Fr, 12.1.07
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Archäologie des Jochen Schmidt. Wäre es möglich, einen Lebensstil nachzuvollziehen, anhand des Müllbefundes? 52 Objekte. Auffällig die Wiederholungen:
– 1 Bananenschale
– 2 Bananenschalen
– 1 Bananenschale
– 1 Bananenschale
– 1 Bananenschale
– 1 flüssig gewordene Banane in einer zugeknoteten Plastetüte
– 1 Verpackung Tip Takis Balkankäse
– 1 Verpackung Tip Takis Balkankäse
Fast alles sind Nahrungsmittelreste oder Verpackungen von Nahrungsmitteln. Ausnahmen:
– Papiertaschentücher
– Shampoo
– Geschenkband
Differenzen. Was man in meinem Mülleimer nie finden würde:
– Würstchenglas
– Speckziegenkäse
– Grießpudding
– Kaffeeweißer
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J.S./M.P.: "Zur Phänomenologie des Händeschüttelns: "Einen Augenblick jedoch noch, während er sich von mir verabschiedete, drückte Monsieur de Charlus mir die Hand, als wolle er sie zerquetschen, was eine deutsche Eigentümlichkeit aller Leute ist, die so geartet sind wie der Baron, und ein paar Sekunden noch ‚massierte‘ er sie mir, wie Cottard es ausgedrückt hätte, als wolle er meinen Gelenken eine Geschmeidigkeit wiedergeben, die sie durchaus noch nicht eingebüßt haben.""
Es gibt Techniken, sich vor dem Zerquetschtwerden zu schätzen, z.B. so tief wie möglich in die Hand des anderen zu greifen und dabei selbst recht fest zuzudrücken. R., den ich drei Mal pro Jahr treffe, ist dazu in der Lage, diese Defensive auch noch aufzubrechen. Schön auch in Anonymus‘ Mit aller Macht: "Wir gaben uns die Hand. Es ist bedauerlich, daß ich mich an diesen Moment nicht deutlich erinnere: Das Händeschütteln ist der Schwellenakt, der Beginn aller Politik. Seither habe ich ihn millionenfach Hände schütteln sehen, trotzdem könnte ich nicht sagen, wie er es macht, das mit der Rechten. Aber ich kann einiges darüber sagen, was er mit der anderen Hand tut. Mit der ist er ein Genie. Er faßt dich am Ellbogen oder weiter oben am Bizeps: Er interessiert sich für dich; es freut ihn, dich kennenzulernen. Wenn er noch höher geht, wenn er dir etwa den linken Arm um die Schulter legt, ist das irgendwie weniger intim, ehr beiläufig."
J.S.: "Unter der makellosen Sichel des Monds geht Marcel, wie ein Kalif aus seinem geliebten "Tausendundeine Nacht" durch das düstere und verdunkelte Viertel, und gelangt schließlich auf der Suche nach Bewirtung an ein zwielichtiges Hotel, das auf ihn wie ein Spionagenest wirkt."
Auf den letzten Seiten noch diese Überraschung: Es gibt eine Klammer zwischen dem Proustblog und dem 1001-Nacht-Blog, den ich wenige Wochen vor Jochens Lektüre dieser Zeilen begonnen hatte. Mit "ein Kalif" ist natürlich Harûn er-Raschîd gemeint, dem man, wie schon erwähnt, unterstellte, mit seinem Schwertträger und seinem Wesir in verschiedenen Verkleidungen die Stadt zu durchforsten. Der Unterschied zu Marcel ist natürlich, dass der Kalif seine Beobachtungen in Handlungen umsetzen kann. Man hat ihm auf diese Weise Volksnähe attestiert, die er nie hatte. Vermutlich kam er so gut wie nie aus seinem Palast hinaus, von ein paar Feldzügen abgesehen. Die Kehrseite ist natürlich das Gefühl der Überwachung. Das Motiv hätte auch gut zu Stalin passen können. Und tatsächlich gibt es auch ein lächerliches Propagandafilmchen über Ulbricht in den frühen 60er Jahren, die ihn zeigen, wie er im Auto durch die DDR fährt, und in Betrieben, Behörden und Häusern nach dem rechten sieht, und eben auch kurzerhand mal eine schlampig arbeitende Sekretärin entlässt.
Das "zwielichtige Hotel" beherbergt offenbar einen S/M-Schuppen, in dem sich Charlus foltern lässt.
J.S.: "Überraschende Information: – Marcel läßt nebenbei fallen, daß er irgendwann beim Militär war.", was man sich aber eigentlich die ganze Zeit schon gefragt hatte.
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Sa, 13.1.07
Ikea. Sammle mich, um ruhig zu bleiben und mich nicht von der Hektik der anderen anstecken zu lassen. Es gelingt mir 90 Minuten, dann habe ich keine Nerven mehr, mich auf Neues einzulassen oder auch nur meine Phantasie anzustrengen, um mir vorzustellen, wie irgendetwas aussehen könnte. Am Ende kaufen wir nur eine Tasche voll Kleinkram. Keine Einrichtung. Diesen Ikeatrick habe ich auch noch nicht durchschaut. Selbst wenn man nichts anderes kaufen will, geht man doch mit einem Haufen Schnickschnack, der für sich ganz billig wirkte, aus dem Gebäude und hat dann dort doch wenigstens 50 Euro gelassen.
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So, 14.1.07
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Selbständig lebensfähiger Absatz des Proust-Blogs: "ich denke nicht, daß Menschen, nur weil sie nicht schreiben, stumm bleiben. Viele Bauwerke, die in den letzten Jahren in Berlin errichtet wurden, kommen mir vor wie der Hilfeschrei eines unglücklichen Architekten. Da hat jemand seinen ganzen Kummer und Weltekel in seine Entwürfe gelegt. Und vielleicht kommt deshalb auch manchmal die Bahn zu spät, oder man wird auf einem Amt schlecht behandelt. Alles Liebeskummer. Nur daß, was den einen unsterblich macht, den anderen zur Plage für den Kunden werden läßt."
J.S.: "Sie kommt genau dann wieder, wenn sie spürt, daß du dich endgültig von ihr freigemacht hast, hat man mir gesagt. Das klingt immer, als sei meine Leidenschaft ein Grippevirus, den man auskurieren kann. Dabei denke ich immer noch an meine Krankenschwester von vor 17 Jahren…" An die unerfüllten Lieben denkt man wahrscheinlich sehnsüchtiger als an die gescheiterten. Sie erscheinen wie unausprobierte Lebensentwürfe, die einen im besten Falle daran erinnern, wenigstens einen durchzuhalten. Für mich war es immer gleich attraktiv, junger Vater zu sein oder das promiskuitive Leben eines Rockstars zu führen, und jetzt war ich weder das Eine noch tue ich das Andere. Ich werde wohl nie Bergsteiger werden, was mich nicht beunruhigt, aber ich werde auch nie ein Jahr lang auf einem Boot über Wasserstraßen die Länder Europas besichtigen. Ich werde kein großer Pianist mehr sein, und auch kein großer Sänger, kein Jurist. Ich werde nicht in den USA studieren, ich werde kein Leichtathlet. Und ich werde nie erfahren, wie es gewesen wäre, wenn ich es geschafft hätte, X zu überreden, mich zu ehelichen. Solche Gedanken lassen sich relativieren durch die Negativszenarien – ich wäre ein unreifer Vater gewesen, wäre als Penner geendet, wäre ein verstaubter Jurist, ein nur halbwegs guter Sänger, der Angst haben muss, von der Kleinstadtbühne entlassen zu werden, ich hätte dopen müssen, oder würde an X Alimente für unsere früher niedlichen, jetzt aber mit zig Traumata belasteten Kinder zahlen. Oder man fokussiert auf das Glück der Gegenwart: Ein schöner Beruf, eine schöne Arbeit, eine schöne Freundin, ein Körper, dessen Ausfälle sich in Grenzen halten, gerade so viel Geld, dass man sich nicht zu sorgen braucht, ob es noch reicht und nicht so viel, dass man sich fragen muss, ob man es denn auch wirklich gut angelegt hat.
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Zärtlichkeit entsteht im Luftschutzkeller wie im Darkroom – man überspringt das Vorgeplänkel
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Mo, 15.1.07
Eine jener Anfragen an die Chaussee, die eher abschreckt als neugierig macht:
"gern würde ich in Erfahrung birngen, ob ihr euch grundsätzlich – und nach genauer Inaugenscheinnahme des speziellen Vorhabens natürlich- vorstellen könntet, eure Donnerstagsveranstaltung einmal in einen Ausstellungskontext zu transferieren und bei anderen zu Gast zu sein. Wir sind eine Gruppe von Künstlern und Projektmanagern, die bei der NGBK für 2008 eine Ausstellung mit dem Arbeitstitel "Oasen in den Wüsten (nicht-)medialer Kommunikation" planen und zur Förderung eingereicht haben. Da die nun folgende Recherchephase nicht nur Künstlerauswahl etc erfordert, sondern auch das ausstellungsbegleitende Rahmenprogramm gedanklich vorbereitet werden will, würden wir uns lieber früher als später mit euch austauschen, ob so etwas denkbar wäre."
Jeder einzelne dieser verbalen Attacken lässt das künstlerische Immunabwehrsystem auf Hochtouren laufen:
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"in Erfahrung bringen"
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"Inaugenscheinnahme"
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"eure Donnerstagveranstaltung"
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"Ausstellungskontext"
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"Projektmanager"
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"NGBK" [als ob man diese Abkürzung kennen müsste]
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"Recherchephase"
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"Rahmenprogramm"
Die Krönung ist natürlich der Arbeitstitel. Klammern in Titeln sind natürlich ohnehin absolut Tabu. Dann aber noch ein "nicht". (nicht-)mediale Kommunikation? Was denn nun – medial oder nicht-medial? Und was sind bitteschön Kommunikationswüsten. Gibt’s da gar keine Kommunikation? Oder total viel (analog zu "Sandwüsten")?
Diesmal ist es Jochen, der trotzdem höflich antwortet.
Andererseits, man weiß nie, was dann wirklich dahintersteckt. Vor längerer Zeit schrieb uns ein Praktikant an, dessen Gruppe ein Comedy-Format für MTV entwickeln wollte. Ich war der Einzige, der sich hatte breitschlagen lassen – übernächtigt und unvorbereitet las ich ein eigentlich sehr lustiges Gedicht in die Kamera, das keiner witzig fand. Die Toningenieurin hat fast gekotzt. Später wurde daraus Comedy Central. Ohne uns.
Man weiß ja inzwischen, dass die Telekom mit dem sozialen Phänomen Wohnungswechsel überfordert ist. Aber dass wir erst jetzt – nach drei Wochen – einen Anschluss bekommen, ist schon überraschend, und dann auch noch die falsche Nummer. [Nachtrag 2009: Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht ahne – die Organisation unseres DSL-Anschlusses wird 9 Monate in Anspruch nehmen.] Aber was sind schon drei Wochen im Gegensatz zu 16 Jahren? So lange mussten meine Eltern auf ihren Telefon-Anschluss in der Wilhelm-Guddorf-Straße warten. Angeblich litten wir unter der unmittelbaren Nähe der Stasi-Hauptzentrale, die all die Anschlüsse benötigte. Wozu nur?
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Die Liebe zu Tarkowskij-Filmen. Oder war es die Liebe zu Filmen, die im Babylon gezeigt wurden? Bei mir begann die Babylonphase 1985 und endete kurz nach der Wende, als Alternativkultur an zu vielen Orten geboten wurde, als dass man sich aufs Babylon beschränken wollte. Vielleicht ist das so wie mit den hartnäckigen Stammzuschauern bei der Chaussee der Enthusiasten. Gerade die eingefleischten Zuschauerinnen, die fast jede Woche kommen, sind dann eines Tages für immer weg. Ich hab mir in der Zeit alles angetan – thematische Reihen und Reihen zu Regisseuren, ab und zu ein Stummfilm. Man kann sagen, dass ich dem Babylon mindestens ein Viertel meiner Filmbildung verdanke (obwohl sie dort wahrscheinlich "kinematographisch" sagen würden). Bunuel, Eisenstein, Fritz Lang, Valentin, Marlene Dietrich, Chaplin. Tja, und dann gab es Tarkowskij. Stalker mochte ich. Bei "Andrej Rubljow" bin ich eingeschlafen. Und bis eben dachte ich, "Agonie" wäre auch von ihm. Der einzige Film, bei dem ich während der Vorstellung aus dem Babylon gegangen bin.
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Über Ausdifferenzierung des Angebots in der pornographischen Industrie. J.S.: "Wobei mir diese Kombination von Reizen immer zweifelhaft vorkam, wie es doch auch verlogen scheint, Pizzen Namen zu geben, wenn sie sich nur in der Kombinatorik ihrer Zutaten unterscheiden, weil eine Pizza in meinen Augen noch keine zu einem Namen berechtigte Individualität besitzt, wenn sie statt mit Pilzen, Oliven und Schinken mit Pilzen, Oliven und ohne Schinken serviert wird.
Es fragt sich dann natürlich, ob das Gericht "Pizza" über genügend Individualität verfügt, um den Namen "Pizza" zu tragen.
Saint-Loup ist gefallen.