Als Falko Hennig neulich in der Alten Kantine erwähnte, er lese ca. 10 Bücher parallel, glaubte ich, da käme ich lange nicht heran, doch beim genauen Hinsehen, komme ich ebenfalls auf diese Zahl:

  • Jochen Schmidt: Schmidt liest Proust

  • Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten

  • Truman Capote: Frühstück bei Tiffany

  • Francis Clifford: Zen-Minuten-Stories

  • Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

  • Gunter Lösel: Das Archetypenspiel

  • Robert M. Bramson: Coping With Difficult People

  • David Edmonds & John Edinow: Rousseaus Hund

  • Zeitschriftensammlung "Wissen und Leben" 1959-1961

  • Jeremy W. Hayward: Die Erforschung der Innenwelt

***

Di, 31.10.06

Jochen empfiehlt "Curb Your Enthusiasm", es mache süchtig. Schaue es sofort, erkenne das Suchtpotential und verzichte darauf, mir die DVD zu ordern.
Spannungen bei BÖ-Team nehmen zu. Beschwichtigungen kontraproduktiv. Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.
Bei Ebay ersteigert: Hans Buchheim – "SS und Polizei im NS-Staat". Steffi wird sich freuen.
Nocti mäkelt wieder: Wir mögen die Showlänge von 40-45 Minuten möglich exakt einhalten. 38 Minuten sind zu wenig, 48 Minuten zu viel. Man hat das Gefühl, sie suchen einen Grund, uns rauszukicken.

Jochens Liste unbequemer Pflichten als Kind bzw. Jugendlicher. Davon mir unbekannt:
– Bedankungsbriefe für Geburtstag und Weihnachten schreiben (Ich bekam keine Geschenke von außerhalb)
– beim Erntedankfest nach dem Gottesdienst mit den anderen Gemeindekindern singend durch die Altersheime ziehen und Fruchtkörbe verteilen (Ich ging nicht in die Kirche.)
– Geburtstagsbriefe an die Paten schreiben (Ich hatte keine Paten.)
Mir bekannte Pflichten:
– sich eine Erfindung für die "Messe der Meister von Morgen" ausdenken. Dabei griff ich oft auf den Trick zurück, die Erfindungen meiner Klassenkameraden aus dem Vorjahr zu kopieren, was erstens an sich schon peinlich war, zweitens dann immer schon nicht mehr altersgemäß, drittens obendrein noch völlig verunglückt
– am Klamottenaussortiertag stundenlang zu enge Pullover an- und ausziehen. Bei mir waren es eher Hosen. Da ich aber das älteste Kind war und wir nur selten Klamotten geschenkt bekamen, dürften Jochen und meine Schwester mehr gelitten haben. Aber wie jeder Hetero-Mann quäle ich mich noch heute in den Umkleidekabinen der Kaufhäuser.

Marcel wirft Albertine und Andrée vor, Frauen von "schlechtem Genre" zu sein. Unklar.
M.P.: "Es liegt übrigens im Charakter der Liebe, dass sie uns gleichzeitig misstrauischer und leichtgläubiger macht, uns dazu bringt, leichter als jede andere die Geliebte zu beargwöhnen, ihren Beteuerungen aber auch desto bereitwilliger Glauben zu schenken." Wie kann man denn mit gezücktem Messer in die Liebe gehen und sich dann wundern, dass sie scheitert?
Briefe der Albertine aus der Technikperspektive. Heute höbe man SMS auf oder löschte sie eben. Ein Brief trug noch den Geruch der Verfasserin.
Es gibt noch genau einen Menschen, dem ich manchmal Briefe schreibe. Aber auch diese Periode neigt sich ihrem Ende. Er hat mir verraten, dass er schon jahrelang auch mit Freunden per E-Mail kommuniziert. Schade. Die Briefe waren immer so schön dekoriert.
Angeblich verlorene Praxis: "Sich in einer dunklen Ecke des großen Tanzsaals auf einem Sofa genausowenig genieren, als sei man zu Hause in seinem Bett." Zumindest im RAW pflegen im Jahr 2006 von Zeit zu Zeit einige Besucher nach der Show hinterm Vorhang zu kopulieren, und sei es oral. Aber womöglich wäre das ja etwas, wofür sie sich zu Hause im Bett genieren würden.

*

Mi, 1.11.06

Es ist kalt, als ich aufwache. Zwinge mich zu ein paar Crunches, obwohl ich inzwischen weiß, dass die auch nicht viel helfen. Es regnet, ich pendle verpeilt durch die Wohnung. Auch das Aufstehen ist nicht so, wie es sein sollte.
Bei Kaisers Brötchen und beim Vietnamesen Blumen. Als ich ihn bitte, mir bei der Auswahl des Straußes zu helfen, nimmt er einfach von jeder gerade da stehenden Blume eine. Ich bleibe höflich und hoffe, dass das Ergebnis trotzdem gut aussehen wird. Besser als "akzeptabel" wird es nicht. Gerade gut genug, um es nicht ablehnen zu können.
Anruf von der WBM, die Schäden an der Wohnung seien zu groß, um die Wohnung weiterzuvermieten. Schade, ich hätte K. gern geholfen.
D. will seit Wochen für mich Texte ins Englische übersetzen, aber Prüfungen und familiäre Verpflichtungen halten ihn davon ab.
Peinliche Nachricht nach verkaufter Stones-CD: "ich kann diese CD so nicht akzeptieren. Das ist keine russ. Lizenz-CD; das ist eine billige russ. Kopie auf eine Aldi CD-RW. Ich würde eine neue, echte CD akzeptieren, oder machen sie mir ein alternativ-Angebot." Ich hatte schon so ein Gefühl…
Entschuldigungs-Mail vom Ballhaus, die mich weniger wegen des Inhalts als wegen des Auftauchens des Wortes desdo erheitert.
Udo Tiffert zieht in die Oberlausitz, die Heimat meiner Eltern.
Impro-Show zu zweit, in der wir das auf dem Festival Gesehene auf unsere Art verarbeiten – ein Liebesdrama und eine Impro-Show mit Puppen. Unsere Adaptionen gefallen mir sogar wesentlich besser. Allerdings lässt das Zeitgefühl nach. Als wir nach der ersten Hälfte die Pause statt des Schlusses ankündigen, schauen die Zuschauer uns ungläubig an. In der Garderobe sehen wir: Wir haben bereits 80 Minuten gespielt.

Jochen klagt über verlorene Straßenlaternen, deren Entfernung er persönlich nimmt.
J.S.: "Ich habe mal vorsichtig in der Branche angefragt, ob Interesse bestände, diesen Proust-Kommentar eines Tages zu drucken. Nein, hieß es, höchstens, wenn ich alles über Proust weglasse." Voland & Quist haben ja ehrenwerterweise alles über Proust dringelassen. Heißt das, sie gehören nicht zur Branche?

Beschreibung von Marcels Äußerem aus den Worten einer Dienerin: "Ach, diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen… Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen." Die Technik, sich aus dem Munde anderer überschwänglich loben zu lassen, kennen wir von Prousts erfolgreichem und schreibfreudigem Zeitgenossen Karl May.
J.S.: "Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. "Was für ein angenehmer Mensch, er hat mir keine Serviette umgebunden." So redet man ja nicht." Genau. Ich habe auch nie das Busch-Zitat verstanden: "Das Gute – dieser Satz steht fest – ist stets das Böse, was man läßt." Nein, das Gute ist mehr. Richtig müsste der Satz heißen: "Das Gute – dieser Satz ist gut – ist stets das Gute, das man tut."

*

Do, 2.11.06

Wieder eine Anfrage einer potentiellen Agentin für die Chaussee. Habe die Hoffnung schon fast aufgegeben. So erfolgreich die Chaussee in Berlin ist, so wenig schaffen wir es, uns außerhalb der Stadt vermarkten zu lassen.
Dass die WBM meine Wohnung nicht weitervermieten will, hat den Vorteil, dass ich nichts da drin machen muss, nur ein paar Dübellöcher stopfen und die Zwischendecke aus dem Flur entfernen.
M. sagt 15 Stunden vor Abreise seine Teilnahme an der Probenfahrt ab.
Der Software- und Computer-Experte regt sich im E-Mail-Verteiler mal wieder maßlos darüber auf, dass nicht alle auf seinem Wissensstand sind.
Die Heizung im Ambulatorium soll nun erst Mitte November eingebaut werden. Wir treten in warmen Anziehsachen auf. Micha und Volker üben den Text, mit dem sie den Deutschen Kollektiv-Rezitatorenwettstreit (Team-Meisterschaft des German Poetry Slam) gewinnen wollen.

Jochen grübelt angesichts eines alten, noch verpackten Murphy-Buchs, wem er dieses am 12.2.2000 schenken wollte. Das Einzige, was ich von jenem Tag noch weiß, ist, dass mir da Kohlen geliefert wurden. Am Ende des Winters. Zwei Tage, bevor ich zum ersten Mal nach Moskau fuhr. Unklar auch, ob man hier überhaupt von Wissen sprechen kann, ich habe das ja nur in meinem Kalender verzeichnet, die lebendige Erinnerung ist schon ausgelöscht.
"Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert." Selbständig lebensfähige Sentenz (J.S.), um nicht zu sagen: Aphorismus.

Nach dem Regen reißt Marcel ihr den Regenmantel vom Leib und "zog Albertine dicht an mich heran", aber angeblich nur, um ihr die Wiesen zu zeigen, was Jochen als perverse Form der Perversion ansieht. Aber wer weiß, was Marcel mit "Wiesen" meint.

*

Fr, 3.11.06

Wie so oft in letzter Zeit wache ich müde auf. Und wie so oft in letzter Zeit frage ich mich bei diesen kleinen Dingen, die einem nicht bekommen, ob sie vorübergehend sind, oder ob es etwas mit dem Altern zu tun hat oder ob das Alter nicht zumindest einen gewissen Einfluss darauf hat. Reiße mich zusammen, stehe auf, wasche mich, fahre mit dem Rad zum Wurzelwerk, während Steffi den Tisch deckt. Wir haben nicht viel Zeit, aber ist das Grund genug, um das Essen zu schlingen? Kopiere die Karte, die Kopien lasse ich später liegen.
Schöne Fahrt im Auto meiner Eltern nach W., wo wir im Sommerhaus von Gerd und Christa Wolf übers Wochenende proben dürfen. Diese Offenheit von Häusern hat mich immer fasziniert. Ich versuche es manchmal, aber natürlich langt meine olle Wohnung mit Außenklo in der Libauer 9 weder an Wolfs Sommerhaus noch an das von Frau Tietze, nicht einmal an die Wohnung der Juristen Will, die ihren spätpubertären Sohn in ihrer großen schönen Wohnung wilde Partys mit berüchtigten Punks feiern ließen.

Lebensfragen. Darunter "Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen "succubus" und "incubus" nicht merken?" Ich kenne weder das Eine noch das Andere. der anders ausgedrückt: Unklares Inventar – Succubus und Incubus.

Wörter, die Jochen zuerst in "Tim und Struppi" gelesen hat: Saufaus, Fata Morgana, Yeti, Elmsfeuer, Boxeraufstand, Syndikat, Cahare-Gift, liquidieren, Guano, Tapir, Chloroform, Piranhas, Pipeline.
Ich habe wahrscheinlich Ende der 80er erstmals einen solchen Band in der Hand gehabt und konnte damit wenig anfangen, ich war wahrscheinlich zu alt. Die Digedags hingegen faszinieren mich immer noch. Bei deren Lektüre lernte ich mit fünf bis sechs Jahren: Manager (was ich Manaager aussprach), Alligatoren, Pittsburgs-Stahl, Glühwürmchen, Telegraf, dass man Münzen auf ihre Echtheit durch Beißen überprüft, Sägefische, dass Diebe schwarze Masken und karierte Ballonmützen tragen. Während ich die Mosaiks durchblättere, erfahre ich ein eigenartiges synästhetisches Erlebnis, als ich die Zeichnung der Geheimdienstleute mit den Feuerwerkskörpern sehe, steigt mir ein Geruch von DDR-Schokolade und ein komisches Kribbeln in den Körper, wie ich es nur bei krasser Aufregung habe. Und ich weiß, dass mich das früher jedes Mal beim Betrachten dieses Bildchens durchfuhr. Jahrzehntelang hat es geschlummert, jetzt wieder erwacht. Ist Jochen schuld? Oder Proust? Oder doch Hannes Hegen?
J.S.: "jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, im Outfit russischer Frauen etwas leicht nuttiges zu erkennen."

31.10.-3.11.06
Markiert in:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert