Ich lebe nun schon fast die Hälfte meines Lebens in der BRD, aber bestimmte Phänomene der westdeutschen Gesellschaft werde ich wohl nie verstehen. Die Nachricht beginnt so:
Der Verein "Arbeitsgemeinschaft Wasserkraftwerke Baden-Württemberg" macht normalerweise nicht durch Skandale auf sich aufmerksam. Präsident und Hobbyangler Manfred Lüttke, 73 Jahre alt, CDU-Mitglied, kümmert sich etwa um Einspeisevergütungen für Ökostrom.
Schon diese Sätze werfen einen Haufen Fragen auf: Wieso ist ein 73-jähriger Mann Präsident der Wasserwerke? Wieso CDU? Wie sieht das aus, wenn sich Herr Lütke um Vergütungen "kümmert"? Ich muss unwillkürlich an Monopoly denken. Die Wasserwerke waren immer eine billige Investition. Man brauchte nicht erst in Häuser und Hotels zu investieren, sondern sie warfen gleich immer unverdientes Geld ab. Manfred Andreotti?
Er lese die Junge Freiheit und greift bei seiner Beurteilung des von den Nazis ermordeten Theologen Bonhoeffer auf die Schriften von Gerhard Frey zurück. Er habe ja nicht wissen können, dass diese "nicht mehr ganz zeitgemäß" seien. Wann bitteschön, waren die denn zeitgemäß? Zu einer Zeit als Lüttke zehn Jahre alt war?

***

20.10.06

Es ist geschafft, denke ich. Und gleichzeitig blicke ich mit ein wenig Sorge auf die vielen Dinge, die ich bis zum Jahresende noch erledigen will:
– Umzug und die damit verbundenen Dinge: Wohnung ausmisten, Kram verkaufen, neue Wohnung renovieren und einrichten
– Rentenfrage klären
– Silvesterfeier organisieren
– Würzburg-Festival
– Free Play endlich absolvieren oder es sein lassen
Keine schöne Haltung, wenn man die Dinge im Erledigen-Modus betrachtet.
Wie an fast jedem Morgen hier nehme ich das Frühstück auf meinem Zimmer ein und besorge mir lediglich das heiße Wasser aus der Küche. Im Speiseraum wieder die Teilnehmer des Christen-Seminars. Das ist doch wirklich eine merkwürdige Religion, die mir im Laufe der Zeit immer unverständlicher wird. Die Aufforderung zur Barmherzigkeit ein schönes Element, aber das ganze Drumherum kann doch eigentlich keiner verstehen. "Gott hat seinen Sohn für uns geopfert." Was ist das für eine seltsame Logik? Wem wird dieser Sohn geopfert? Das Ganze doch offenbar nur ein Trick, dem qualvollen Ende des Predigers, den sie für den Messias hielten, einen Sinn zu geben. Und warum hat Gott "seinen" Sohn geopfert, wenn er doch im Sinne der Dreifaltigkeitslehre der Sohn selber ist? Warum trägt diese Religion so grimmige Züge? Warum müssen sie – Höhepunkt der Perversion zu dem Bild eines auf ein Foltergerät gespannten Menschen beten? Wer hat das Bekreuzigen erfunden? Was ist das für ein perverser Gedanke, zu erklären, in diesem Foltergerät läge Seelenheil? Was ist das für eine Perversion, sich an dem qualvollen Tod des Gottessohns zu freuen? Wobei die Christen es ja so genau auch nicht wissen, ob sie sich nun freuen sollen oder trauern. Freuen über die Auferstehung heißt dann auch freuen über den Tod, über den qualvollen Tod, über den Verrat des Judas, über das Urteil des Pilatus usw. Dazu das ganze Schuldgefasel. Die Annahme, ein Mensch werde schuldig geboren, muss Millionen das Leben verbittert haben.
K fährt mich eilig zum Flughafen. Unterdrücke jede Bemerkung über etwaiges Zuspätkommen, denn wegen des Staus könnte sie nicht schneller, sondern höchstens nervöser fahren. Wir verabschieden uns dann auch herzlich und kurz, wie ich es am liebsten mag. Einer der größten Temperamentsunterschiede zwischen mir und Steffi, die Abschiede am liebsten auf Stunden ausdehnt. Während das für mich wie ein unentschiedener Händedruck ist – geht man nun oder bleibt man – eine Unentschiedenheit. Ewiges In-der-Tür-Stehen oder Warten an der Straßenecke, Austausch von nebensächlichen Informationen, nur um das eigentliche Gehen noch einmal herauszuzögern.
Passagierunfreundliche Logisitik in Prag. Man astet eine halbe Stunde lang durch den Flughafen, 15 Minuten Security, während die Boarding-Leute einen hetzen.
Fühle mich in Propellermaschinen unwohler und bin da vermutlich nicht der Einzige. Sie wirken so mechanisch, die Technik nachvollziehbar-gefährlicher. Das Brummen des Flugzeugs so laut, dass es schwer ist, sich die Reise angenehm zu denken. Gebe mir aber die größte Mühe und genieße den Blick auf die Landschaften.
Es ist ein Running Gag des Fliegens: Alle drängeln sich, aus dem Flugzeug zu kommen, wenn noch nicht einmal die Sicherheitsgurtzeichen aus sind, warten dann im Gang und dann noch mal bei Passkontrolle und vor allem beim Gepäcklaufband. Wer also als erster den Terminal verlassen kann, liegt vor allem am Zufall des Gepäckverfrachtens und ist kaum beeinflussbar.
Treffen der Enthusiasten im bayrischen Restaurant Weihenstephan. Volker – der Einzige von uns, der bayrische Küche nicht mag – hat dann auch prompt die schimmlige Erdbeere bekommen. Sie bieten ihm als Ausgleich einen Obstler an. "Kann ich stattdessen einen Kaffee haben?" – "Nein." Armer Volker. Stephan wird Vater. Falls es ein Junge wird, will Stephan ihn Jan nennen. [Kommentar 2008: Er dürfte nun froh sein, sein, dass es Mädchen geworden ist.]

*

Die Parallelen sind erstaunlich! Am selben Tag wie ich richtet Jochen einen Blick nach vorn, was er noch schaffen will. Allerdings nicht bis Ende des Jahres, sondern in den nächsten zwei Wochen:
– Pjöngjang übersetzen
– Salbader-Geschichten lesen
– Exposé über DDR-Buch schreiben
– zwei Texte pro Woche für die Chaussee
– Szenario für Mawil-Comic
– Körperfunktionen redigieren
– für Nachruftext recherchieren
– Stück fürs DT und die gesamte Theaterwelt schreiben.

Nicht nur die Deutschen werden "holzschnittartig" (J.S.) porträtiert, auch das Lachen des russischen Großfürsten gleicht "einem rhythmischen Grollen, so stark, dass eine ganze Armee es hätte hören können." (M.P.) Gelernt ist gelernt. Vielleicht ist das der übliche Umgang russischer Großfürsten untereinander.

***

Sa, 21.10.06

In Anlehnung an die Finanzierung der Staatsoper möge der Bund jede dritte Lesebühne "unter seine Fittiche" nehmen, schreibt die taz. Seltsames Ansinnen.

 

Jochen plädiert für "Praktikantin" bei der Chaussee, die nicht nur unser Internet-Gästebuch von Spam-Einträgen säubern könnte, sondern auch unser Leben aufpeppen.

Swann muss als Jude und Dreyfuß-Anhänger die Gesellschaft verlassen.

*

So, 22.10.06

Nach fünf Stunden Verwaltungsarbeit unternehme ich einen Spaziergang auf dem Gelände des RAW. Angenehm-heitere Atmosphäre und das schöne Oktoberwetter machen mich fröhlich. Im Ambulatorium ein Zirkus-Workshop für Kinder – Clowns, das übliche Kinderbemalen, Akrobatik usw. In der Lagerhalle Goa-Party, der bleiche und alkoholisierte A. stolpert heraus. Hier und da die üblich-verdächtigen abhängenden Alkoholiker, aber so langsam glaube ich, dass aus dem RAW in vielleicht 5-10 Jahren doch mal so etwas wie die UFA-Fabrik des Friedrichshain werden könnte. Es fehlt natürlich eine charismatische Gestalt wie Juppie, der die Dinge anpackt. Aber es gibt viele, die Gutes im Kleinen tun, und so das Erscheinen des RAW prägen.

Jochen findet eine Kaffeedose mit Rechnungen aus den Jahren 2000/2001, die eine eigene Geschichte verlorener Zeit erzählen. Darunter einen Kassenzettel aus der Buchhandlung Warschauer Straße vom 25.2.00, 13.47 Uhr, was darauf deutet, dass er nach der Chaussee bei mir übernachtete. Ein Blick ins Archiv verrät, dass wir am Vorabend in folgender Besetzung lasen: Jochen Schmidt, Robert Naumann, Andreas Gläser, Dan Richter, Kurt Krömer, Michael Stauffer, Stephan Steckling. Jochen mit drei Texten und einmal "Gedichte, die wir nicht verstehen".

Swann inzwischen todkrank. Saint-Loup preist die Freuden des Bordells. Und Marcel?

*

Mo, 23.10.06

Rufe bei der Ärztin an, die mich vor ein paar Wochen "durchgecheckt" hat. Nur bei Blutfett bin ich im oberen Normalbereich, was nichts schlimmes heißen muss, man müsse das bei einer etwaigen neuen Untersuchung mal aufsplitten in gute und schlechte Fette. Und warum nicht gleich? Ein eigens Textgenre: Ärzteauskünfte.
Wladimir kündigt an, Berliner Bürgermeister werden zu wollen. [Kommentar 2008: Hat nach Obamas Wahlsieg natürlich noch mal einen speziellen Touch. Aber von welcher Partei will er sich aufstellen lassen? FDP?]

Jochens deprimierender Aufenthalt in der Wohnung einer Witwe wegen der Nachrufreihe vom Tagesspiegel, für die zu schreiben ich damals abgelehnt habe. Der Tote – ein vergessener Journalist. J.S.:"Man muss rechtzeitig sterben, damit diejenigen, die die Nachricht interessiert, es noch erleben." Deprimierend für Jochens Journalisten-Ich.
Jetzt, im Oktober 2008 ist auch noch Studs Terkel gestorben, einer der wenigen Journalisten, den ich beneide, und zwar nicht nur um den Job, sondern um die Fähigkeit, sich vollen Herzens und mit der größten Offenheit anderen Menschen zu nähern.

Swann berichtet Marcel detailliert über seine Unterredung mit dem Prinzen, obwohl er "bei jenem Grad der Ermüdung angelangt [war], in dem der Körper des Kranken nur noch eine Retorte ist, in der man chemische Reaktionen beobachten kann."

*

Di, 24.10.06

Überraschender und erfreulicher Besuch von P., der sich allerdings in Gesprächen immer weniger konzentrieren kann, selten bei der Sache bleibt, assoziativ mäandernde Monologe führt, als wäre man als Gesprächspartner egal.
Anfrage für Weihnachtsauftritt von Bausparkassenfiliale. Übernehme die Organisation. Wieder mal. Als ob das meine Herzensangelegenheiten wären!

J.S.: "Nachmittags im Puppentheater, wo ‘Die drei Schweinchen’ gegeben werden. Der Erzähler hebt an: "Wir werden heute das Märchen von den drei Schweinchen und dem Wolf hören". Daraufhin fängt ein Kind an zu heulen und muß rausgetragen werden." Bei der Chaussee irritiert es mich immer wieder, wenn Zuschauer genau dann aufs Klo gehen, wenn ich meinen Text ankündige. Man tendiert dazu, es persönlich zu nehmen, dabei ist die kurze Pause zwischen zwei Texten genau der richtige Moment. Und wenn sie bei meinen Kollegen aufstehen, finde ich’s ja auch nicht schlimm.

J.S.: "Den Herzog freut, dass sein Bruder Charlus so nett mit seiner Geliebten, Madame de Surgis, geplaudert hat." Ich dachte, der ist schwul?
J.S.: "Endlich verlassen wir mit Herzog, Herzogin und Marcel diese öde Soiree, nur noch die Treppe gilt es hinabzusteigen und dann schnell in den Wagen, man muß ja zum Glück nicht erst die Mäntel aus dem Jackenhaufen im Flur vorkramen und sich durch die Schlange der vor dem Klo wartenden Betrunkenen zur Haustür drängeln."
J.S.: "Jede Errungenschaft der Technik kleidet unser Leid auch in ein neues Gewand: auf einen Brief wartet man nur zu den Zeiten der Brieflieferung, auf einen Anruf kann man den ganzen Tag über warten, mit einem Handy sogar an jedem Ort der Welt. Die Voraussetzungen für unglücklich Verliebte, sich zu quälen, werden immer besser."

20.-24.10.06
Markiert in:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert