7. Buch: Die wiedergefundene Zeit
Fr, 5.1.07
Stehe nach 6 Stunden Schlaf auf, und mir ist alles zuwider: Die Wohngegend, die Zukunft und Gegenwart der Bö, dass ich mit meinem Geschreibe nicht vorwärts komme, dass mein Schreibtisch wieder wie Müll aussieht, dass es keinen Schnee gibt, dass meine Sachen immer noch unausgepackt rumstehen, dass die Wohnung definiert wird durch ihren Kleinkram. Hab ich meine Tage?
Im Laufe des Tages bekomme ich doch einen Arbeitsanfall und räume sieben Kisten aus.
Und der Tag endet versöhnlich mit einer schönen Dunkeltheater-Show – mitmachfreudiges, niveauvolles Publikum und ein Abendessen mit Steffi beim Mexikaner.
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Er habe seinen Steuerberater nicht wechseln gewollt, weil dann die Angestellte enttäuscht sein könnte. Schönes psychologisches Rätselraten: Ist das nun pointierte Soziophobie oder als pointierte Soziophobie getarnte Trägheit?
Bis auf das allererste Mal habe ich es auf eine gewisse Weise auch immer als befriedigend empfunden, die Steuererklärung selbst anzufertigen. Inhaltlich ist das mit der Software heute ja kein Problem für Freiberufler, sofern man nicht gerade nebenbei mit Immobilien, Abschreibunsgobjekten usw. handelt. Man lässt das Jahr noch einmal vorbeiziehen, die Einnahmen erinnern einen an schöne Auftritte oder Veröffentlichungen, die Ausgaben richten die Aufmerksamkeit auf schöne oder notwendige Anschaffungen. Ein persönlicher Jahresrückblick, den man sich nicht von Zetteln, Belegen und Zahlen trüben lassen sollte. Die Hälfte der Kollegen verstaut Belege, Quittungen und Rechnungen in Schuhkartons, die sie dann dem Steuerberater übergeben. Als ob schon das schiere Lochen und Einheften eine des Künstlers unwürdige Arbeit sei. Aber natürlich ist meine Haltung zumindest ungewöhnlich, und ich kann hier einen gewissen Hang zum Strebertum nicht abstreiten, denn in diesem Jahr [2009] habe ich mir die Steuer-CD schon Anfang Januar gekauft.
Der Refrain von Jochens Mutter sei „Frauen wollen Sicherheit“. Jochen interpretiert das finanziell. Sicherlich meint sie es auch so, vielleicht denkt sie aber eher an die Hausratversicherung.
Am Ende des Lebens schaut man auf das verpfuschte Schicksal zurück und macht seine Verwandten dafür verantwortlich. Und wenn von denen keiner mehr lebt, muss eben die Nichte hören, dass ihr Vater es besser hatte, der ja, da er Tanzunterricht genossen habe, auch eine Frau finden und also heiraten und also eine Familie gründen und also ein glückliches Leben führen gekonnt habe. Und so gibt sie nun an Jochen skurrile Ratschläge weiter.
Selber erwärmt sie sich gerade lieber für den TV-Liebeskummer als für den ihres Sohnes. Womit sich der Kreis schließt.
J.S./M.P.: „Ich werde zum Schreiben niemals befähigt sein“, kein guter Satz für die erste Seite eines Buchs, würde man heute sagen. Oder es ist eine gezielte Demütigung desjenigen Lesers, der sich schon durch sechs Bände gekämpft hat. Oder es ist noch einmal ein Spreu-vom-Weizen-Filter, durch den nur die hartgesottenen Proust-Fans kommen, die nie einen Funken Zweifel an Prousts Schreibbefähigung gehegt haben.
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Sa, 6.1.07
Lasse meine verflossenen Beziehungen im Geiste vorbeiziehen und beobachte, dass keine von diesen Frauen eine Schwester hatte. Wenn das mehr als ein Zufall sein sollte, so müsste man fragen, ob Frauen mit Schwestern mich abstießen oder ob diese mich unattraktiv fanden. Aber ich weiß ja nicht einmal, was Frauen mit Schwestern auszeichnet. Ein Artikel in Die Freundin hilft da auch nicht weiter mit den küchensoziologischen Betrachtungen.
Alle paar Monate bekommt man von Studentinnen Fragebögen zugeschickt. Meist geht es um die Situation Kultur-, Theater- oder Literaturschaffender in Friedrichshain. Manchmal will man ihnen ja helfen, aber wenn ich dann die Attachments ausgepackt habe (die ich dann auch noch ausdrucken, ausfüllen, eintüten und per Post zurückschicken müsste, da ich keine Acrobat-Profi-Version habe, die ausgefüllte Formulare speichern würde), müsste ich auf 90% der Fragen mit „trifft nicht zu“ antworten. Methodisch kräuseln sich meinem Soziologen-Ich bei diesen Fragebögen ohnehin die Zehennägel. So auch heute.
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J.S.: „Heute denke ich, daß es vielleicht ein Fehler war, mich nie für Autos zu interessieren. Wenn es mir kein Glück gebracht hat, mich in der Sprache der Frauen zu üben, sollte ich vielleicht die Sprache der Automobile lernen und die Autobeilage der Berliner Zeitung lesen“.
Es folgt die typische Poesie (oder das Kauderwelsch – je nach Perspektive) einer Beilage oder Zeitschrift, die sich mit Technischem befasst.
Und doch ist es wohl immer noch ein Unterschied, ob der man sich für Autos oder für Software interessiert. Autonarren werden seltener als Nerds angesehen, vielleicht weil die Beschäftigung mit schwerem technischen Gerät eher körperlich konnotiert ist. Wem würde man eher Masturbations-Sucht unterstellen – dem KFZ-Mechaniker oder dem Programmierer?
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J.S./M.P.: „Außerdem ist er lediglich „unfähig, selber etwas zu sehen, wonach nicht durch meine Lektüre das Verlangen in mir wachgerufen wäre und wovon ich mir nicht im voraus eine Skizze angefertigt hätte.“ So ist es immer beim Reisen, man muß von den Orten schon geträumt haben, und auch der Tag gewinnt, wenn man gewohnt ist, darüber zu schreiben. Kommen alle Interessen aus einem selbst und müssen sie mit der eigenen Herkunft in Beziehung stehen (mit anderen Worten: wird mich Asien jemals interessieren?)“
Diese Frage dürfte sich für Jochen geklärt haben. Im Herbst 2007 erreichte uns die Einladung des chinesischen Goethe-Instituts, aber erst als wir in Shanghai landeten, war unser Interesse wirklich geweckt. Man kann sich Orte, Erlebnisse (oder wie bei Marcel die Berufung) zurechtträumen, und dadurch erhält das tatsächliche Erlebnis einen bestimmten Schwung, aber enttäuscht wird man so oder so. Sich immer wieder neu zu öffnen, ist die große Kunst des Alters.
Aus dem Blog (nicht im Buch): „die Gemütsarbeit, die ich leisten mußte, um mir Mannheim zu einem Erinnerungsort umzuschaffen.“
Für das Kind ist es relativ wurscht, ob es in Mannheim, Berlin-Buch, Prenzlauer Berg oder Rosenheim aufwächst. Die Welt an sich ist spannend. Unsere Urteile fräsen sich aber zu tief ein, (und seien es die Urteile über Mannheim und Asien), um die Orte auf sich wirken zu lassen.
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So, 7.1.07
ich liege noch im Bett, als K. klingelt, um den Schrank, an dem auch so viele Erinnerungen hängen, abzuholen. 20 Mark hatte ich für das IDEAL-Poster bezahlt, das sich darauf richtig schön machte. Von Fats Domino gab’s keine Poster, also musste ich mit dem 3x3cm-Mini-Bildchen aus der Melodie&Rhythmus vorlieb nehmen. Ich bitte um Ruhe, aber die beiden Mädels zerren ihn schon in den Flur, im Glauben, ihn zu zweit die Treppen runterwuchten zu können. Resigniert ziehe ich mich um und packe mit an. Prompt verletze ich mich: Mein Daumen wird zwischen Wand und Schrank eingequetscht und schrappt an der geriffelten Wand des Hausflurs entlang. Eine schöne Art, den neuen Tag zu begrüßen.
Wir frühstücken in Ruhe weiter.
Es ist anstrengend und aufwendig, die Persisch-Tastatur zu bedienen und ich fürchte, diesen Teil der 1001-Nacht-Lektüre-Aufgabenliste nicht durchzuhalten.
Langer Winterspaziergang im Treptower Park. Ausführliches Trost-Bad in der Wanne. Was für ein Luxus, und für wie selbstverständlich ich den in der Guddorfstraße immer hingenommen habe!
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Ein ausgekoppelter Hit-Text: „Ich bin der…“
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Man schreibt das Jahr 1916, Marcel bedauert die Soldaten, die auf Fronturlaub durch die Fenster der Restaurants schauen. Der Krieg sei das Thema, dass ihn am meisten beschäftige.
Warum ist Marcel eigentlich nicht an der Front?
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Mo, 8.1.07
Meine Replik wollen sie bei der Zeitung nicht. Wahrscheinlich haben sie sogar recht. Am Abend Andrés bei uns, der noch bis nach Zwölf Klavier spielt – beim langsamen Satz der Sonate Facile kommen mir die Tränen.
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Quälende Texte für Jochen im Lateinkurs – der Raub der Sabinerinnen (bei Jochen „Sabinierinnen“)
Auch Roms Geschichte beginnt (wie die der Menschheit im Alten Testament) mit einem Brudermord. Aber im Alten Testament treibt den Mörder Neid an, hier ist es die reine Provokation. Man kann sich vorstellen, dass Remus seinem Bruder beim Überqueren des Grabens noch eine lange Nase machte.
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J.S./M.P.: „Marcel nennt diese Form sorgsam unterdrückter Neigung zur Männlichkeit „hassenswert“. Rührung werde erzeugt, indem man sie verbirgt, das sei „widerwärtig und häßlich, weil nur solche Leute in dieser Art trauern, die der Meinung sind, daß Kummer nicht zählt, daß das Leben ernster als Trennung und alles übrige ist.“ Das Ideal der Männlichkeit bei Homosexuellen wie Saint-Loup sei „verlogen, weil sie sich selbst nicht eingestehen wollen, daß physisches Verlangen auf dem Grunde der Gefühle ruht, die sie aus anderen Quellen herleiten.“ (Vielleicht spricht hier aber auch ein bißchen der geprellte Nicht-Soldat, denn der Krieg mache „die Hauptstädte, in denen es nur noch Frauen gibt, zu einem verzweiflungweckenden Aufenthalt für Homosexuelle…“) Obwohl Marcel Saint-Loups Haltung unendlich mehr als die von Charlus bewundert, ist doch des einen Verlangen „an den gefährlichsten Punkt gestellt zu werden“ im Grunde nichts anderes, als die Bestrebtheit des anderen, helle Krawatten zu vermeiden. Ein interessanter Gedanke, den man Ernst Jünger ins Grab nachrufen möchte.“
Marcels Erinnerungsort Combray ist zum kriegsentscheidenden Schlachtfeld geworden. „So bekommen die persönlichen Erinnerungsorte durch den Krieg im Nachhinein eine historische Bedeutung, wie es bei mir oft genau andersrum geschieht, wenn man um den Schloßteich in Kaliningrad joggt und später nachliest, daß hier die Patienten aus dem benachbarten Krankenhaus, als die Front kam, ins Freie gelagert wurden, wo die meisten starben. Oder sich vorzustellen versucht, wie das Kriegsgeschehen in der dörflichen Gegend ausgesehen hat, die man als Kind besucht hat.“
Man braucht gar nicht so weit wegzugehen. Wer denkt heute noch an die Leichenberge auf dem Alexanderplatz, an die Wasserleichen in den gefluteten U-Bahn-Schächten? Und wem will man dieses Grauen zumuten? Bequemer ist es, dass Gedenken mithilfe von Mahnmalen zu institutionalisieren, die abkürzende Chiffren bieten. Und den Impact des Krieges weniger gewaltig erscheinen lassen.