Hier habe ich mich schon oft mit ihm gestritten: Als hätte es diese Geistlosigkeit in den 70ern nicht gegeben, wo man glaubte, den Prenzlauer Berg verfallen lassen zu können und stattdessen Plattenbauten in Buch, Lichtenberg und Marzahn hochzog, deren Landschaften auch für jemanden "Erinnerungsorte" waren. Aber als Komiker kann man ja nicht anders als alles persönlich zu nehmen.

J.S./M.P.: >>Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, "ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit". An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten Bank "von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte", und wo der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.<<
Das landschaftliche Idyll, das einem immer wieder als Ideal vorgegaukelt wird – der einsame See, der große weite Strand – gibt es das überhaupt noch? Kanada? Nicht einmal auf dem Mount Everest ist es einsam – man klettert an den Müllhaufen und Leichen früherer Kletterer vorbei, die einen daran erinnern, dass diese Strapazen zwar potentiell tödlich sind, aber man auch nur ein Massentourist ist. Das hätte man auf Mallorca ungefährlicher haben können.

Raumlaufen – Übung oder Warm-Up

Beim letzten Training der Anfänger wurde noch mal sehr deutlich, welch großen Wert die Raumlauf-Übungen haben, wenn man sie sinnvoll anwendet. Mir scheint grundsätzlich folgende Hierarchie sinnvoll:

  1. Ankommen bei sich selbst: Fokus auf den Boden gerichtet, der einen trägt. Dann auf den Atem. Dann auf das aufgerichtete Gehen. Der Fokus wechselt zwischen Boden, Atem und aufrechtem Gehen.
  2. Ankommen im Raum: Wir verschieben den Fokus allmählich auf den Raum. Welche Farben nehmen wir wahr? Welche Formen? Welche Geräusche? Welche Gerüche? Auch hier nur ein langsamer Wechsel zwischen den Fokuspunkten. Zwischendurch wieder Rückkopplung zum Gehen und Atmen.
  3. Ankommen bei den Mitspielern: Wer ist anwesend? Wie gehen sie? Wie sind sie drauf? Was könnten sie heute erlebt haben? Zwischendurch wieder rückversichern durch Fokus auf sich selbst und den Raum. Freudiges Begrüßen der Mitspieler.

Wenn man das unkommentiert und ungestört 15 bis 20 Minuten übt, ist man in der Regel äußerst fokussiert.
Ich habe diese Raumlauf-Übungen fast ausschließlich in Trainings und Workshops erlebt, fast nie vor Auftritten, da einem hier oft die Ruhe fehlt. Lieber wird diskutiert, ewig an der Technik gefummelt oder Tag Outs gespielt.

4.11.06 – 7.11.06

 

Das Verwaltungsgericht Köln hat entschieden, dass auch die Baskenmütze einer muslimischen Lehrerin ein Symbol des Islam sei, sofern die Mütze von der Muslimin getragen werde, da diese ja so etwas Ähnliches sei wie ein Kopftuch, das ja ein frauenverachtendes Symbol sei, und somit wäre auch die Baskenmütze ein indirekter Verweis auf die Frauenverachtung des Islam. Ich nehme an, dass wenn sich diese Lehrerin demnächst eine Perücke aufsetzt, das gleiche Argument ins Feld geführt wird, ebenfalls bei einem Stirnband, und wenn es soweit gekommen ist, vermutlich auch bei einer Handtasche. Die Lehrerin selbst ist nämlich als Muslimin ein Symbol für den Islam, das wollen die Kultusminister wohl damit sagen. Fragt sich nur: Wer agiert denn hier frauenfeindlich? Man möge mich nicht falsch verstehen – ich halte den größten Teil dessen, was der Islam propagiert und wie er praktiziert wird für Hokuspokus, ebenso wie Katholizismus und Sterndeutung. Aber wer glaubt, daraus Kraft zu ziehen, soll diese Freiheit haben, zumindest so lange es ein Kleidungsstück ist, dass sich die Lehrerin auf die Omme setzt. Diskutabel hingegen wäre vielleicht eine satanistische Lehrerin, die glaubt, mit Vampirzähnen und Hörnern unterrichten zu müssen. Oder ein Lehrer, der einem todeszentrierten Kult frönt, unter dessen Mitgliedern es nicht unüblich ist, sich die Puppen zu Tode gefolterter Leichen um den Hals zu hängen. Das klingt jetzt vielleicht an den Haaren herbeigezogen, wird aber durch Kruzifixe aller Art tagtäglich praktiziert. Und kein Verwaltungsgericht meckert.

***

Sa, 4.11.2006

Schon seltsam. Das letzte Probenwochenende der Bö, keine Notizen und ich weiß nur noch, dass wir darüber diskutiert haben, wie man mit Figuren spielt.

Selbst Comics wie Shenzen und der im Frühjahr 2007 erscheinende "Pjöngjang", die Jochen übersetzt, stehen im Buchladen "in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene".
Liste von Marotten Kim Jong Ils. Zu dieser wäre wohl heute hinzuzufügen: Das eigene Bildnis vor nicht stattfindenen Fußballspielen zeigen zu lassen, während man gelähmt kaum mehr Befehle erteilen kann und die Generäle gleich den zänkischen Trauerweibern in "Lexis Sorbas" schon Krokodilstränen vergießen, obwohl man noch gar nicht tot ist.

Von Jochen erfahren wir nun, dass es die Musik ist, die im Zentrum von Madame Verdurins Salon steht, weshalb sich ihr Gesichtsausdruck zu einer ständig überwältigten Miene ausgeformt hat. In der Tat – die Betreiberin eines der wenigen Salons, die ich kennengelernt habe und die diesen Namen auch verdienten, wirkte ebenfalls ständig "überwältigt", so als müsse sie demonstrieren, wie wahnsinnig toll die von ihnen eingeladenen Performer seien und als ob wir deren Qualität sonst nicht zu schätzen wüssten.

So, 5.11.2006

Wir bringen den Polo zurück zu meinen Eltern. Nils ist da, und hat, je konkreter es wurde, Zeichen der Angst von sich gegeben, als es hieß, ich werde auch kommen, obwohl er sich wohl zunächst auf mich freute. Nach einer Viertelstunde Weinen, lässt er sich von mir vorlesen. Ich muss für ihn wie ein faszinierendes aber auch gleichzeitig überwältigendes Wesen wirken.

Jochen über den Open Mike in der Wabe Greifswalder Str. Er habe dort mal mit "Deborah" Salsa getanzt. Ich erinnere mich aber, dass es "Rosa" war. Vielleicht ja auch beide.
Erinnerungen an die Stadtbibliothek zu DDR-Zeiten. Das Gefühl, endlich am Weltwissen teilzuhaben, das Überwältigtsein angesichts der Zettelkästen, gegen die das gesamte Internet, das ja offensichtlich auf die Festplatte meines Laptop passt, ein Klacks ist. "Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte, vielleicht fand er mich genauso seltsam, wie ich ihn." Er las auch Straßenbahnzeitschriften, alte Berliner U-Bahn-Pläne, trug Hosenträger und wurde nach der Wende extrem fett. Ich sah ihn dann irgendwann in der S-Bahn nach Strausberg, wo er, einem alten Eisenbahn-Narren-Tick folgend, die Stationen ansagte, "zurückbleiben!" rief und so tat, als stünde er mit dem Zugführer in Funkkontakt. Als ihm dann zwei Zigeunerinnen einen goldenen Ring zu verkaufen versuchten, floh er panisch. Stoff für eine osteuropäische Komödie. Übrigens kenne ich noch zwei weitere Hasenscharteninhaber, die mit diesem Menschen den Faible für Bahnen teilen. Einer von ihnen kannte den gesamten DDR-Fahrplan auswendig.
Jochens hat eine neue Maus. Bei der alten hakte die Kugel. Mauskugeln und -wellen gehören zu den wenigen Dingen, die ich gern putze. Wenn ich bei jemandem den PC benutzen darf, hat er mir damit sein Einverständnis gegeben, seine Maus zu öffnen und zu kontrollieren, falls sie nicht ordnungsgemäß flutscht.

J.S./M.P.: Der "kleine Kreis" ist bei den Verdurins angelangt, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen "La Raspelière" betreiben, das 200 Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke: "…um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist." Die Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Muskeln abtasten? Wann habe ich das letzte Mal eines Mannes Muskeln abgetastet?

Mo, 6.11.2006

Wir melden uns bei Alice an (und später wieder ab).
Liste der über meinen Umzug zu benachrichtigenden Ämter, Firmen und anderen Stellen:
– Bank
– Ärztin / Zahnärztin
– Krankenkasse
– VG Wort
– Voland & Quist
– Alte Kantine
– RAW
– Ebay
– Amazon
– Einwohnermeldeamt
– Telefon / Kündigung Telekom
– Gas
– Strom
– Merkur-Versicherung
– KSK
– Presse-Versicherung
– amnesty international
– Strato
– BfA
– taz
– Rolling Stone
– Gehirn und Geist
Werde erst später merken, dass sie unvollständig ist.
Als Gedächtnisstütze notiere ich Details über die Entstehung des Kantinenlesen: Ideengeber, Teilnehmer des Literaturexpress als Testlauf, angefragte Häuser, anstrengende Namenssuche, einmaliges Sponsoring, Ringen um annehmbare Konditionen, das erste anstrengende Jahr, die Lösungen wie Schönwetterkasse, Moderation, Schluss-Rap, das After-Show-Essen erst in der Schildkröte, dann im Schusterjungen.
Betrachte die seit zwei Wochen geführte Liste mit Dingen, die ich täglich für die Chaussee mache (ohne Texteschreiben). Im Schnitt täglich 30 Minuten. Man macht sich das manchmal nicht klar.
Grauenhafte Anfrage eines Hörers an die Chaussee, der uns bittet, seine witzigen Fragen zu beantworten, darunter die folgenden:
– Was hat euch eigentlich zum Schreiben veranlasst, wo doch so viele nicht einmal richtig lesen können?
– Würdet Ihr euch als ewige Dissidenten bezeichnen?
Auf welche Frage(n) würdet Ihr lieber nicht antworten und wenn ja, warum?
a.:) Wie groß ist Dein Bierverbrauch – pro Seite?
b.:) Was fühlst Du während des Schreibens?
c..) Warst Du mal auf einem Kurs für kreatives Schreiben?
c.:) Was könnte Dich glücklich machen?
d.:) Warum treten so wenige Frauen bei Euch ein?
e.:) Wo ist der Siebente? Es waren doch 7 Zwerge? Versiebt?

Spiegeln, so fragt Jochen, derartige Fragen wider, wie wir von außen wahrgenommen werden? Soll man überhaupt antworten? Ich denke dass ja. Selbst "Die Ärzte" geben von Zeit zu Zeit noch Antworten auf Fragen von Schülerzeitungen: "Wie kommen Sie denn immer auf solche lustigen Texte?" Zumindest müsste man antworten, dass man nicht antworten will. Ich lasse ich breitschlagen, nehme mir 20 Minuten für eine Antwort und er lohnt es mir, indem er mich in seinen Reklameverteiler aufnimmt.
Ich müsste es wissen, denn auch von der "Jugendpresse", der ich mal ein Interview gegeben habe, bekomme ich ständig nicht-abbestellbaren Spam.
Von welchen Tellerchen wollen wir nach dem Umzug essen – von bunten oder unbunten?
Das Goethe-Institut versucht, die Lesebühnen zu erklären. Zu 80 % ist das totaler Quatsch: ""Ein nicht zu unterschätzender Einfluss kam aus dem literarischen Untergrund der DDR. Dessen Szene wirkte vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg. Zu Zeiten vor der Wiedervereinigung erprobten Autoren, ständig von Repressalien wie Veröffentlichungsverbot bis Verhaftung bedroht, neue Formen literarischer Öffentlichkeit, lasen in Konzertrahmen und Partys. Die heutigen Lesebühnen haben diese Tradition aufgegriffen…" So ein Nonsens. Die Lesebühnen sind aus einer völlig anderen Tradition entstanden. Der einzige nennenswerte Berührungspunkt mit der alten Ostszene ist, dass Papenfuß jetzt der Wirt jener Kneipe ist, in der die Reformbühne auftritt. Also nur Business.

Um sein unglückliches Verliebtsein zu vergessen, schmökert Jochen in Gustav Fischers "Landmaschinenkunde" aus den 20ern, aber wessen Wahrnehmung auf Sexuelles geeicht ist, wird auch in einem solchen Buch keinen Trost finden, wenn darin andauernd von Schwingschüttlern, Pommritzern usw. die Rede ist.

Dass seine Mutter eine Bindung mit Albertine begrüßen würde, ist für Marcel ebenso eine Überforderung wie das Einverständnis seines Vaters, er könne Literat werden. Die Freiheit, die uns überfordert, wenn wir nicht gelernt haben, Entscheidungen zu treffen. Ist es der Prokrastinator, der Autorität braucht, oder neigen Menschen, die autoritär erzogen werden, zu Prokrastination?
Und heißt das eigentlich, dass Prousts Mutter mit seiner Homosexualität einverstanden war?

Di, 7.11.06

Wache halb neun auf. Auf der Libauer wieder Straßenbauarbeiten. Man muss hier doch die wenigen stillen Morgen im Jahr stärker noch genießen. Und überhaupt den Zufall, dass gerade ich die Möglichkeit habe, meinen Kopf mal kurz in dieses Universum zu stecken, und das auch noch unter Bedingungen, in denen ich mir keine täglichen Existenzsorgen machen muss, sondern eher darum, wie man die Kunst am besten zuwege bringt, dass ist schon ein Wunder. Aber leider scheinen wir so nicht gestrickt. Wir suchen uns immer wieder den Stress, so wie Nils sich seine Ängste sucht, wenn ihm das Leben keine echten Gründe zum Fürchten gibt.
Umfangreiche Notizen zu Improtheater.
Finde die Noten des Andante-Satzes der Sonata facile von Mozart.
Am Abend mit Steffi in einem Off-Theater verabredet, damit ich endlich auch mal weiß, was es mit dieser Soap auf sich hat. Ich hatte mich auf einiges eingestellt, aber nicht auf diese Zumutung, die das Publikum bejubelt. Trash in der Darstellung, dabei inhaltlich aber dümmster Boulevard, schlechte Kalauer, keinerlei Hintergründigkeit. Die Figuren stimmen nicht, eine Sächsin, die falsch sächselt, ein Ex-Stasi-Mann mit Trenchcoat (!!) und Ost-Hut, nicht einmal die Türken stimmen, ebenso wenig die Berliner Typen. Sobald ein Klischee in der Ferne winkt, galoppieren die Schauspieler drauf zu und trampeln es breit. Will ihnen immer noch eine Chance geben, aber nach 20 Minuten reicht es mir. Steffi, die sich auch quält, will um der Schauspieler willen nicht früher gehen. Aber die nehmen ja auf mich auch keine Rücksicht.

J.S.: "Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch."
Wie müssen die Salongänger darunter gelitten haben, dass praktisch kaum eine ihrer Beobachtungen in ein Gespräch passte, bzw. sie ihre Beobachtungen an den Normen dieser Gespräche auszurichten hatten?

Kaiser Wilhelm habe "Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen." Was für die Rezeption des Romans einen schwierigen Bruch darstellt, da es Wilhelm und Tschudi gab, aber keinen Elstir. Das treibt mich ja auch zu extremen Leistungen bei der Lektüre von Romanen an, sobald die wirkliche Welt zu sehr hindurchscheint. Meine geliebten Sjöwall/Wallöh-Krimis konnte ich nur noch mit großer Anstrengung lesen, seit mir H.A. erzählte, er habe bei einer Radtour durch Schweden den ehemaligen Generalstaatsanwalt getroffen, der eben kein böswilliger Hund, sondern absolut liebenswürdig war und der das Schriftstellerpärchen sogar beraten hatte und sich über die Darstellung des karrieregeilen Staatsanwalts gut amüsierte. Romane über amerikanische Präsidenten sind für mich fast nicht lesbar. Auch "Schweigen der Lämmer" ist mir zu konkret, wenn die Schule des FBI und die Senatorin von Tennessee beschrieben werden. Es ist, als müsse ich ein Auge beim Lesen verschließen oder als singe im Hintergrund eine Gruppe fieser Gören: "Stimmt ja gar nicht! Stimmt ja gar nicht!"… Weiterlesen

31.10.-3.11.06

Als Falko Hennig neulich in der Alten Kantine erwähnte, er lese ca. 10 Bücher parallel, glaubte ich, da käme ich lange nicht heran, doch beim genauen Hinsehen, komme ich ebenfalls auf diese Zahl:

  • Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust

  • Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten

  • Truman Capote: Frühstück bei Tiffany

  • Francis Clifford: Zen-Minuten-Stories

  • Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

  • Gunter Lösel: Das Archetypenspiel

  • Robert M. Bramson: Coping With Difficult People

  • David Edmonds & John Edinow: Rousseaus Hund

  • Zeitschriftensammlung "Wissen und Leben" 1959-1961

  • Jeremy W. Hayward: Die Erforschung der Innenwelt

***

Di, 31.10.06

Jochen empfiehlt "Curb Your Enthusiasm", es mache süchtig. Schaue es sofort, erkenne das Suchtpotential und verzichte darauf, mir die DVD zu ordern.
Spannungen bei BÖ-Team nehmen zu. Beschwichtigungen kontraproduktiv. Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Bei Ebay ersteigert: Hans Buchheim – "SS und Polizei im NS-Staat". Steffi wird sich freuen.
Nocti mäkelt wieder: Wir mögen die Showlänge von 40-45 Minuten möglich exakt einhalten. 38 Minuten sind zu wenig, 48 Minuten zu viel. Man hat das Gefühl, sie suchen einen Grund, uns rauszukicken.

Jochens Liste unbequemer Pflichten als Kind bzw. Jugendlicher. Davon mir unbekannt:
– Bedankungsbriefe für Geburtstag und Weihnachten schreiben (Ich bekam keine Geschenke von außerhalb)
– beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Fruchtkörbe verteilen (Ich ging nicht in die Kirche.)
– Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben (Ich hatte keine Paten.)
Mir bekannte Pflichten:
– sich eine Erfindung für die "Messe der Meister von Morgen" ausdenken. Dabei griff ich oft auf den Trick zurück, die Erfindungen meiner Klassenkameraden aus dem Vorjahr zu kopieren, was erstens an sich schon peinlich war, zweitens dann immer schon nicht mehr altersgemäß, drittens obendrein noch völlig verunglückt
– am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge Pullover an- und ausziehen. Bei mir waren es eher Hosen. Da ich aber das älteste Kind war und wir nur selten Klamotten geschenkt bekamen, dürften Jochen und meine Schwester mehr gelitten haben. Aber wie jeder Hetero-Mann quäle ich mich noch heute in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser.

Marcel wirft Albertine und Andrée vor, Frauen von "schlechtem Genre" zu sein. Unklar.
M.P.: "Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, dass sie uns gleichzeitig misstrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken." Wie kann man denn mit gezücktem Messer in die Liebe gehen und sich dann wundern, dass sie scheitert?
Briefe der Albertine aus der Technikperspektive. Heute höbe man SMS auf oder löschte sie eben. Ein Brief trug noch den Geruch der Verfasserin.
Es gibt noch genau einen Menschen, dem ich manchmal Briefe schreibe. Aber auch diese Periode neigt sich ihrem Ende. Er hat mir verraten, dass er schon jahrelang auch mit Freunden per E-Mail kommuniziert. Schade. Die Briefe waren immer so schön dekoriert.
Angeblich verlorene Praxis: "Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett." Zumindest im RAW pflegen im Jahr 2006 von Zeit zu Zeit einige Besucher nach der Show hinterm Vorhang zu kopulieren, und sei es oral. Aber womöglich wäre das ja etwas, wofür sie sich zu Hause im Bett genieren würden.

*

Mi, 1.11.06

Es ist kalt, als ich aufwache. Zwinge mich zu ein paar Crunches, obwohl ich inzwischen weiß, dass die auch nicht viel helfen. Es regnet, ich pendle verpeilt durch die Wohnung. Auch das Aufstehen ist nicht so, wie es sein sollte.
Bei Kaisers Brötchen und beim Vietnamesen Blumen. Als ich ihn bitte, mir bei der Auswahl des Straußes zu helfen, nimmt er einfach von jeder gerade da stehenden Blume eine. Ich bleibe höflich und hoffe, dass das Ergebnis trotzdem gut aussehen wird. Besser als "akzeptabel" wird es nicht. Gerade gut genug, um es nicht ablehnen zu können.
Anruf von der WBM, die Schäden an der Wohnung seien zu groß, um die Wohnung weiterzuvermieten. Schade, ich hätte K. gern geholfen.
D. will seit Wochen für mich Texte ins Englische übersetzen, aber Prüfungen und familiäre Verpflichtungen halten ihn davon ab.
Peinliche Nachricht nach verkaufter Stones-CD: "ich kann diese CD so nicht akzeptieren. Das ist keine russ. Lizenz-CD; das ist eine billige russ. Kopie auf eine Aldi CD-RW. Ich würde eine neue, echte CD akzeptieren, oder machen sie mir ein alternativ-Angebot." Ich hatte schon so ein Gefühl…
Entschuldigungs-Mail vom Ballhaus, die mich weniger wegen des Inhalts als wegen des Auftauchens des Wortes desdo erheitert.
Udo Tiffert zieht in die Oberlausitz, die Heimat meiner Eltern.
Impro-Show zu zweit, in der wir das auf dem Festival Gesehene auf unsere Art verarbeiten – ein Liebesdrama und eine Impro-Show mit Puppen. Unsere Adaptionen gefallen mir sogar wesentlich besser. Allerdings lässt das Zeitgefühl nach. Als wir nach der ersten Hälfte die Pause statt des Schlusses ankündigen, schauen die Zuschauer uns ungläubig an. In der Garderobe sehen wir: Wir haben bereits 80 Minuten gespielt.

Jochen klagt über verlorene Straßenlaternen, deren Entfernung er persönlich nimmt.
J.S.: "Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse." Voland & Quist haben ja ehrenwerterweise alles über Proust dringelassen. Heißt das, sie gehören nicht zur Branche?

Beschreibung von Marcels Äußerem aus den Worten einer Dienerin: "Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen… Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen." Die Technik, sich aus dem Munde anderer überschwänglich loben zu lassen, kennen wir von Prousts erfolgreichem und schreibfreudigem Zeitgenossen Karl May.
J.S.: "Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. "Was für ein angenehmer Mensch, er hat mir keine Serviette umgebunden." So redet man ja nicht." Genau. Ich habe auch nie das Busch-Zitat verstanden: "Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt." Nein, das Gute ist mehr. Richtig müsste der Satz heißen: "Das Gute – dieser Satz ist gut – ist stets das Gute, das man tut."

*

Do, 2.11.06

Wieder eine Anfrage einer potentiellen Agentin für die Chaussee. Habe die Hoffnung schon fast aufgegeben. So erfolgreich die Chaussee in Berlin ist, so wenig schaffen wir es, uns außerhalb der Stadt vermarkten zu lassen.
Dass die WBM meine Wohnung nicht weitervermieten will, hat den Vorteil, dass ich nichts da drin machen muss, nur ein paar Dübellöcher stopfen und die Zwischendecke aus dem Flur entfernen.
M. sagt 15 Stunden vor Abreise seine Teilnahme an der Probenfahrt ab.
Der Software- und Computer-Experte regt sich im E-Mail-Verteiler mal wieder maßlos darüber auf, dass nicht alle auf seinem Wissensstand sind.
Die Heizung im Ambulatorium soll nun erst Mitte November eingebaut werden. Wir treten in warmen Anziehsachen auf. Micha und Volker üben den Text, mit dem sie den Deutschen Kollektiv-Rezitatorenwettstreit (Team-Meisterschaft des German Poetry Slam) gewinnen wollen.

Jochen grübelt angesichts eines alten, noch verpackten Murphy-Buchs, wem er dieses am 12.2.2000 schenken wollte. Das Einzige, was ich von jenem Tag noch weiß, ist, dass mir da Kohlen geliefert wurden. Am Ende des Winters. Zwei Tage, bevor ich zum ersten Mal nach Moskau fuhr. Unklar auch, ob man hier überhaupt von Wissen sprechen kann, ich habe das ja nur in meinem Kalender verzeichnet, die lebendige Erinnerung ist schon ausgelöscht.
"Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert." Selbständig lebensfähige Sentenz (J.S.), um nicht zu sagen: Aphorismus.

Nach dem Regen reißt Marcel ihr den Regenmantel vom Leib und "zog Albertine dicht an mich heran", aber angeblich nur, um ihr die Wiesen zu zeigen, was Jochen als perverse Form der Perversion ansieht. Aber wer weiß, was Marcel mit "Wiesen" meint.

*

Fr, 3.11.06

Wie so oft in letzter Zeit wache ich müde auf. Und wie so oft in letzter Zeit frage ich mich bei diesen kleinen Dingen, die einem nicht bekommen, ob sie vorübergehend sind, oder ob es etwas mit dem Altern zu tun hat oder ob das Alter nicht zumindest einen gewissen Einfluss darauf hat. Reiße mich zusammen, stehe auf, wasche mich, fahre mit dem Rad zum Wurzelwerk, während Steffi den Tisch deckt. Wir haben nicht viel Zeit, aber ist das Grund genug, um das Essen zu schlingen? Kopiere die Karte, die Kopien lasse ich später liegen.
Schöne Fahrt im Auto meiner Eltern nach W., wo wir im Sommerhaus von Gerd und Christa Wolf übers Wochenende proben dürfen. Diese Offenheit von Häusern hat mich immer fasziniert. Ich versuche es manchmal, aber natürlich langt meine olle Wohnung mit Außenklo in der Libauer 9 weder an Wolfs Sommerhaus noch an das von Frau Tietze, nicht einmal an die Wohnung der Juristen Will, die ihren spätpubertären Sohn in ihrer großen schönen Wohnung wilde Partys mit berüchtigten Punks feiern ließen.

Lebensfragen. Darunter "Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen "succubus" und "incubus" nicht merken?" Ich kenne weder das Eine noch das Andere. der anders ausgedrückt: Unklares Inventar – Succubus und Incubus.

Wörter, die Jochen zuerst in "Tim und Struppi" gelesen hat: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Piranhas, Pipeline.
Ich habe wahrscheinlich Ende der 80er erstmals einen solchen Band in der Hand gehabt und konnte damit wenig anfangen, ich war wahrscheinlich zu alt. Die Digedags hingegen faszinieren mich immer noch. Bei deren Lektüre lernte ich mit fünf bis sechs Jahren: Manager (was ich Manaager aussprach), Alligatoren, Pittsburgs-Stahl, Glühwürmchen, Telegraf, dass man Münzen auf ihre Echtheit durch Beißen überprüft, Sägefische, dass Diebe schwarze Masken und karierte Ballonmützen tragen. Während ich die Mosaiks durchblättere, erfahre ich ein eigenartiges synästhetisches Erlebnis, als ich die Zeichnung der Geheimdienstleute mit den Feuerwerkskörpern sehe, steigt mir ein Geruch von DDR-Schokolade und ein komisches Kribbeln in den Körper, wie ich es nur bei krasser Aufregung habe. Und ich weiß, dass mich das früher jedes Mal beim Betrachten dieses Bildchens durchfuhr. Jahrzehntelang hat es geschlummert, jetzt wieder erwacht. Ist Jochen schuld? Oder Proust? Oder doch Hannes Hegen?
J.S.: "jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, im Outfit russischer Frauen etwas leicht nuttiges zu erkennen."

28.10.-30.10.06

Mozart-Vinyl-Platte Karajan/Anne-Sophie Mutter: Violinkonzerte KV 216, 219 – DDR-Lizenzpressung
Edelzartbitter-Schokoladensticks
100 Rezepte Italienische Küche
Polish Funk Vinylplatte von 2007
Pfirsich-Konfekt, Sauvine Rosé Pêche, Pfirsisch-Sirup, Pfirsich-Kaubonbons, Bonne-Maman Pfirsich Kompott, Pfirsich Edelessig, Les Confituriers de Hauté-Provence – Pfirsisch und Himbeere
Wolf Haas: "Das Wetter vor 15 Jahren"
Gutschein für was zum Spielen (??)
CD Ian Wright – Sister Funk
Gebastelte Filzblume
CD Ingeborg Bachmann – elektroman
Ursus Wehrli: Noch mehr Kunst aufräumen
4 Hachez Edelbitter Chocolade Sticks
DDR-Dame/Schach/Mühle-Reise-Set  aus dem Betrieb Elektrohaushaltgeräte Dresden im VE Kombinat Präcitronic, Betriebsteil Technoplast in Originalverpackung
Lindt Mousse Au Chocolat Feinherb (mit Laktose)
Volker Surmann: "Sex. Von Spaß war nie die Rede"
Englisch/Deutsch-Bildwörterbuch
CD Neuss Testament – Die Villon Show
Eine Tüte Walnüsse
CD Mavis Staples – We’ll Never Turn Back"
Süddeutsche-Magazin-Spezial zum Thema "Futtern wie bei Muttern"
Voelkel-Fitness-Cocktail
Rotwein Dehesa Gago 2006
Playmobil-Superheld mit austauschbaren Dan-Richter-Fotos
CD mit Beats zum Freestyle-Rappen
DVD "The Office" erste und zweite Staffel
Ferrero Rondnoir Pralinen (Edelbitter mit Laktose)
Johannes Huber/Elisa Gregor: "Die Männermacher. Die sensationelle Wirkung der Hormone auf Vitalität, Potenz und gutes Aussehen"
Haruki Murakami: "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede"
1-Jahres-Abo der GEO
Selbstbemaltes Vierer-Geschirr-Set
CDs Bobo Stenson Trio Serenity I+II
CDs Bohren & Der Club of Gore – Dolores / Karen Dalton – In My Own Time
CD Otto Sander liest Fontane live
Karl Valentins gesammelte Werke (Kompilation von 1974 mit Fotos)
Gerhard Roth: "Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert"
Uwe Tellkamp: "Der Turm"
Pepé Caffé, Condimento Balsamico Bianco
Orode Génave Olivenöl Nativ Extra
Olivenöl-Seife
Zeitungshalter "Kölner Stadt-Anzeiger"
2 Karten für Helge Schneider "Wullewupp Kartoffelsupp"
CD The Fall – Live
Kinder-Überraschungs-Ei
David Edmonds + Joe Eidinow: "Rousseaus Hund. Zwei Philosophen, ein Streit und das Ende aller Vernunft"
DVDs Vera Birkenbihl "Von nix kommt nix" und "Viren des Geistes"
mp3-CDs Joachim Behrendt "Vom Hören"
Sangharakshita Mind-reactive & creative
Foto CD Foxy Freestyle
Gutschein Fotosession
Dan-Mappe bestehend aus 4 Bildcollagen, 3 Lesebühnen-Texte, 2 Gedichte (ungereimt), 2 Briefe, ein Zeitungsausschnitt, ein altes Foto
Live: fünf Lieder, 3 Impro-Szenen, 1 gereimte Impro-Rede, 1 Gratulation von mir selbst als 7jährigem
selbstgebautes Bilderbuch "6 Jahre Dan & Steffi" und Miniheft der Chronik "Dan & Steffi"
Reise nach Wustrow (Darß), Aufenthalt in Ferienwohnung für 2 Personen
Ein verlängerter Aufenthalt von Bau in unserer Wohnung.

Früher habe ich nicht verstanden oder es zumindest für eine jener typischen Erwachsenen-Heucheleien gehalten, wenn sie sagten, es läge ihnen am Besuch mehr als an den Geschenken. Heute freue ich mich über jeden entfernten Bekannten, der es zu meiner Feier schafft, mehr als über das wertvollste Geschenk.
Mit dem Alter verändert sich auch der Charakter der Geschenke. Bücher habe ich immer geschenkt bekommen und geschätzt. Neu sind Kosmetikartikel und Spirituelles. Seltener geworden im Vergleich zu sonst: Gutscheine, Rotweine, Hörbücher.

Gründe für Absagen:
Preis-Entgegennahme
Vor wenigen Tagen Kind bekommen
In Göttingen, Tansania, Hamburg, Mexiko oder Passau wohnend.
Gut bezahlter Auftritt
Vor langer Zeit gegebenes Versprechen an jemand anderen
Krankheit und/oder Alter
psychische Probleme

Unglaubliche Anreisen für nur wenige Stunden aus
Zürich
Amsterdam

*

Sa, 28.10.06

Betrachten wieder einmal die schöne Stadt Würzburg. Steffi hat für so etwas wie immer einen viel schärferen Blick als ich.
Am Abend sehen wir eine Impro-Show mit Puppen, die trotz des Überladenen doch inspirierend ist: Von der kleinen Fingerpuppe bis zur überlebensgroßen Menschenpuppe wird alles eingebaut.
Abschiedsparty des Festivals und so sehr ich mich auch bemühe, merke ich, dass ich für derartige Feste nicht geschaffen bin.

Jochens Beziehungsideal sei vom Paar auf der Verpackung von "Super-Hirn" geprägt, das ich nur als "Mini Master Mind" kannte.
"Wie ein Torero, der auf Knien das Publikum grüßt, den Stier im Nacken, sitzt der Mann da und sieht uns über die spiegelnde Tischfläche hinweg herausfordernd an, die Asiatin hinter sich. So stellte ich mir meine Ehe vor."
Wenn Jochen Johnstone gelesen hätte, könnte er diese Haltung als absoluten Hochstatus einordnen. Der Hochstatus, der nicht einmal den Blick halten muss, der nicht nur die Kehle, sondern sogar den Nacken freihalten kann.

J.S.: "Daß einen beim reinen Lesen anstrengende Beschreibungen vom Verlangen nach "Spielen" ablenken würde, darf man bezweifeln. Jemand hat ja einmal behauptet, geistige Arbeit mache lüstern, und ein aufgeschlagenes Buch sehe aus, wie ein Hintern, woran ich seitdem immer denken muß, auch wenn ich nie darauf gekommen wäre." Dieses Bild pflanzt sich natürlich auch beim Leser von Jochens Blog fort, vor allem, wenn es im Buch abgedruckt ist. Vermutlich war das auch der einzige Grund, den Proustblog binden zu lassen.
Marcel wird auf Albertine und Andrées gemeinsames Tanzen erst eifersüchtig, als Doktor Cottard ihn darauf hinweist, dass "die Empfindung bei Frauen vor allem durch die Brüste geht. Sie sehen ja, wie vollkommen beide sich mit ihren berühren."

*

So, 29.10.06

Frühes Aufstehen. In der Dusche dauert es ca. 30 Sekunden zwischen Wärmeeinstellen und der Auswirkung. Pendle also erst mal zwei Minuten zwischen eiskalt und brühheiß.
Noch ein Frühstück in dieser Jugendherberge. Natürlich das jugendherbergsübliche Sonntags-Weißbrot. Setze mich neben Sänger des Gospelchors, die hier auch nächtigen. Nach dem Austausch einiger Grundinformationen schwillt das Gespräch bald ab. So intensiv interessiert man sich dann doch nicht für die Liebhaberei des anderen.
Ulrike, die Mitfahrerin, wartet in der Bäckerei auf uns. Sie sagt, dass sie Referendarin ist und weiß, dass der Name Dan aus dem Hebräischen kommt. Aufgrund dieser Informationen tippe ich auf Religionslehrerin. 100 Punkte für den Kandidaten.
Diesmal noch lauter als die Hinfahrt. Der vergrößerte Auspuff des Polo lässt es ohnehin schon ordentlich brummen, nun sind wir durch zusätzliche Fahrerin und Cello extra beschwert. Will man Musik hören, muss man sie richtig aufdrehen. Trübes Wetter. Zwei kurze Pausen.
Zuhause müssen wir uns versichern, dass unsere Meckereien nicht persönlich gemeint sind, sondern aus unserer Erschöpfung geboren wurden.
Anfrage zu meiner Ebay-Auktion aus Holland. Bei Auslandsbietern immer Vorsicht angesagt. Die verstehen oft die Beschreibung nicht, wollen Sonderkonditionen für den Versand oder auf französisch kommunizieren. Oder ihr Deutsch liest sich wie Französisch.
Drei Bö-Spieler sagen die Probe ab. Das ist die Haltung zum Team.
Treffen mit einem PR-Menschen der XY-Werke, der von mir ein Coaching des Teams in Gesprächsführung wünscht. Im verqualmten "Sonntag im August" kann ich ihn mit meinem Konzept überzeugen.
Helfe Ch. und M. beim Workshop aus. Gratis.
Ich gehe heim, wärme mich kurz auf, dann ins Via Nova, Spiegel-Lektüre, taz. Gutes Essen.
Zurück an den PC. Müdes Internet-Surfen, bis mir fast die Augen zufallen, und ich denke, dass das nicht die Art ist, wie ich meine Tage beenden sollte.

Unklarheit der Datierung in Jochens Blog. Der Weblog zeigt keinen Eintrag an, im Buch wird der Montagseintrag als der Sonntagseintrag ausgegeben. Das zerstört ja alles. Soll man da noch weiterlesen, wenn der Autor einen so betrügt?
Lob des Mittagsschlafs: "Leider gilt der Mittagsschlaf in Deutschland immer noch als Müßiggängerprivileg oder Zeichen von Senilität, dabei teilt er den Tag in zwei gleichwertige Hälften, in denen man sich doppelt so intensiv für die Gemeinschaft aufopfern kann. Für mich ist Schlafen Arbeit, man kann auch kein Rennpferd dauernd gleich stark belasten, also warum dann mein Gehirn? Regeneration ist ein wichtiger Bestandteil des Trainings, das weiß jeder Ausdauersportler." … aber auch jeder Ballsportler, jeder Musiker, schließlich auch jeder gute Autor.

J.S:: "Man träumt von der sehr unterschiedlichen Konstellation, dass ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen [??] Autorin zusammenlebt und am Ende ihres Lebens zwei ebenso umfangreihe und einander ebenbürtige Romanzyklen vorliegen, in denen nichts die gleiche Deutung erfährt." Im Weblog formulierte er noch: "Man träumt von der sehr unwahrscheinlichen Konstellation, daß ein Autor vom Rang Prousts mit einer gleichrangigen weiblichen Autorin zusammentrifft, und am Ende ihres Lebens zwei gleich umfangreiche Recherchen vorliegen, die beide recht haben."
So oder so erinnert das an "Meine Tage mit Pierre" / "Meine Nächte mit Jacqueline", was mir sowohl Ralf Petry als auch meine Mutter empfahlen. Ich hab die Filme bis heute nicht gesehen, vielleicht weil es französische Liebesfilme sind, und mit französischen Liebesfilmen kann ich noch weniger anfangen als mit tschechischen Märchenfilmen.

*

Mo, 30.10.06

Kuriose Vorgänge bei Ebay:
1. Ebay löscht mein Angebot einer Elvis-CD automatisch, weil Aufforderungen zu Western Union Zahlungen nicht statthaft seien. Dabei ist es nur ein Titel von Elvis, der "Western Union" heißt.
2. Ein Ebay-Spammer schickt mir Werbe-Post für seinen Schuh-Versand. Offensichtlich weil ich die Elvis-Platte "Blue Suede Shoes" verkaufe.
3. Ersteigere das Begleitheft zum Film "Peppermint-Frieden" von Marianne Rosenbaum, den ich so geliebt habe und der immer noch zu meinen Favoriten gehört. Als DVD gibt es ihn nicht, und die Regisseurin ist gestorben.
Wir beantragen Alice DSL (ein Fehler, wie sich 10 Monate später herausstellt).

Jochen Gastredakteur beim Salbader, wo er mit den teils ausgesprochenen, teils unausgesprochenen Regeln kämpft, die ja eigentlich diese mühsame Arbeit erleichtern. "Prousts Text ist ja lang, es wird hier und da aufgewacht, es geht ganz entschieden ums Schreiben, es kommen viele peinliche Prominente vor, der Autor denkt mit Sicherheit, die Welt wäre besser, wenn alle Menschen wären, wie er (wie könnte man andernfalls auch weiterleben?), allerdings wird die Bahn mit Wohlwollen betrachtet, der Text ist kein Märchen, der Held wird voraussichtlich nicht Vater werden und Katzen kamen bisher erfreulich wenig vor. Wenn man ihn überreden könnte, alles auf 3-4000 Zeichen zu kürzen, hätte er vielleicht eine Chance."

J.S:/M.P: >>Und wenn der Zufall dem "Anbranden unserer Wünsche" so ein beliebiges Objekt bereitgestellt hat, verwirrt einen zudem, "daß die Sprache, die wir ihr gegenüber verwendet haben, nicht eigens für sie erschaffen ist, sondern uns schon für andere gedient hat und wieder dienen wird." … Man kann sich natürlich immer in Frauen aus dem Ausland t verlieben, dann muß man sich wenigstens sprachlich nicht wiederholen. Oder man lernt mit seiner Geliebten eine ausgestorbene Sprache, die man dann ausschließlich zu zweit spricht, nur um die ärgerlichen Klischees und Tautologien der Liebessprache  zu vermeiden."<< Als ginge es nicht gerade darum in der Liebe: Einmaligkeit durch Tautologie herzustellen. Aber der Blumenstrauß oder der Satz "Ich liebe dich" unterstreichen ja nur die nonverbalen Kommunikationen, die Ausdruck und Botschaft der Liebe sind, bzw. versichern deren Liebes-Gehalt. Ich muss nicht unbedingt den Satz "Ich liebe dich" hinzufügen, aber unter Umständen verleiht er den Liebesakten eine gewisse Eindeutigkeit:
– dem Händehalten
– dem Reparieren des Fahrrads
– dem zusammengestellten Mix-Tape
– dem gemeinsamen Rummelbesuch
– dem Lob des geschmackvoll zubereiteten Essens

25.10.-27.10.06

***

Mi, 25.10.06

Anfrage einer Filiale der Bausparkasse Schwäbisch Hall für eine Impro-Show mit der BÖ. Ob die Spieler nicht auch ein Fuchskostüm anziehen könnten, das wäre doch witzig. Bin ich zu preußisch oder zu unschwul, um diese Art von Humor verstehen zu können? Trotz meiner Liebe zur Schauspielerei sind “witzige Kostüme” oder gar Mottopartys gar nicht meine Sache.
Die BfA will Dokumente, damit ich Rente bekomme. Eigentlich keine üble Sache, aber instinktiv hält man solche Schreiben für eine Zumutung. Da ich nicht zu irgendwelchen Behörden laufen will, um mir die Echtheit der Kopien zu bestätigen, packe ich eine ganze Menge Originale mit rein: SV-Ausweis, Wehrdienstausweis.
Abends Show mit den Unexpected Productions. Zwei nette Langformen – ein Harold, ein Thread. Allein die Anwesenheit lockerer, cooler Amis macht einen locker und cool. Randy Dixon bräuchte kein Warm Up, sagen seine Kollegen-Schüler-Jünger. Was wir im Improtheater oft vergessen – es geht ja auch um das Warm Up im ursprünglichen Sinne – Stimme, Körper.
Mail: Sie können doch keine Heizung ins Ambulatorium einbauen. Die technischen Details werden mitgeliefert. Schön, da mach ich schnell noch ne Schornsteinfegerausbildung mit Zusatzqualifikation Maurer, dann dürfte das ruckzuck gehen.

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Eine Liste von ca. 40 Gegenständen, die in Jochens Haushalt nicht einwandfrei funktionieren. Davon zum Zeitpunkt der Lektüre bei mir ebenfalls defekt:
– Im CD-Player schleifen die CDs.
– Der Reißverschluss der Winterjacke ist seit zwei Jahren kaputt.
Wozu brauche ich eigentlich noch den CD-Player, wo ich sowieso 95% meiner Musik als mp3 höre? Ein Zugeständnis an eine alte Technologie. Irgendwann werden unsere Enkel sich die CD-Player-Ungetüme anschauen so wie wir die gigantischen Radios, auf denen die Namen von Städten zu lesen waren, die man von nur anderen Radios kannte, wie Hilversum.

Die Salons stehen zueinander in Konkurrenz. Wie stark mag der Neid tatsächlich sein? J.S.: “Salons haben ihre Biografie.” So wie die Lesebühnen?
M.P.: “So findet sich jede Epoche in neuen Frauen, in einer neuen Gruppe von Frauen personifiziert, die, aufs engste mit den letztaufgetauchten Gegenständen der Neugier verknüpft, in ihren Toiletten einzig und gerade in diesem Augenblick wie eine unbekannte Gattung erscheinen, die aus der jüngsten Weltkatastrophe hervorgegangen ist.”

Do, 26.10.06

Eine junge Übersetzerin macht mir ein gutes Angebot für die Übersetzung meines Impro-Blogs. Leider immer noch zu teuer.
Manchmal bekommt man Anfragen, ohne dass klar wird, auf welches meiner Tätigkeitsfelder sie sich beziehen, z.B. Anrufe: “Hallo, muss ich bei Ihnen reservieren?”, und ich frage mich, ob sie Bö, Dunkeltheater, Chaussee, Kantinenlesen oder einen meiner Kurse meinen. Eine seltsame Mail trifft diesmal ein: Eine Veronique Hübner spricht mich als Seminarleiter an und ich versuche herauszufinden, was sie von mir will: Mich als Seminarleiter buchen? Einen Kurs? Ein Coaching? Entertainment? Erst am Schluss lässt sie die Katze aus dem Sack: Ich soll ihr Kneipentouren abkaufen.
Der Literatur- und Comedy-Veranstalter R. versucht, sich bei den Lesebühnenautoren dadurch beliebt zu machen, dass er ihnen ihre Gage nicht zahlt.
Einen äußerst gut besuchten Abend bei der Chaussee der Enthusiasten verderben wir uns, indem wir vorher streiten, was dem Publikum natürlich nicht verborgen bleibt.

*

Gastbeitrag von Kathrin Passig, die sich angesichts der Aufgabe, Jochen Schmidt zu sein, “mutlos und überfordert” fühlt.
Der gesamte Artikel dann aber eher ein Beitrag zum Thema Prokrastination, der eher in das Oeuvre Robert Naumanns als in das Schmidts passt.
Immerhin, so deutet sie an, werden wir bei ihr mit weniger Fehlern der Groß- und Kleinschreibung zu rechnen haben.

Wie soll man bei der Lektüre eines Buches mit Namen umgehen, von denen man nicht weiß, wie sie ausgesprochen werden? Gibt man ihnen einen eigenen Klang, riskierend, er könnte falsch sein?
Angesichts Marcels Großmutter treten “die Frauenangelegenheiten jetzt erst einmal in den Hintergrund” (K.P.) Ist das nicht eine etwas sexistische Aussage, impliziert doch Passig mit dieser Aussage, die Großmutter sei keine Frau.

Fr, 27.10.06

Lange Autofahrt nach Würzburg. Wir geben uns die größte Mühe, den damit verbundenen Stress nicht aneinander auszulassen. Ich bin kein guter Navigator, aber Steffi verlässt sich auf mich. In Würzburg reißen dann doch die Nerven.
Der Abend aber belohnt uns mit einer sehr schönen Impro-Show. Da keiner der Bö-Leute mitfahren konnte (bis auf Topi, der aber in die Organisation eingebunden war), spielen wir mit Robert Munzinger meine neue Langform “4.000 Hubschrauber”. Wobei ich eigentlich ziemlich sicher bin, dass es dieses Format in irgendeiner Weise schon geben muss. Bin auch nicht scharf auf Copyright wie andere Leute in der Szene. Mit großem Abstand gewinnen wir den “Goldenen Pudel” für die beste Langform.

*

“Jochens Liste lässiger Gesten enthält einen groben, überhaupt nicht entschuldbaren Fehler: ‘Der Special Agent, der mit beiden Händen den Revolver haltend, eine Seitwärtsrolle aus der Deckung heraus macht, und auf der anderen Seite des Flurs an die Wand gekauert, achtlos das leere Magazin wegwirft.’ Ein Revolver hat kein Magazin, das man wegwerfen könnte.

Dies wollte ich schreiben, bevor ich nun erfuhr, dass es tatsächlich Schnellladerevolver gibt, deren Magazin man mit lässiger Geste in die Ecke befördern kann. Was geschieht eigentlich mit all den in die Ecke geworfenen Magazinen, wenn der Kampf vorbei ist? Müssen sich dann die Putzfrauen drum kümmern? Oder die Witwen der Erschossenen?

Erinnerungen an Marcels Großmutter. Gierig, etwas aus einem letzten Foto herauszulesen, das sie von sich machen ließ, als es zu Ende ging, verliert es sein Konturen. Das Starren macht uns blind.… Weiterlesen

Langform in fünf Teilen

Habe die Show von vor 2 Jahren als Filmchen wiedergefunden. Impro ist eigentlich immer schwierig als Film wiederzugeben. Hier, finde ich, ist es einigermaßen gelungen, vorausgesetzt, jemand nimmt sich die 45 Minuten und schaut sich diese 5 Filme an, die zusammen unsere Langform “4.000 Hubschrauber” ergeben.

Vielen Dank an Robert Munzinger und Steffi Winny.

Kleiner Tipp: Man beginne mit dem zweiten Teil. Der erste besteht hauptsächlich aus Anmoderation und Einführung.

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Wiedereinführen

Es gibt auch ein Zuviel an Wiedereinführen. Vor allem in nicht-narrativen Formen wie “Roter Faden” oder “Harold” sollte man der Verführung des allzu cleveren Storytelling nicht erliegen. Denn es wirkt dann oft platt und zerstört die poetische Wirkung. Dasselber gilt aber auch für erzählerische Formen: Es muss nicht alles Sinn machen, und vor allem müssen wir den Sinn nicht jedesmal herauströten. Nicht jeder muss mit jedem zu tun haben, und vor allem: Nichts muss erklärt werden.
Das Wagnis, dass zwei, drei comedy-konditionierte Deppen im Publikum sitzen, die erst lachen, wenn man es ihnen unter die Nase reibt, sollte man schon eingehen. Der Großteil des Publikums ist schlauer als man denkt.

Gegenbewegung im Status

Klippe des Tiefstatus: Durch die tendenzielle körperliche Enge besteht die Gefahr, sich geistig zu verschließen. Wichtig ist deshalb die innere Gegenbewegung, das heißt wir sollten uns im Tiefstatus innerlich öffnen, um den kreativen Fluss nicht abreißen zu lassen.
Klippe des Hochstatus: Die dominante körperliche Haltung birgt die Gefahr, die Szene unbewusst kontrolleren zu wollen. Wichtig ist, den Kontakt zum anderen nicht abreißen lassen, offen zu sein, für dessen Angebote.
Status immer als Spiel empfinden, nicht als Essenz des Spielers, von der er nicht lassen kann.

20.-24.10.06

Ich lebe nun schon fast die Hälfte meines Lebens in der BRD, aber bestimmte Phänomene der westdeutschen Gesellschaft werde ich wohl nie verstehen. Die Nachricht beginnt so:
Der Verein "Arbeitsgemeinschaft Wasserkraftwerke Baden-Württemberg" macht normalerweise nicht durch Skandale auf sich aufmerksam. Präsident und Hobbyangler Manfred Lüttke, 73 Jahre alt, CDU-Mitglied, kümmert sich etwa um Einspeisevergütungen für Ökostrom.
Schon diese Sätze werfen einen Haufen Fragen auf: Wieso ist ein 73-jähriger Mann Präsident der Wasserwerke? Wieso CDU? Wie sieht das aus, wenn sich Herr Lütke um Vergütungen "kümmert"? Ich muss unwillkürlich an Monopoly denken. Die Wasserwerke waren immer eine billige Investition. Man brauchte nicht erst in Häuser und Hotels zu investieren, sondern sie warfen gleich immer unverdientes Geld ab. Manfred Andreotti?
Er lese die Junge Freiheit und greift bei seiner Beurteilung des von den Nazis ermordeten Theologen Bonhoeffer auf die Schriften von Gerhard Frey zurück. Er habe ja nicht wissen können, dass diese "nicht mehr ganz zeitgemäß" seien. Wann bitteschön, waren die denn zeitgemäß? Zu einer Zeit als Lüttke zehn Jahre alt war?

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20.10.06

Es ist geschafft, denke ich. Und gleichzeitig blicke ich mit ein wenig Sorge auf die vielen Dinge, die ich bis zum Jahresende noch erledigen will:
– Umzug und die damit verbundenen Dinge: Wohnung ausmisten, Kram verkaufen, neue Wohnung renovieren und einrichten
– Rentenfrage klären
– Silvesterfeier organisieren
– Würzburg-Festival
– Free Play endlich absolvieren oder es sein lassen
Keine schöne Haltung, wenn man die Dinge im Erledigen-Modus betrachtet.
Wie an fast jedem Morgen hier nehme ich das Frühstück auf meinem Zimmer ein und besorge mir lediglich das heiße Wasser aus der Küche. Im Speiseraum wieder die Teilnehmer des Christen-Seminars. Das ist doch wirklich eine merkwürdige Religion, die mir im Laufe der Zeit immer unverständlicher wird. Die Aufforderung zur Barmherzigkeit ein schönes Element, aber das ganze Drumherum kann doch eigentlich keiner verstehen. "Gott hat seinen Sohn für uns geopfert." Was ist das für eine seltsame Logik? Wem wird dieser Sohn geopfert? Das Ganze doch offenbar nur ein Trick, dem qualvollen Ende des Predigers, den sie für den Messias hielten, einen Sinn zu geben. Und warum hat Gott "seinen" Sohn geopfert, wenn er doch im Sinne der Dreifaltigkeitslehre der Sohn selber ist? Warum trägt diese Religion so grimmige Züge? Warum müssen sie – Höhepunkt der Perversion zu dem Bild eines auf ein Foltergerät gespannten Menschen beten? Wer hat das Bekreuzigen erfunden? Was ist das für ein perverser Gedanke, zu erklären, in diesem Foltergerät läge Seelenheil? Was ist das für eine Perversion, sich an dem qualvollen Tod des Gottessohns zu freuen? Wobei die Christen es ja so genau auch nicht wissen, ob sie sich nun freuen sollen oder trauern. Freuen über die Auferstehung heißt dann auch freuen über den Tod, über den qualvollen Tod, über den Verrat des Judas, über das Urteil des Pilatus usw. Dazu das ganze Schuldgefasel. Die Annahme, ein Mensch werde schuldig geboren, muss Millionen das Leben verbittert haben.
K fährt mich eilig zum Flughafen. Unterdrücke jede Bemerkung über etwaiges Zuspätkommen, denn wegen des Staus könnte sie nicht schneller, sondern höchstens nervöser fahren. Wir verabschieden uns dann auch herzlich und kurz, wie ich es am liebsten mag. Einer der größten Temperamentsunterschiede zwischen mir und Steffi, die Abschiede am liebsten auf Stunden ausdehnt. Während das für mich wie ein unentschiedener Händedruck ist – geht man nun oder bleibt man – eine Unentschiedenheit. Ewiges In-der-Tür-Stehen oder Warten an der Straßenecke, Austausch von nebensächlichen Informationen, nur um das eigentliche Gehen noch einmal herauszuzögern.
Passagierunfreundliche Logisitik in Prag. Man astet eine halbe Stunde lang durch den Flughafen, 15 Minuten Security, während die Boarding-Leute einen hetzen.
Fühle mich in Propellermaschinen unwohler und bin da vermutlich nicht der Einzige. Sie wirken so mechanisch, die Technik nachvollziehbar-gefährlicher. Das Brummen des Flugzeugs so laut, dass es schwer ist, sich die Reise angenehm zu denken. Gebe mir aber die größte Mühe und genieße den Blick auf die Landschaften.
Es ist ein Running Gag des Fliegens: Alle drängeln sich, aus dem Flugzeug zu kommen, wenn noch nicht einmal die Sicherheitsgurtzeichen aus sind, warten dann im Gang und dann noch mal bei Passkontrolle und vor allem beim Gepäcklaufband. Wer also als erster den Terminal verlassen kann, liegt vor allem am Zufall des Gepäckverfrachtens und ist kaum beeinflussbar.
Treffen der Enthusiasten im bayrischen Restaurant Weihenstephan. Volker – der Einzige von uns, der bayrische Küche nicht mag – hat dann auch prompt die schimmlige Erdbeere bekommen. Sie bieten ihm als Ausgleich einen Obstler an. "Kann ich stattdessen einen Kaffee haben?" – "Nein." Armer Volker. Stephan wird Vater. Falls es ein Junge wird, will Stephan ihn Jan nennen. [Kommentar 2008: Er dürfte nun froh sein, sein, dass es Mädchen geworden ist.]

*

Die Parallelen sind erstaunlich! Am selben Tag wie ich richtet Jochen einen Blick nach vorn, was er noch schaffen will. Allerdings nicht bis Ende des Jahres, sondern in den nächsten zwei Wochen:
– Pjöngjang übersetzen
– Salbader-Geschichten lesen
– Exposé über DDR-Buch schreiben
– zwei Texte pro Woche für die Chaussee
– Szenario für Mawil-Comic
– Körperfunktionen redigieren
– für Nachruftext recherchieren
– Stück fürs DT und die gesamte Theaterwelt schreiben.

Nicht nur die Deutschen werden "holzschnittartig" (J.S.) porträtiert, auch das Lachen des russischen Großfürsten gleicht "einem rhythmischen Grollen, so stark, dass eine ganze Armee es hätte hören können." (M.P.) Gelernt ist gelernt. Vielleicht ist das der übliche Umgang russischer Großfürsten untereinander.

***

Sa, 21.10.06

In Anlehnung an die Finanzierung der Staatsoper möge der Bund jede dritte Lesebühne "unter seine Fittiche" nehmen, schreibt die taz. Seltsames Ansinnen.

 

Jochen plädiert für "Praktikantin" bei der Chaussee, die nicht nur unser Internet-Gästebuch von Spam-Einträgen säubern könnte, sondern auch unser Leben aufpeppen.

Swann muss als Jude und Dreyfuß-Anhänger die Gesellschaft verlassen.

*

So, 22.10.06

Nach fünf Stunden Verwaltungsarbeit unternehme ich einen Spaziergang auf dem Gelände des RAW. Angenehm-heitere Atmosphäre und das schöne Oktoberwetter machen mich fröhlich. Im Ambulatorium ein Zirkus-Workshop für Kinder – Clowns, das übliche Kinderbemalen, Akrobatik usw. In der Lagerhalle Goa-Party, der bleiche und alkoholisierte A. stolpert heraus. Hier und da die üblich-verdächtigen abhängenden Alkoholiker, aber so langsam glaube ich, dass aus dem RAW in vielleicht 5-10 Jahren doch mal so etwas wie die UFA-Fabrik des Friedrichshain werden könnte. Es fehlt natürlich eine charismatische Gestalt wie Juppie, der die Dinge anpackt. Aber es gibt viele, die Gutes im Kleinen tun, und so das Erscheinen des RAW prägen.

Jochen findet eine Kaffeedose mit Rechnungen aus den Jahren 2000/2001, die eine eigene Geschichte verlorener Zeit erzählen. Darunter einen Kassenzettel aus der Buchhandlung Warschauer Straße vom 25.2.00, 13.47 Uhr, was darauf deutet, dass er nach der Chaussee bei mir übernachtete. Ein Blick ins Archiv verrät, dass wir am Vorabend in folgender Besetzung lasen: Jochen Schmidt, Robert Naumann, Andreas Gläser, Dan Richter, Kurt Krömer, Michael Stauffer, Stephan Steckling. Jochen mit drei Texten und einmal "Gedichte, die wir nicht verstehen".

Swann inzwischen todkrank. Saint-Loup preist die Freuden des Bordells. Und Marcel?

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Mo, 23.10.06

Rufe bei der Ärztin an, die mich vor ein paar Wochen "durchgecheckt" hat. Nur bei Blutfett bin ich im oberen Normalbereich, was nichts schlimmes heißen muss, man müsse das bei einer etwaigen neuen Untersuchung mal aufsplitten in gute und schlechte Fette. Und warum nicht gleich? Ein eigens Textgenre: Ärzteauskünfte.
Wladimir kündigt an, Berliner Bürgermeister werden zu wollen. [Kommentar 2008: Hat nach Obamas Wahlsieg natürlich noch mal einen speziellen Touch. Aber von welcher Partei will er sich aufstellen lassen? FDP?]

Jochens deprimierender Aufenthalt in der Wohnung einer Witwe wegen der Nachrufreihe vom Tagesspiegel, für die zu schreiben ich damals abgelehnt habe. Der Tote – ein vergessener Journalist. J.S.:"Man muss rechtzeitig sterben, damit diejenigen, die die Nachricht interessiert, es noch erleben." Deprimierend für Jochens Journalisten-Ich.
Jetzt, im Oktober 2008 ist auch noch Studs Terkel gestorben, einer der wenigen Journalisten, den ich beneide, und zwar nicht nur um den Job, sondern um die Fähigkeit, sich vollen Herzens und mit der größten Offenheit anderen Menschen zu nähern.

Swann berichtet Marcel detailliert über seine Unterredung mit dem Prinzen, obwohl er "bei jenem Grad der Ermüdung angelangt [war], in dem der Körper des Kranken nur noch eine Retorte ist, in der man chemische Reaktionen beobachten kann."

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Di, 24.10.06

Überraschender und erfreulicher Besuch von P., der sich allerdings in Gesprächen immer weniger konzentrieren kann, selten bei der Sache bleibt, assoziativ mäandernde Monologe führt, als wäre man als Gesprächspartner egal.
Anfrage für Weihnachtsauftritt von Bausparkassenfiliale. Übernehme die Organisation. Wieder mal. Als ob das meine Herzensangelegenheiten wären!

J.S.: "Nachmittags im Puppentheater, wo ‘Die drei Schweinchen’ gegeben werden. Der Erzähler hebt an: "Wir werden heute das Märchen von den drei Schweinchen und dem Wolf hören". Daraufhin fängt ein Kind an zu heulen und muß rausgetragen werden." Bei der Chaussee irritiert es mich immer wieder, wenn Zuschauer genau dann aufs Klo gehen, wenn ich meinen Text ankündige. Man tendiert dazu, es persönlich zu nehmen, dabei ist die kurze Pause zwischen zwei Texten genau der richtige Moment. Und wenn sie bei meinen Kollegen aufstehen, finde ich’s ja auch nicht schlimm.

J.S.: "Den Herzog freut, dass sein Bruder Charlus so nett mit seiner Geliebten, Madame de Surgis, geplaudert hat." Ich dachte, der ist schwul?
J.S.: "Endlich verlassen wir mit Herzog, Herzogin und Marcel diese öde Soiree, nur noch die Treppe gilt es hinabzusteigen und dann schnell in den Wagen, man muß ja zum Glück nicht erst die Mäntel aus dem Jackenhaufen im Flur vorkramen und sich durch die Schlange der vor dem Klo wartenden Betrunkenen zur Haustür drängeln."
J.S.: "Jede Errungenschaft der Technik kleidet unser Leid auch in ein neues Gewand: auf einen Brief wartet man nur zu den Zeiten der Brieflieferung, auf einen Anruf kann man den ganzen Tag über warten, mit einem Handy sogar an jedem Ort der Welt. Die Voraussetzungen für unglücklich Verliebte, sich zu quälen, werden immer besser."

Monolog – Hände

In Monologen sei man klar mit den Händen. Die Frage, wohin mit den Händen, erübrigt sich, wenn wir sie benutzen, um Sachverhalte zu verdeutlichen.
Klare einfache Gesten, mit denen man den Raum teilt, statt Fingergefitzel, das den Zuschauer/Zuhörer eher verwirrt. Wenn man aufzählt, nicht mehr als drei Dinge nennen – mehr führt eher zu Unklarheit. Diese zwei, drei Dinge symbolisch und klar im Raum verankern, bzw, den Raum teilen.

16.10.-19.10.2006

Gleich mehrere verpflichtungsreiche Tage nacheinander, die mich an der angenehmen Lektüre- und Chronistenpflicht hindern: Donnerstag Chaussee, Freitag Lesung beim ORF in Wien, Samstag Rückflug und Lesung Alte Kantine, danach in Jochens Geburtstag reinfeiern, Sonntag Improtheater unterrichten.

Mo, 16.10.06

L. wurde trotz Grippe verpflichtet zu dolmetschen. Warum müssen Workaholics ihre krankmachende Arbeitssucht immer noch auf andere übertragen?Aufmunterungs-Mail von Steffi, die im Alter von vier oder fünf Jahren den Reporter Mützenknall erfand, der immer einen Schlüpfer auf dem Kopf trägt und alles um sich herum kommentiert.T. gibt Feedback von Zuschauerin aus Nürnberg, die die Bö für die beste Improgruppe aus Berlin hält.Fragebogenfrage: “Was war bisher Ihre maximale Haarlänge?”

*

Jochens Wohlbefinden getrübt durch eine sich ankündigende Krankheit, die Stapel unaufgeräumter Papiere und einer Reihe anderer Misslichkeiten, aber “die schlimmsten Sachen, die einem am meisten zusetzen, kann man hier gar nicht berichten, weil sie entweder unappetitlich sind oder zu privat.”

Welche Last das Geschlecht einer adligen Familie bedeutet, kann man wohl nur ermessen, wenn man hört, “dass der Großvater des Königs von Schweden noch in Pau seinen Kohl gebaut hat, als wir schon neun Jahrhunderte in ganz Europa ganz obenan gewesen sind.””Man gruselt sich fast, wenn man denkt, daß diese Kreise, die man nur aus den Todesanzeigen der FAZ kennt, ja nicht ausgestorben sind, sondern ihre selbstgerechten Seilschaften immer noch pflegen.”

Ende des zweiten Bands

Sodom und Gomorra

Di, 17.10.06

Kälteeinbruch. 7 Grad mittags und in den öffentlichen und städtischen Gebäuden wird nicht geheizt. Auch nicht am Institut. Wie gut, dass ich hierher umgezogen bin: Das Gästehaus der Evangelen betreibt eine eigene Heizungsanlage.Nach dem Mittagessen ein Abstecher zum Buchmarkt, wo ich mir die mp3-Gesamtausgaben von Depeche Mode, Stones, Aquarium, Bob Marley besorge – dann wäre das auch mal erledigt – und dann kaum mehr ukrainisches Geld in der Tasche habe. Tatsächlich passiere ich keinen Umtauschladen auf meinem Weg, mit denen die Stadt doch sonst zugepflastert erscheint.Am Nachmittag mit dem Taxi zum Institut. Ich erkläre den Studenten das Prinzip des Theatersports. Skepsis bei denen, die müde sind.

*

Nun wird die ganze schwule Episode von Charlus nachgereicht, inklusive deutlicher Anspielungen und offenbar ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Mi, 18.10.06

9 Uhr Pressekonferenz im Bayrischen Haus zum Impro-Projekt. Junge Journalisten (bei uns würde man sagen: Praktikanten) bauen ihren Kram auf. Eine davon mit extrem langen Fingernägeln, extrem kurzem Rock und Schal. Alles macht ihr zu schaffen. Ob sich Männer solche Mode-Sachen ausdenken, damit die Frauen hilflos wirken, so dass man ihnen helfen kann. Wenn man einen kurzen Rock trägt, kann man sich eben nicht normal hinsetzen. Das wäre die verschwörungstheoretische Erklärung. Alternativ: Frauen kaufen solche Sachen aus Bequemlichkeit – man muss ihnen helfen, sie können sich ausruhen. K. beginnt die Ansprache. Auch ich soll eine Rede halten, fasse mich aber mit 1,5 Minuten sehr kurz und bitte um Fragen. Dass jemand mit Humor antwortet, ist ihnen etwas fremd. K’. meint später, es sei eine gute Pressekonferenz gewesen, da alle so lange geblieben sind. Ich sage, dass die Talentierten unter diesen Studenten eine Gruppe aufbauen könnten. Die Frage eines der Journalisten, welche organisatorischen Voraussetzungen denn notwendig seien, um Impro zu betreiben, scheint typisch: Erstmal die äußeren Probleme abchecken und auf Organisation von außen vertrauen. Daraufhin die K., die Studenten seien zu infantil. Ich erwidere, sie seien infantil, solange man sie wie Kinder behandelt.Beide K.s extrem hektische Typen. Wenn das Telefon während des Essens klingelt, müssen sie rangehen. Und auch: Sobald sie eine Idee haben, muss diese umgesetzt werden, und sei das beim Essen. In seinem Verhalten: er läuft beim Losgehen noch dreimal rein und raus, erkenne ich mich selbst wieder, wie ich vor einem Jahr noch war.Nach der Show im Institut – alle sind glücklich – gehe ich zum deutschen Stammtisch. Auf dem Weg dorthin werde ich hier das erste Mal von einer Prostituierten angesprochen, die aber als solche kaum erkennbar ist, da ja hier ein für unsere Begriffe nuttiges Outfit die Standardkleidung für junge Frauen ist. Sie fragt mich zuerst nach der Uhrzeit, um dann zur Sache zu kommen: Haben Sie einen Moment Zeit? Nein, ich bin mit Freunden verabredet. “Vielleicht kann ich mitkommen und wir haben eine gute Zeit und guten Sex?” Gibt es eigentlich Nuttenbedarfsläden oder müssen die sich alle bei Beate Uhse eindecken?Der Stammtisch ein Ventil für die hiesigen Deutschen – mal ein bisschen über die Odessiten ablästern. So seltsam es auch erscheint, überall scheint man das zu brauchen: Die Seltsamkeit der Einheimischen mal unter Deutschen ungestraft thematisieren zu dürfen, was man ja manchmal nicht einmal mit der Ehefrau kann, wenn sie denn eine Einheimische ist. Auch wenn meine Schwierigkeiten hier nicht gering sind, übe ich mich in Positivität.

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J.S.: “Vieles, was man heute nicht mehr beachtet, hat man doch in der Kindheit fast als Wunder empfunden.” Eine Liste von an die Hundert Wundern, fast jedes eine kleine Erinnerung wachrufend. Beispielsweise das Blasrohr. Ich besaß eines mit Munitionsrevolver, eigentlich die perfekte Waffe, wäre sie nicht so furchtbar ostig gewesen, dass die Mechanik nach dem ersten Benutzen kaputt ging. Eine Weile benutzte ich es noch weiter, aber das Zielen auf die Zielscheibe war auf Dauer langweilig, und so benutzte ich es hinfort als Knüppel.

Ausführliche Details zu psycho-sozialen der von Freud “invertiert” genannten Liebe. Wie man sich wohl gesehen haben muss, wenn das eigene Empfinden als abnorm gegolten hat? Ob das nicht selbst zu Störungen führte, die dann die Abnormität sozusagen von selbst bestätigten?

*

Do, 19.10.06

Mail von A., U. hätte Bar-Mitarbeiter beleidigt. Sie droht mit Kündigung. Natürlich, wie sich später herausstellt, eine Nichtigkeit. Eine Bemerkung, die als Frage gemeint war, wurde vom Mitarbeiter als “Problem” empfunden, die Chefin interpretiert es als Beleidigung. Schlechter Umgang im Team, ungenügende Kommunikation und manchmal böser Wille und Eitelkeit.Auftritt im “Goldenen Saal” des Literaturmuseums. Ohne Eintritt. K. scheint geradezu überrascht über meine Überraschung, dass es nichts kostet. Die Gruppe müsste selbst auftreten, müsste Geld dafür verlangen, müsste sich die Lehrer selber kommen lassen. Die ökonomische Seite ist Teil des künstlerischen Engagements. Guter Auftritt, pressetechnisches Brimborium. Drei TV-Kameras, Zeitungs-Journalisten. Eine Fernsehfrau mit riesigem Mund und ordentlichen Zahnlücken, raumgreifenden Bewegungen und lauter Stimme, interviewt mich in hastigem und gebrochenem Deutsch zwischen dem Warm Up vor der Show: “Saggen Sie, das Wichtigstää fjur experimentalische Improvisationtheater iiist????” Sie rotiert mit dem Unterarm, um mich zum Sprechen zu animieren. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Nicht gerade ein guter Ausweis für einen Improlehrer. “Die wichtigste Mättodde iiissst???”Abendessen mit allen Teilnehmern im Bayrischen Haus. Auf einmal ist die Gruppe wie ausgewechselt. Sie sind ruhig, hören zu. Dann fangen sie an zu singen, und es ist ein bisschen wie früher auf der Krim. Allerdings singen sie Volkslieder, keine Rocksongs oder Grebenschtschikow. Keinerlei Rebellion.Im Laufe des Abends verabschiede ich mich ungefähr drei Mal von jedem. Einige bringen mich noch auf einem kleinen Umweg nach Hause. Ich bin erstaunt, dass es für Ljoscha, den Begabtesten von allen, der erste Kurs überhaupt ist. Als ich sage, sie sollen ihre Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, stoße ich auf wieder auf eine Mauer der Skepsis.

*

Das Drucker-Rechner-Problem, das Jochen vor Kurzem noch einen halben Tag und eine halbe Seite raubte, lässt sich nun einfach lösen, indem man das Gerät vor dem Anschalten anschließt.Es irritiert und belastet Jochen, nach dem Weg gefragt zu werden. Bei mir ist es fast ein Reflex, wenn ich nur jemanden mit Karte und suchendem Blick auf der Straße erspähe, ihm helfen zu wollen, egal wie eilig ich es habe.

Auf der Soiree der Prinzessin von Guermantes. J.S.:”…Châtellerault (allein der unbequem zu tippende Name dürfte verhindern, daß er jemals zum Helden eines meiner Romane werden wird).” Vielleicht ein Grund, warum in amerikanischen Romanen überdurchschnittlich viele Figuren Jasper heißen. Der Name lässt sich gut tippen.

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Akzeptiere und engagiere dich

Ich hatte lange Zeit gedacht, im Grunde ließe sich in der Impro alles aufs Akzeptieren zurückführen. Aber es gibt einen zweiten entscheidenden Punkt, den ich vielleicht eine Weile übersehen habe, weil er in meiner eigenen Entwicklung als Improvisierer nie eine Rolle gespielt hat: Einsatzfreude (Engagement, Commitment).
Accept = YES
Commit = AND

Ja-Unterricht

Ein seltsamer Umstieg. Wenn man über Monate eine Gruppe Fortgeschrittener unterrichtet – mit ausgefeilten Tips zum Storytelling, zu Abstraktionen, physischen Feinheiten usw. – dann ist es regelrecht überraschend und erfrischend, eine Gruppe blutiger Anfänger zu trainieren.
“Darf ich auch Nein sagen?”
“Ist das so richtig?”
Wie wichtig es ist, den Ja-Muskel immer wieder zu trainieren! Die physischen und geistigen Blockaden abzulegen! Was für ein Hemmschuh die Eitelkeit sein kann!

12.10.-15.10.06

Wahrscheinlich könnte man Prousts Komik (nach dem, was man durch Schmidt herauspickt) der von Moliere zuordnend. Thema hier: Der unsichere Bourgeois im Milieu der überlebten Aristokratie, welche hin und hergeworfen ist von der Freiheit, die ihr das Geld verleiht, und den Konventionen, an die sie sich zu halten gezwungen ist, um sich nicht selbst infragestellen zu müssen.

Do, 12.10.06

Diskussion unter den Enthusiasten über Textlängen. Ich halte mich raus. Solange Robert moderierend die Wellen glättet, muss man nichts befürchten. Das würden wohl nur wenige Außenstehende glauben: Robert, das Sozial-Talent.

In Erwartung, zur neuen Wohnung gefahren zu werden, habe ich den Rucksack gepackt. Aber wir “besichtigen” sie nur. Die sei “prinzipiell” frei, aber im Moment nicht. Und ich hatte mal gedacht, ich hätte dir Russen verstanden.WS in der Uni nur zu zehnt. Es ist entspannter. Ein Typ nur am Kichern, ich könnte ihn manchmal würgen. Aber das würde womöglich zu außenpolitischen Scherereien führen, wenn ich wegen Totschlag im Odessitischen Gefängnis einsäße.T., die es immer noch nicht verwunden hat, dass ich aus ihrer Wohnung ausziehe, dolmetscht nur noch zögerlich. Ich weiche aus auf ein Russisch/Englisch-Kauderwelsch. Funktioniert auch.Beginne Dick Francis’ “Weinprobe”, ein Autor, den ich lediglich zu lesen begonnen habe, da von ihm Dutzende Bände im Regal von Christa Wolf stehen. Was für Krimis liest sie? Eine Katastrophe wie bei McEwans Liebeswahn bricht herein und ist der äußere Anlass für die weiteren Verwicklungen.

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J.S.: “Das schönste am Zeitunglesen ist der Moment, wenn man das Blatt wieder weglegt, einfach nur aus dem Fenster vom Café guckt und sich klar macht, wie gut es einem geht. Ich fand es immer unter meiner Würde, positiv zu denken, ich wollte meine Komplexitäten nicht zu etwas Überflüssigem degradiert sehen, aber es ist natürlich auch etwas dran, daß man sich darin üben kann, sein Glück zu erkennen.””Gestern hat Lou Reed im Radio gesagt, New York sei seine DNA, dann ist Berlin mein eingewachsener Zehnagel.””Es war eigenartig, in New York so etwas normales zu machen, wie Gemüsereste aus dem Ausguß zu pulen, während der Blick aus dem Fenster auf unwirklich schmale und sagenhaft schöne Hochhäuser fiel.” Mag es jemandem mit Berlin auch so gehen?

Jochen fühlt sich zum ersten Mal mit Marcel verbunden, als dieser seinen Fruchtsaft nicht teilen will. Unverhohlener Egoismus – die Bonbongeschichte.

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Fr, 13.10.06

Merkwürdigkeiten:

  • überall unregelmäßige Treppenstufen. Vielleicht ist “DIE TREPPE” von Odessa eben deshalb so sensationell, weil sie die einzige mit regelmäßigen Stufen ist.

  • die ewige Flickschusterei. Kaum etwas wird dauerhaft instandgesetzt. Am schlimmsten ist es bei den Wohnhäusern: Die Wohnungen gehören den Mietern, die für diese manchmal viel Geld ausgeben. Die Fassaden, die Treppenhäuser, die Dächer zerfallen.

  • der Russen-Geruch. Bis heute weiß ich nicht, woher dieser seltsam beißende Russlandgeruch kommt. Kohl und Benzin?

  • Ein beständiges Nörgeln zwischen den Leuten, dem vor allem die Frauen nicht widerstehen können.

  • Handys werden unartig benutzt. Generell eine seltsame Form von Unaufmerksamkeit. Äußerlich oft formal bis steif, geht während der Rede des katholischen Kirche eine Stadträtin ans Handy. Bei meinem Unterricht in der Schauspielschule bekomme ich im Anschluss Blumen, aber während des Kurses rennen sie raus und telefonieren.

Mini-Impro-Kurs in der Schauspielschule. Wieder überraschend. Ein kleiner Klassenraum. Die Schüler hinter Bänken. Offenbar bekommen sie es von den Lehrern hier eingehämmert, was wohl auch der Grund für das permanente Schnatterbedürfnis ist. Anders geht es nicht, meint K., die Schülerinnen seien hier zu “unreif”.Ein Konzert der merkwürdigen Art. Eigentlich eine Art Vorsingen der Gesangsklasse. Eine mehr als übergewichtige Gesangslehrerin, die sich eng kleidet und grellrot schminkt. Das Vorsingen im schmuddligen Raum, wo auch wir trainieren. Im Vergleich zum Schmuddelzimmer sind die Sänger für unsere Begriffe völlig overdressed, heraussticht der der Star des Nachmittags – eine Sängerin, die inzwischen in Deutschland auch Fuß gefasst haben soll. Sie trägt nicht nur Abendkleid (es ist 15.30 Uhr, sondern weißen Pelz um die nackten Schultern, wie Opernstars zu Zeiten Prousts. Alles wirkt falsch, nur die Stimmen recht gut. Aber der Schmerz der immerleidenden Sänger unecht. Die Professorin souffliert ihren Schülern während des Vortrags. Der Star legt auf falsch-anmutige Art den Kopf in die Schräglage, permanent kitsch-lächelnd, wie lange hat sie das einstudiert, andererseits ist diese Art von Ruhe und Freundlichkeit des Geistes eher selten hier und mein Verhältnis dazu dann wieder eher ambivalent. Hinterher natürlich wieder, wie Matze schon ankündigte, “Ansprachen und Blumen”.Nach der Mittagspause gebe ich zwei unbezahlte Zusatzstunden im Institut. Erstaunlich, dass dann doch zehn Schüler erscheinen. Das Gebrabbel hat also nichts damit zu tun, dass es ihnen keinen Spaß machen würde.Russisch-orthodoxer Feiertag. Mit L. an einer Kirche vorbei. Sie traut sich nicht hinein, weil sie kein Kopftuch habe. Eine Kapuze tut es dann auch. Ein fetter Priester in Königskostüm und Krone erteilt den Gläubigen einzeln den Segen, Kleinkinder werden zu ihm hochgehoben, damit er sich nicht zu bücken braucht. Ein beeindruckender Chor – oder macht das vor allem die Akustik? Schwarzgekleidete Frauen mit ihren kreisförmigen Kopftuchversteifungen, wie man es nur aus russischen Filmen kennt.K. fährt mich zum Gästehaus der Evangelischen Kirche. Vorher Verabschiedung bei T., die sich noch mal dafür entschuldigt, dass sie kein bequemeres Bett habe. Dabei habe ich das “unbequeme Bett” nur erwähnt, weil ich ihr die Peinlichkeit über den allgegenwärtigen Dreck zu sprechen, ersparen wollte. Im Gästehaus könnte ich vor Freude über den Komfort weinen.Wirklich zu Tränen rührt mich dann der langsame Satz der Klaviersonate C-Dur (Sonata facile) von Mozart. Ich kann mich gar nicht satt hören. [Spiele dann im Jahr 2007 Tag für Tag mindestens zehn Minuten dieses Stück und lerne auf diese Weise Klavier.]

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Jochen im tschechischen Zug nach Dresden: “Eigenartigerweise sofort viel heimatlicher als der ICE.” Wird es eine Generation geben, die nostalgische Gefühle gegenüber dem ICE hegen wird? Auch wenn sie müffeln, sind mir die alten Züge, die man in Polen und auf einigen Regionalstrecken der Deutschen Bahn antrifft auch ans Herz gewachsen. Und ich glaube nicht, dass es nur mit Nostalgie zu erklären ist. Die ICEs pfeifen aufs Feng Shui, sie haben keine organischen Formen. Aber ja, die Geschwindigkeit, könnte man einwenden. Ich brauche nach einer Reise mit dem ICE immer genauso viel Zeit zur Erholung. ICE fahren ist Arbeit.

Entnervende Verwandtschaftsverhältnisse, in die Marcel eingeführt wird und die er uns ungefiltert kosten lässt: “Tatsächlich erklärte Monsieur de Guermantes, daß die Urgroßmutter von Monsieur d’Ornessan die Schwester von Marie de Castille-Montjeu gewesen sei, der Gemahlin Timoleons von Lothringen, und infolgedessen eine Tante Orianes.” Aus diesem Grunde habe ich als Jugendlicher immer bei Familien-Dramen abgeschaltet. Weder das von Jochen so geliebte “Haus am Eaton Place” noch “Die Waltons” konnten mich begeistern, am allerwenigsten Adelsgeschichten. Aber natürlich lohnt es sich “Hundert Jahre Einsamkeit” und “Des Mauren letzter Seufzer” gehören zu meinen Lieblingsbüchern. Und wie viele haben aufgegeben, die Bibel zu lesen, nur weil man sich vor allem im ersten Buch Mose durch Genealogien kämpfen “muss”.

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Sa, 14.10.06

Wache um 7 Uhr vergnügt auf, obwohl es einigermaßen kühl ist im Zimmer.Duschen eine Freude trotz des scheiße anmontierten Duschkopfhalters. Dass man im Ausland immer wieder lernt, deutschen Handwerksanstand zu schätzen.Gehe mit meinem Frühstückstablett in den Speiseraum, wo die Köchin gerade kommt und mir freundlich die Option gibt, das heiße Wasser zu benutzen, wenn ich nicht das Frühstück des Gemeindehauses will. Aber an den Tisch der anderen soll ich mich nicht setzen. Manchmal sind sie auf seltsame Weise kompliziert.Francis, der gerade mal so spannend ist, dass er mich weiter am Lesen hält. Hält nicht ganz, was Wolf verspricht.K., die mich täglich rasant zum Institut chauffiert, muss ihren kleinen Daihatsu alle drei Minuten scharf abbremsen, da die Schlaglöcher so konstruiert sind, dass ihr Wagen gut als Füllmasse dienen könnte. Hätte Odessa eine deutsche Stadtverwaltung, würden die Schlaglöcher binnen eines Monats gestopft und binnen eines weiteren Monats gäbe es an ihrer Stelle sauber konstruierte Verkehrsberuhigungs-Huppel, damit rasante Daihatsus alle drei Minuten scharf abbremsen.Workshop. Bei einigen ist der Knoten geplatzt, andere dermaßen grob, dass man keinen Anknüpfungspunkt hat. Sie gehen physisch aufeinander los und zerdreschen den Notenständer. Es verschlägt mir die Sprache. A. ist die Dickste und Gröbste von allen. K. begründet das damit, dass sie auf dem Dorf großgeworden sei. Wäre eine solche Begründung bei uns noch denkbar? Mit dem Singen kriege ich sie dann alle. Da sind sie zuhause, das können sie. Auf einmal funktionieren die Szenen, das Timing, die Geschichten, der Ernst und der Witz. Abholen bei dem, was sie können und lieben.Erschöpft lege ich mich hin. Zu müde, um etwas zu schreiben. Außerdem muss ich den Workshop verarbeiten. Ich schließe die Augen und höre innerlich die nörgelnden russischen Stimmen weiter. Auf diese Weise mache ich das kein zweites Mal. Es müssten schon Schauspieler oder Schauspielschüler sein!Am Abend wieder Mozarts zweiter Satz der Sonate Nr. 16 – berückende Einfachheit und Schönheit.Meine Verdauung ist hier wesentlich besser. Woran mag es liegen? Wie auch früher auf der Krim oder in Ferienlagern haben eklige Klos immer eine direkte Auswirkung auf meinen Darm – ich muss dann tagelang nicht.

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Jochen im Kino. “jedes mal diese Single-Demütigung an der Kasse: ‘Einmal Parkett.’ ‘Dreimal?’ ‘Einmal!’ Wie kann man statt “einmal” “dreimal” verstehen? Ich denke, die machen das mit Absicht, aber ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen, es gibt eben Berufe, die sich nur durch das Ausleben sadistischer Triebe ertragen lassen.”Wie kann man dieses Nicht-Verstehen nicht verstehen? Jochen ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine am Telefon durchgegebene Telefonnummer nicht sicherheitshalber wiederholt.Marcel lässt sich vom schwulen Charlus demütigen. Er setzt sich dann ausgerechnet auf den Louis-Quatorze-Sessel. Welche Peinlichkeit, die Jochen allerdings nicht in die Liste “Verlorene Praxis” aufnimmt.

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So, 15.10.06

Bevor ich gegen 8 Uhr aufstehe, lese ich die letzten 20 Seiten des Francis-Krimi zu Ende, die ich gestern Abend nicht mehr geschafft habe. Etwas konstruiert finde ich es dann doch: Bei jedem neu eingeführten Erzähl-Element weiß man schon, dass es früher oder später wieder eingebaut wird. Das neu geschenkte Taschenmesser ist dann auch prompt zur Stelle, als man Fesseln durchschneiden muss. Alles hängt mit allem zusammen. Zu viele Zufälle außerdem, die dann gerade zur rechten Zeit kommen.Durch den Park nähere ich mich langsam dem Meer. Ich merke, dass ich viel zu kalt angezogen bin. Habe mich von der Sonne betrügen lassen. Hoffe auf ein Café, in dem ich etwas warmes zu essen und zu trinken bekomme.Spaziere zum Strand. Das erste Mal seit 1994 wieder am Schwarzen Meer. Ich denke zurück, der Abschied damals war bitter, weil ich wusste, ich würde nicht noch einmal mit meinen Freunden auf die Krim fahren, die Zeit war vorbei. Im Grunde war die Reise mit H., E., K. und den Russen sowieso schon eine Reise zuviel gewesen. Ralf war schon gestorben, es war nicht mehr aufregend. Man sah den Verfall. War vorher das Betrunkensein eine verrückte Ausnahme, ein Über-die-Stränge-Schlagen, war es nun die traurige Regel. V. war über mehrere Tage nicht ansprechbar. Und nun bin ich ein paar Kilometer weiter westlich wieder am Schwarzen Meer, und meine Sehnsucht nach den alten Zeiten hält sich in Grenzen. Ebenso die Wiedersehensfreude. Kaputte Piers, alles schmuddelig. Trotzdem gut, am Meer zu sein. Ich setze mich in ein offenes Restaurant (drinnen darf man nicht sitzen) und esse Schaschlik. Der Preis anschließend utopisch, aber anscheinend wird das Fleisch nach Menge berechnet, gebe ihr trotzdem noch ein stattliches Trinkgeld, denn sie hat sich Mühe gegeben, und lasse so 100 Griwen dort.Treffen mit Frau Köhn und ich weiß nicht wem in einer protestantischen Kirche. Sie hat gerade ihre Probe beendet und bespricht letzte Details mit dem amerikanischen Dirigenten – ein Dreißiger als Protestant so streng ist, dass er – so Frau Köhn – nicht den katholischen Mozart spielen will. Stattdessen studieren sie Haydns „The Creation“ ein. An den hinteren Reihen wartet noch ein stämmiger Mittvierziger Wir wechseln einen kurzen Blick und wissen im Grunde, das wir einander gleich vorgestellt werden sollen, tun dann, als es geschieht, aber überrascht. Er wundert sich, dass die ukrainische Schrift so anders ist als die deutsche. Er scheint bei der Vorbereitung für seinen Aufenthalt in Odessa ein paar Lücken gelassen zu haben. Dadurch, dass er nicht nur einen schweren bayrischen Akzent hat, sondern auch noch gehörig stottert, bleiben einige seiner Fettnäpfchentritte unbemerkt. Dabei entbehrt seine Sprechweise nicht einer unbeabsichtigten Poesie, die an die lautmalerischen Experimente des Expressionismus erinnern. Als ich ihn frage, ob er geflogen sei oder mit dem Auto gefahren, meint er, dass er gehört hätte, eine Autofahrt sei zu anstrengend. “D-d-da fahren die Autos immer in solchen Kolonnollonnollonnen.” Ich denke, diese Wortneuschöpfung drückt den Charakter einer Kolonne recht treffend aus. H. scheint mit der Regel, nach der man eine fremde Kultur zunächst bestaunt, bevor man sie kritisiert, nicht recht vertraut. Regelrecht belustigt ist er von der ukrainischen Deko-Folklore, besonders angetan haben es ihm die bunten Bommeln an den Stühlen und Lampenschirmen, und abermals glaube ich das Bommeln der Bommeln zu hören, sobald H. “Bommommommeln” sagt. Wir sind in ein gutes ukrainisches Restaurant eingeladen. Zum Abschluss will ich mir einen Wodka nicht verkneifen und trete in das Fettnäppfchen, einen Stolitschnaja zu bestellen. Als ich zögere, den mir empfohlenen Wodka zu bestellen, bekomme ich 15 Gramm gratis zum Kosten, die mir ja schon genügen würden. Aber jetzt kann ich die 50 Gramm ja schlecht ablehnen. So machen sie einen betrunken, diese Schlawiner.

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Überlegungen des Langzeitstudenten Jochen Schmidt über die Wiedereinschreibung: “Ich bin bestimmt einer der letzten Studenten der HU mit einer fünfstelligen Immatrikulationsnummer. Wahrscheinlich hätten sie den Fachbereich ohne mich längst abgewickelt. Die Professoren leistet man sich nur noch, damit ich irgendwann doch noch mein Examen machen kann. Vielleicht werde ich sie, auf meinem Sterbebett, endlich zu mir rufen, damit sie mir ihre Fragen stellen können. Dann werde ich ihre Hand halten und wir werden gemeinsam schweigen. Ob ich bestanden habe oder nicht, das zu beurteilen, liegt doch gar nicht in unserem Ermessen.”Meine Matrikelnummer war noch vierstellig. Ich hielt mich mit 12 Semestern schon für einen Langzeitstudenten. Aber vielleicht sind sowohl das Beenden als auch das Nichtbeenden des Studiums Formen der Trägheit.

Charlus kritisiert Marcels Rasur, während sie durch sein wertvolles Palais spazieren. Die möglichen Prozeduren einer Einladung zur Prinzessin de Guermantes werden abgewogen. Diese Einladung trifft überraschenderweise nach acht Wochen ein, und schwupps sind wir mit Marcel noch mal bei Herzog und Herzogin.

10.10.-11.10.06

Eine hartes Wochenende liegt hinter mir: Donnerstagabend Chaussee der Enthusiasten, Freitagabend mit Bohni und Stephan beim Kantinenlesen Görlitz, Samstag 87. Geburtstag meiner Oma Ruth Dressler. Am Abend Kantinenlesen, am Sonntag Improtheater-Unterricht. Wie soll man da zum Bloggen kommen! Wieviel Disziplin kann man sich zumuten?Es ist übrigens seltsam, wenn man durch die teils mittelalterlich geprägte Stadt Görlitz latscht, und dann dort anhand der merkwürdigen Kulissen erfährt, dass Tarantino hier einen Kriegsfilm zu drehen beabsichtigt. Und ich hab schon den ersten Filmfehler entdeckt: Im Deutschland der 40er Jahre gab es mit Sicherheit nicht ein derart großes Angebot an Obst und Gemüse, und Rosenkohl wurde definitiv nicht in Kunststoffnetzen mit Plaste-Etikett angeboten. Mann, jetzt muss Quentin den ganzen Film neu drehen!

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Dienstag, 10.10.06

Nach etwas ruhigerer, aber nicht besonders komfortabler Nacht erwache ich gegen 8 Uhr. Notiere Ideen für den Workshop. Frühstück. Unten wird schon geraucht.Juan wartet mit dem Auto.Zu viele Teilnehmer. Ich versuche, den Workshop so anständig wie möglich zu leiten. Aber auf diese Weise werden wir nichts zustande bringen. Die meisten können sich nicht einmal ausprobieren.Von Mittag bis Nachmittag spiele ich mit verschiedenen Menschen hier Gespräch. Im X-Haus lässt mich G. durch die Sekretärin ins Büro rufen, statt selbst zu kommen. Auf sehr nette Art fängt er an, mir all die Sachen, die ich nun vom X-Haus schon weiß, noch einmal zu erzählen. Ich übe mich in Geduld und lächle. Über mich fragt er gar nichts. Ein Vortrag über die Geschichte der Deutschen in Odessa mit Begin bei den Ostgoten. Man hört, dass er diesen Vortrag schon tausendmal gehalten hat. Die ganze Prahlerei über die Entwicklung des X-Haus. Das ist es wohl, was Matze meinte, als er sagte, hier würden ständig Ansprachen gehalten.Am Abend fragt mich K., ob die Unterkunft OK sei. Ich denke, ein zweites Mal lasse ich die Gelegenheit nicht erstreichen und erwähne die Mängel in höflichen Worten. Das war ganz offenbar der falsche Zeitpunkt. K zuckt mit den Schultern und meint, das sei nun mal Odessa und hält mich von nun an wohl für einen anspruchsvollen Westler.Spaziere durch die Rischeljewskaja . Unglaubliche Hektik, die das Warten auf so vieles kontrastiert.

Der Laptopverkäufer ist ein Bewertungsdrängler: “warum bekomme ich keine bewertung von ihnen erbitte um Antwort oder eine Bewertung. “Meine Anregung zur rauchfreien Kantine ist Anlass zu politisch-ideologischer Diskussion. Es werden Opportunismus, Atomkrieg und Vergewaltigung als “Argumente” in die Runde geworfen, dabei wollte ich nur die Befindlichkeiten abklopfen.

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Jochen beklagt sich, dass niemand von der Chaussee der Enthusiasten seinen Rat angenommen habe, sich die Ausstellung von Sophie Calle anzusehen (“Mein Wort gilt nichts.” Man hört den kleinen Jungen weinen: “Keiner spielt mit mir!”) Dabei hatte ich mir den Termin schon lange notiert, bevor er sie erwähnt hatte. Warum er aber glaubt, sein Wort als Opinion Leader gälte begründungslos, bleibt schleierhaft.Nach der Ausstellung: “Kurzzeitig hatte man draußen wieder diesen ‘Objekt-Blick’, zum Beispiel an einem U-Bahn-Kiosk, aus dem ein dicker Lüftungsschlauch hing. Ein Künstler hätte es für Kunst halten können.”

Im Salon der Oriane, die ihren eigenen Edikten widerspricht und so “unaufhörlich die Ordnung der Werte bei den Personen ihres Kreises umstürzt.”

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Mittwoch, 11.10.06

Was soll ich nur tun? Ich muss die Gruppe reduzieren, ohne negativ zu wirken. Vielleicht sollte ich tatsächlich hoffen, dass sich das Problem von allein löst. Ich kann ja keine Maßnahmen treffen, ohne rigide zu wirken. Außerdem nervt die Haltung derjenigen Studenten, die das Ganze eigentlich nicht richtig wollen. “Halbfreiwillig”, wie mir Natalia gestern beim Abendessen gestand – sie haben die Wahl zwischen Musikunterricht bei Nadeshda und Impro bei mir.Auf der Fahrt zum Institut verkündet N. gegenüber T. kühl, dass ich ausziehen will wegen des unbequemen Bettes. Typisches russisches Nörgeln hinterher. Anstatt die Sache klaglos und schnell hinter sich zu bringen, fängt T. auch noch an, mich zu belabern. Will sie wirklich, dass ich ihr den ganzen Scheiß aufzähle, der in ihrem Haus kaputt, verwahrlost und mistig ist?Entgegen aller Ankündigungen ist die Gruppe mindestens genauso voll wie am Vortag. Ich tue mein Bestes.Ausführliche Antwort von Matze, sein zentraler Satz “Zunächst denke ich, immer erst fragen: Was geht? Anstatt zu fragen, was in dem Rahmen nicht geht”, baut mich auf. N. nimmt mich mit auf den Gottesdienst der evangelisch-lutherischen Gemeinde, wo ihr Chor heute singt. Überall geistliche Würdenträger. Bin etwas irritiert. Schließlich stellt sich heraus, dass es die Weihe des neuen Bischofs ist. Eine lange Prozedur mit viel Brimborium. Die Russen singen die deutschen Lieder mit, ebenso Gebete und Glaubensbekenntnis, das ich mir auch mal merken wollte. Sollte mir keiner erzählen, dass das für Außenstehende nicht sektenhaft und fundamentalistisch wirkt.Bischof Günsche, allgemein beliebt, macht, obwohl er in Bayern war einen herb-norddeutschen Ausdruck. Man weiß sofort, dass die Frau mit der roten Brille und dem Kurzhaarschnitt zu ihm gehört. Wahrscheinlich liegt es an dem strengen, skeptischen Gesichtsausdruck. Predigt mit Action: Als er davon spricht, verbinden zu wollen, wo andere teilen, nimmt er die Hand des Übersetzers und die des Gesandten der griechisch-orthodoxen Kirche: Lacher und Applaus. Dabei wirkt es so einstudiert. Hinterher lange Grußansprachen, während derer ich nur noch auf Natalia warte, die im Gemeindehaus eingesperrt war, dann aber anscheinend einen Hinterausgang genommen hat.Nehme ein paar Happen zu mir und spaziere dann Richtung Hafen.DIE TREPPE enttäuscht, man hatte sich das immer viel imposanter vorgestellt, aber der dahinterliegende Industriehafen zerstört den Eindruck. Mir fallen auch wieder ein: Das in “12 Stühle” erwähnte Erdbeben. Und bei einem Denkmal für Puschkin, dass der ja hier lebte. Entkoppeltes Wissen.

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Jochen “dienstlich” im Deutschen Theater, oder auch “DT”, wie es von Kennern genannt wird und wurde. Ich war kein Kenner. DT- und BE-Wissen und -Klatsch, das nahm ich damals allerdings wahr, wurde von DDR-Intellektuellen gern zur Markierung der Trennlinie genutzt, hier die Insider, da die Doofen. Die Unterschiede noch feiner als Bourdieu sie beschrieb.

In Orianes Wortwahl “…der ganze provinzielle Ursprung eines Teils der Familie Guermantes, der, länger bodenständig, auch kühner, ungezähmter und herausfordernder geblieben war…” Ein Adel, der “lieber mit seinen Bauern als mit Bürgern auf gleichem Fuße verkehrt.”Ähnlich gab es solche Typen auch beim oben erwähnten Intellektuellen-Adel der DDR. Die rauchten dann Karo.

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Streit im Haus:

Anti-Zug-um-Zug-Übung

Was passiert eigentlich, wenn wir die gute alte Regel des Zug-um-Zug bewusst hintertreiben, ja sogar dagegen spielen?
Übung: Zwei Spieler. Die Szene beginnt positiv. Irgendwann eskaliert der Dialog zu einem Streit, bis beide gleichzeitig sprechen. Der Fokus der Spieler sollte darauf liegen, sich auf das zu beziehen, was der andere sagt und gleichzeitig daraus neues Material schaffen. Man kann das zu einem richtig lauten Streit anwachsen lassen, bis beide Spieler am Höhepunkt plötzlich gleichzeitig aufhören zu sprechen.
Die Energie solcher Szenen ist enorm und erstaunlicherweise erfasst man als Zuschauer sehr viel.
Mögliche Vorübung: Streit auf Kauderwelsch mit Wiederaufnahme der Kauderwelschwörter des anderen.