Gleich mehrere verpflichtungsreiche Tage nacheinander, die mich an der angenehmen Lektüre- und Chronistenpflicht hindern: Donnerstag Chaussee, Freitag Lesung beim ORF in Wien, Samstag Rückflug und Lesung Alte Kantine, danach in Jochens Geburtstag reinfeiern, Sonntag Improtheater unterrichten.

Mo, 16.10.06

L. wurde trotz Grippe verpflichtet zu dolmetschen. Warum müssen Workaholics ihre krankmachende Arbeitssucht immer noch auf andere übertragen?Aufmunterungs-Mail von Steffi, die im Alter von vier oder fünf Jahren den Reporter Mützenknall erfand, der immer einen Schlüpfer auf dem Kopf trägt und alles um sich herum kommentiert.T. gibt Feedback von Zuschauerin aus Nürnberg, die die Bö für die beste Improgruppe aus Berlin hält.Fragebogenfrage: “Was war bisher Ihre maximale Haarlänge?”

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Jochens Wohlbefinden getrübt durch eine sich ankündigende Krankheit, die Stapel unaufgeräumter Papiere und einer Reihe anderer Misslichkeiten, aber “die schlimmsten Sachen, die einem am meisten zusetzen, kann man hier gar nicht berichten, weil sie entweder unappetitlich sind oder zu privat.”

Welche Last das Geschlecht einer adligen Familie bedeutet, kann man wohl nur ermessen, wenn man hört, “dass der Großvater des Königs von Schweden noch in Pau seinen Kohl gebaut hat, als wir schon neun Jahrhunderte in ganz Europa ganz obenan gewesen sind.””Man gruselt sich fast, wenn man denkt, daß diese Kreise, die man nur aus den Todesanzeigen der FAZ kennt, ja nicht ausgestorben sind, sondern ihre selbstgerechten Seilschaften immer noch pflegen.”

Ende des zweiten Bands

Sodom und Gomorra

Di, 17.10.06

Kälteeinbruch. 7 Grad mittags und in den öffentlichen und städtischen Gebäuden wird nicht geheizt. Auch nicht am Institut. Wie gut, dass ich hierher umgezogen bin: Das Gästehaus der Evangelen betreibt eine eigene Heizungsanlage.Nach dem Mittagessen ein Abstecher zum Buchmarkt, wo ich mir die mp3-Gesamtausgaben von Depeche Mode, Stones, Aquarium, Bob Marley besorge – dann wäre das auch mal erledigt – und dann kaum mehr ukrainisches Geld in der Tasche habe. Tatsächlich passiere ich keinen Umtauschladen auf meinem Weg, mit denen die Stadt doch sonst zugepflastert erscheint.Am Nachmittag mit dem Taxi zum Institut. Ich erkläre den Studenten das Prinzip des Theatersports. Skepsis bei denen, die müde sind.

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Nun wird die ganze schwule Episode von Charlus nachgereicht, inklusive deutlicher Anspielungen und offenbar ohne das Kind beim Namen zu nennen.

Mi, 18.10.06

9 Uhr Pressekonferenz im Bayrischen Haus zum Impro-Projekt. Junge Journalisten (bei uns würde man sagen: Praktikanten) bauen ihren Kram auf. Eine davon mit extrem langen Fingernägeln, extrem kurzem Rock und Schal. Alles macht ihr zu schaffen. Ob sich Männer solche Mode-Sachen ausdenken, damit die Frauen hilflos wirken, so dass man ihnen helfen kann. Wenn man einen kurzen Rock trägt, kann man sich eben nicht normal hinsetzen. Das wäre die verschwörungstheoretische Erklärung. Alternativ: Frauen kaufen solche Sachen aus Bequemlichkeit – man muss ihnen helfen, sie können sich ausruhen. K. beginnt die Ansprache. Auch ich soll eine Rede halten, fasse mich aber mit 1,5 Minuten sehr kurz und bitte um Fragen. Dass jemand mit Humor antwortet, ist ihnen etwas fremd. K’. meint später, es sei eine gute Pressekonferenz gewesen, da alle so lange geblieben sind. Ich sage, dass die Talentierten unter diesen Studenten eine Gruppe aufbauen könnten. Die Frage eines der Journalisten, welche organisatorischen Voraussetzungen denn notwendig seien, um Impro zu betreiben, scheint typisch: Erstmal die äußeren Probleme abchecken und auf Organisation von außen vertrauen. Daraufhin die K., die Studenten seien zu infantil. Ich erwidere, sie seien infantil, solange man sie wie Kinder behandelt.Beide K.s extrem hektische Typen. Wenn das Telefon während des Essens klingelt, müssen sie rangehen. Und auch: Sobald sie eine Idee haben, muss diese umgesetzt werden, und sei das beim Essen. In seinem Verhalten: er läuft beim Losgehen noch dreimal rein und raus, erkenne ich mich selbst wieder, wie ich vor einem Jahr noch war.Nach der Show im Institut – alle sind glücklich – gehe ich zum deutschen Stammtisch. Auf dem Weg dorthin werde ich hier das erste Mal von einer Prostituierten angesprochen, die aber als solche kaum erkennbar ist, da ja hier ein für unsere Begriffe nuttiges Outfit die Standardkleidung für junge Frauen ist. Sie fragt mich zuerst nach der Uhrzeit, um dann zur Sache zu kommen: Haben Sie einen Moment Zeit? Nein, ich bin mit Freunden verabredet. “Vielleicht kann ich mitkommen und wir haben eine gute Zeit und guten Sex?” Gibt es eigentlich Nuttenbedarfsläden oder müssen die sich alle bei Beate Uhse eindecken?Der Stammtisch ein Ventil für die hiesigen Deutschen – mal ein bisschen über die Odessiten ablästern. So seltsam es auch erscheint, überall scheint man das zu brauchen: Die Seltsamkeit der Einheimischen mal unter Deutschen ungestraft thematisieren zu dürfen, was man ja manchmal nicht einmal mit der Ehefrau kann, wenn sie denn eine Einheimische ist. Auch wenn meine Schwierigkeiten hier nicht gering sind, übe ich mich in Positivität.

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J.S.: “Vieles, was man heute nicht mehr beachtet, hat man doch in der Kindheit fast als Wunder empfunden.” Eine Liste von an die Hundert Wundern, fast jedes eine kleine Erinnerung wachrufend. Beispielsweise das Blasrohr. Ich besaß eines mit Munitionsrevolver, eigentlich die perfekte Waffe, wäre sie nicht so furchtbar ostig gewesen, dass die Mechanik nach dem ersten Benutzen kaputt ging. Eine Weile benutzte ich es noch weiter, aber das Zielen auf die Zielscheibe war auf Dauer langweilig, und so benutzte ich es hinfort als Knüppel.

Ausführliche Details zu psycho-sozialen der von Freud “invertiert” genannten Liebe. Wie man sich wohl gesehen haben muss, wenn das eigene Empfinden als abnorm gegolten hat? Ob das nicht selbst zu Störungen führte, die dann die Abnormität sozusagen von selbst bestätigten?

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Do, 19.10.06

Mail von A., U. hätte Bar-Mitarbeiter beleidigt. Sie droht mit Kündigung. Natürlich, wie sich später herausstellt, eine Nichtigkeit. Eine Bemerkung, die als Frage gemeint war, wurde vom Mitarbeiter als “Problem” empfunden, die Chefin interpretiert es als Beleidigung. Schlechter Umgang im Team, ungenügende Kommunikation und manchmal böser Wille und Eitelkeit.Auftritt im “Goldenen Saal” des Literaturmuseums. Ohne Eintritt. K. scheint geradezu überrascht über meine Überraschung, dass es nichts kostet. Die Gruppe müsste selbst auftreten, müsste Geld dafür verlangen, müsste sich die Lehrer selber kommen lassen. Die ökonomische Seite ist Teil des künstlerischen Engagements. Guter Auftritt, pressetechnisches Brimborium. Drei TV-Kameras, Zeitungs-Journalisten. Eine Fernsehfrau mit riesigem Mund und ordentlichen Zahnlücken, raumgreifenden Bewegungen und lauter Stimme, interviewt mich in hastigem und gebrochenem Deutsch zwischen dem Warm Up vor der Show: “Saggen Sie, das Wichtigstää fjur experimentalische Improvisationtheater iiist????” Sie rotiert mit dem Unterarm, um mich zum Sprechen zu animieren. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Nicht gerade ein guter Ausweis für einen Improlehrer. “Die wichtigste Mättodde iiissst???”Abendessen mit allen Teilnehmern im Bayrischen Haus. Auf einmal ist die Gruppe wie ausgewechselt. Sie sind ruhig, hören zu. Dann fangen sie an zu singen, und es ist ein bisschen wie früher auf der Krim. Allerdings singen sie Volkslieder, keine Rocksongs oder Grebenschtschikow. Keinerlei Rebellion.Im Laufe des Abends verabschiede ich mich ungefähr drei Mal von jedem. Einige bringen mich noch auf einem kleinen Umweg nach Hause. Ich bin erstaunt, dass es für Ljoscha, den Begabtesten von allen, der erste Kurs überhaupt ist. Als ich sage, sie sollen ihre Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, stoße ich auf wieder auf eine Mauer der Skepsis.

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Das Drucker-Rechner-Problem, das Jochen vor Kurzem noch einen halben Tag und eine halbe Seite raubte, lässt sich nun einfach lösen, indem man das Gerät vor dem Anschalten anschließt.Es irritiert und belastet Jochen, nach dem Weg gefragt zu werden. Bei mir ist es fast ein Reflex, wenn ich nur jemanden mit Karte und suchendem Blick auf der Straße erspähe, ihm helfen zu wollen, egal wie eilig ich es habe.

Auf der Soiree der Prinzessin von Guermantes. J.S.:”…Châtellerault (allein der unbequem zu tippende Name dürfte verhindern, daß er jemals zum Helden eines meiner Romane werden wird).” Vielleicht ein Grund, warum in amerikanischen Romanen überdurchschnittlich viele Figuren Jasper heißen. Der Name lässt sich gut tippen.

16.10.-19.10.2006
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