Das Verwaltungsgericht Köln hat entschieden, dass auch die Baskenmütze einer muslimischen Lehrerin ein Symbol des Islam sei, sofern die Mütze von der Muslimin getragen werde, da diese ja so etwas Ähnliches sei wie ein Kopftuch, das ja ein frauenverachtendes Symbol sei, und somit wäre auch die Baskenmütze ein indirekter Verweis auf die Frauenverachtung des Islam. Ich nehme an, dass wenn sich diese Lehrerin demnächst eine Perücke aufsetzt, das gleiche Argument ins Feld geführt wird, ebenfalls bei einem Stirnband, und wenn es soweit gekommen ist, vermutlich auch bei einer Handtasche. Die Lehrerin selbst ist nämlich als Muslimin ein Symbol für den Islam, das wollen die Kultusminister wohl damit sagen. Fragt sich nur: Wer agiert denn hier frauenfeindlich? Man möge mich nicht falsch verstehen – ich halte den größten Teil dessen, was der Islam propagiert und wie er praktiziert wird für Hokuspokus, ebenso wie Katholizismus und Sterndeutung. Aber wer glaubt, daraus Kraft zu ziehen, soll diese Freiheit haben, zumindest so lange es ein Kleidungsstück ist, dass sich die Lehrerin auf die Omme setzt. Diskutabel hingegen wäre vielleicht eine satanistische Lehrerin, die glaubt, mit Vampirzähnen und Hörnern unterrichten zu müssen. Oder ein Lehrer, der einem todeszentrierten Kult frönt, unter dessen Mitgliedern es nicht unüblich ist, sich die Puppen zu Tode gefolterter Leichen um den Hals zu hängen. Das klingt jetzt vielleicht an den Haaren herbeigezogen, wird aber durch Kruzifixe aller Art tagtäglich praktiziert. Und kein Verwaltungsgericht meckert.

***

Sa, 4.11.2006

Schon seltsam. Das letzte Probenwochenende der Bö, keine Notizen und ich weiß nur noch, dass wir darüber diskutiert haben, wie man mit Figuren spielt.

Selbst Comics wie Shenzen und der im Frühjahr 2007 erscheinende "Pjöngjang", die Jochen übersetzt, stehen im Buchladen "in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene".
Liste von Marotten Kim Jong Ils. Zu dieser wäre wohl heute hinzuzufügen: Das eigene Bildnis vor nicht stattfindenen Fußballspielen zeigen zu lassen, während man gelähmt kaum mehr Befehle erteilen kann und die Generäle gleich den zänkischen Trauerweibern in "Lexis Sorbas" schon Krokodilstränen vergießen, obwohl man noch gar nicht tot ist.

Von Jochen erfahren wir nun, dass es die Musik ist, die im Zentrum von Madame Verdurins Salon steht, weshalb sich ihr Gesichtsausdruck zu einer ständig überwältigten Miene ausgeformt hat. In der Tat – die Betreiberin eines der wenigen Salons, die ich kennengelernt habe und die diesen Namen auch verdienten, wirkte ebenfalls ständig "überwältigt", so als müsse sie demonstrieren, wie wahnsinnig toll die von ihnen eingeladenen Performer seien und als ob wir deren Qualität sonst nicht zu schätzen wüssten.

So, 5.11.2006

Wir bringen den Polo zurück zu meinen Eltern. Nils ist da, und hat, je konkreter es wurde, Zeichen der Angst von sich gegeben, als es hieß, ich werde auch kommen, obwohl er sich wohl zunächst auf mich freute. Nach einer Viertelstunde Weinen, lässt er sich von mir vorlesen. Ich muss für ihn wie ein faszinierendes aber auch gleichzeitig überwältigendes Wesen wirken.

Jochen über den Open Mike in der Wabe Greifswalder Str. Er habe dort mal mit "Deborah" Salsa getanzt. Ich erinnere mich aber, dass es "Rosa" war. Vielleicht ja auch beide.
Erinnerungen an die Stadtbibliothek zu DDR-Zeiten. Das Gefühl, endlich am Weltwissen teilzuhaben, das Überwältigtsein angesichts der Zettelkästen, gegen die das gesamte Internet, das ja offensichtlich auf die Festplatte meines Laptop passt, ein Klacks ist. "Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte, vielleicht fand er mich genauso seltsam, wie ich ihn." Er las auch Straßenbahnzeitschriften, alte Berliner U-Bahn-Pläne, trug Hosenträger und wurde nach der Wende extrem fett. Ich sah ihn dann irgendwann in der S-Bahn nach Strausberg, wo er, einem alten Eisenbahn-Narren-Tick folgend, die Stationen ansagte, "zurückbleiben!" rief und so tat, als stünde er mit dem Zugführer in Funkkontakt. Als ihm dann zwei Zigeunerinnen einen goldenen Ring zu verkaufen versuchten, floh er panisch. Stoff für eine osteuropäische Komödie. Übrigens kenne ich noch zwei weitere Hasenscharteninhaber, die mit diesem Menschen den Faible für Bahnen teilen. Einer von ihnen kannte den gesamten DDR-Fahrplan auswendig.
Jochens hat eine neue Maus. Bei der alten hakte die Kugel. Mauskugeln und -wellen gehören zu den wenigen Dingen, die ich gern putze. Wenn ich bei jemandem den PC benutzen darf, hat er mir damit sein Einverständnis gegeben, seine Maus zu öffnen und zu kontrollieren, falls sie nicht ordnungsgemäß flutscht.

J.S./M.P.: Der "kleine Kreis" ist bei den Verdurins angelangt, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen "La Raspelière" betreiben, das 200 Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke: "…um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist." Die Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Muskeln abtasten? Wann habe ich das letzte Mal eines Mannes Muskeln abgetastet?

Mo, 6.11.2006

Wir melden uns bei Alice an (und später wieder ab).
Liste der über meinen Umzug zu benachrichtigenden Ämter, Firmen und anderen Stellen:
– Bank
– Ärztin / Zahnärztin
– Krankenkasse
– VG Wort
– Voland & Quist
– Alte Kantine
– RAW
– Ebay
– Amazon
– Einwohnermeldeamt
– Telefon / Kündigung Telekom
– Gas
– Strom
– Merkur-Versicherung
– KSK
– Presse-Versicherung
– amnesty international
– Strato
– BfA
– taz
– Rolling Stone
– Gehirn und Geist
Werde erst später merken, dass sie unvollständig ist.
Als Gedächtnisstütze notiere ich Details über die Entstehung des Kantinenlesen: Ideengeber, Teilnehmer des Literaturexpress als Testlauf, angefragte Häuser, anstrengende Namenssuche, einmaliges Sponsoring, Ringen um annehmbare Konditionen, das erste anstrengende Jahr, die Lösungen wie Schönwetterkasse, Moderation, Schluss-Rap, das After-Show-Essen erst in der Schildkröte, dann im Schusterjungen.
Betrachte die seit zwei Wochen geführte Liste mit Dingen, die ich täglich für die Chaussee mache (ohne Texteschreiben). Im Schnitt täglich 30 Minuten. Man macht sich das manchmal nicht klar.
Grauenhafte Anfrage eines Hörers an die Chaussee, der uns bittet, seine witzigen Fragen zu beantworten, darunter die folgenden:
– Was hat euch eigentlich zum Schreiben veranlasst, wo doch so viele nicht einmal richtig lesen können?
– Würdet Ihr euch als ewige Dissidenten bezeichnen?
Auf welche Frage(n) würdet Ihr lieber nicht antworten und wenn ja, warum?
a.:) Wie groß ist Dein Bierverbrauch – pro Seite?
b.:) Was fühlst Du während des Schreibens?
c..) Warst Du mal auf einem Kurs für kreatives Schreiben?
c.:) Was könnte Dich glücklich machen?
d.:) Warum treten so wenige Frauen bei Euch ein?
e.:) Wo ist der Siebente? Es waren doch 7 Zwerge? Versiebt?

Spiegeln, so fragt Jochen, derartige Fragen wider, wie wir von außen wahrgenommen werden? Soll man überhaupt antworten? Ich denke dass ja. Selbst "Die Ärzte" geben von Zeit zu Zeit noch Antworten auf Fragen von Schülerzeitungen: "Wie kommen Sie denn immer auf solche lustigen Texte?" Zumindest müsste man antworten, dass man nicht antworten will. Ich lasse ich breitschlagen, nehme mir 20 Minuten für eine Antwort und er lohnt es mir, indem er mich in seinen Reklameverteiler aufnimmt.
Ich müsste es wissen, denn auch von der "Jugendpresse", der ich mal ein Interview gegeben habe, bekomme ich ständig nicht-abbestellbaren Spam.
Von welchen Tellerchen wollen wir nach dem Umzug essen – von bunten oder unbunten?
Das Goethe-Institut versucht, die Lesebühnen zu erklären. Zu 80 % ist das totaler Quatsch: ""Ein nicht zu unterschätzender Einfluss kam aus dem literarischen Untergrund der DDR. Dessen Szene wirkte vor allem im Bezirk Prenzlauer Berg. Zu Zeiten vor der Wiedervereinigung erprobten Autoren, ständig von Repressalien wie Veröffentlichungsverbot bis Verhaftung bedroht, neue Formen literarischer Öffentlichkeit, lasen in Konzertrahmen und Partys. Die heutigen Lesebühnen haben diese Tradition aufgegriffen…" So ein Nonsens. Die Lesebühnen sind aus einer völlig anderen Tradition entstanden. Der einzige nennenswerte Berührungspunkt mit der alten Ostszene ist, dass Papenfuß jetzt der Wirt jener Kneipe ist, in der die Reformbühne auftritt. Also nur Business.

Um sein unglückliches Verliebtsein zu vergessen, schmökert Jochen in Gustav Fischers "Landmaschinenkunde" aus den 20ern, aber wessen Wahrnehmung auf Sexuelles geeicht ist, wird auch in einem solchen Buch keinen Trost finden, wenn darin andauernd von Schwingschüttlern, Pommritzern usw. die Rede ist.

Dass seine Mutter eine Bindung mit Albertine begrüßen würde, ist für Marcel ebenso eine Überforderung wie das Einverständnis seines Vaters, er könne Literat werden. Die Freiheit, die uns überfordert, wenn wir nicht gelernt haben, Entscheidungen zu treffen. Ist es der Prokrastinator, der Autorität braucht, oder neigen Menschen, die autoritär erzogen werden, zu Prokrastination?
Und heißt das eigentlich, dass Prousts Mutter mit seiner Homosexualität einverstanden war?

Di, 7.11.06

Wache halb neun auf. Auf der Libauer wieder Straßenbauarbeiten. Man muss hier doch die wenigen stillen Morgen im Jahr stärker noch genießen. Und überhaupt den Zufall, dass gerade ich die Möglichkeit habe, meinen Kopf mal kurz in dieses Universum zu stecken, und das auch noch unter Bedingungen, in denen ich mir keine täglichen Existenzsorgen machen muss, sondern eher darum, wie man die Kunst am besten zuwege bringt, dass ist schon ein Wunder. Aber leider scheinen wir so nicht gestrickt. Wir suchen uns immer wieder den Stress, so wie Nils sich seine Ängste sucht, wenn ihm das Leben keine echten Gründe zum Fürchten gibt.
Umfangreiche Notizen zu Improtheater.
Finde die Noten des Andante-Satzes der Sonata facile von Mozart.
Am Abend mit Steffi in einem Off-Theater verabredet, damit ich endlich auch mal weiß, was es mit dieser Soap auf sich hat. Ich hatte mich auf einiges eingestellt, aber nicht auf diese Zumutung, die das Publikum bejubelt. Trash in der Darstellung, dabei inhaltlich aber dümmster Boulevard, schlechte Kalauer, keinerlei Hintergründigkeit. Die Figuren stimmen nicht, eine Sächsin, die falsch sächselt, ein Ex-Stasi-Mann mit Trenchcoat (!!) und Ost-Hut, nicht einmal die Türken stimmen, ebenso wenig die Berliner Typen. Sobald ein Klischee in der Ferne winkt, galoppieren die Schauspieler drauf zu und trampeln es breit. Will ihnen immer noch eine Chance geben, aber nach 20 Minuten reicht es mir. Steffi, die sich auch quält, will um der Schauspieler willen nicht früher gehen. Aber die nehmen ja auf mich auch keine Rücksicht.

J.S.: "Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch."
Wie müssen die Salongänger darunter gelitten haben, dass praktisch kaum eine ihrer Beobachtungen in ein Gespräch passte, bzw. sie ihre Beobachtungen an den Normen dieser Gespräche auszurichten hatten?

Kaiser Wilhelm habe "Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen." Was für die Rezeption des Romans einen schwierigen Bruch darstellt, da es Wilhelm und Tschudi gab, aber keinen Elstir. Das treibt mich ja auch zu extremen Leistungen bei der Lektüre von Romanen an, sobald die wirkliche Welt zu sehr hindurchscheint. Meine geliebten Sjöwall/Wallöh-Krimis konnte ich nur noch mit großer Anstrengung lesen, seit mir H.A. erzählte, er habe bei einer Radtour durch Schweden den ehemaligen Generalstaatsanwalt getroffen, der eben kein böswilliger Hund, sondern absolut liebenswürdig war und der das Schriftstellerpärchen sogar beraten hatte und sich über die Darstellung des karrieregeilen Staatsanwalts gut amüsierte. Romane über amerikanische Präsidenten sind für mich fast nicht lesbar. Auch "Schweigen der Lämmer" ist mir zu konkret, wenn die Schule des FBI und die Senatorin von Tennessee beschrieben werden. Es ist, als müsse ich ein Auge beim Lesen verschließen oder als singe im Hintergrund eine Gruppe fieser Gören: "Stimmt ja gar nicht! Stimmt ja gar nicht!"

4.11.06 – 7.11.06
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