Vor ziemlich genau fünfzehn Jahren begann ich den Lektüre-Blog. Damals hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag 20 Seiten aus den „Erzählungen aus den Tausendundein Nächten“ (Übersetzung von Enno Littmann in der sechsbändigen Insel-Ausgabe) zu lesen und launisch zu kommentieren. Meine Überlegung war die: Jeder Band umfasst ungefähr 800 Seiten, also insgesamt 4.800 Seiten insgesamt. Bei täglich 20 Seiten müsste ich nach acht Monaten fertig sein. Nach acht Monaten hatte ich aber erst drei Viertel des ersten Bandes geschafft. Ich rechnete: Wenn ich so weitermachte, würde ich beim Ende der Lektüre das stolze Alter von 43 Jahren erreicht haben. Ich musste mich also sputen.
Aber solche Mammut-Projekte, die ja nebenher zum „eigentlichen“ Schreiben, Improvisieren und Unterrichten laufen, tendieren dazu, auszulaufen. Vor allem hatte ich auch nicht beachtet, dass in den Tausendundein Nächten eine Menge „Füllmaterial“ steckt: Nicht enden wollende Abhandlungen darüber, welche Tugenden eine junge Frau haben sollte, Dutzende Anekdoten über die Gerechtigkeit Allahs, Variationen derselben Geschichte und so weiter. Mir war, als hätte jemand diese Passagen eingebaut, um meine Ausdauer zu testen. Nach und nach ließ die Energie nach.
Ich beendete:
– Die 21. Nacht am 31.1.2007
– Die 100. Nacht am 3.12.2007
– Die 200. Nacht am 12.7.2008
– Die 300. Nacht am 18.8.2010
– Die 400. Nacht am 24.10.2013
Und dann am 30.12.2014 war mit der 477. Nacht die Luft raus. Inzwischen war mein Sohn zur Welt gekommen und schon jedes Blättern in den luftigen Erzählungen waren Stunden, die ich nicht mit Kind oder mit wertvolleren Arbeitsprojekten verbrachte. Die Lektüre stand also unter enormem Rechtfertigungsvorbehalt.
Und da habe ich noch gar nicht von der Nischenhaftigkeit dieses Blogs gesprochen. Zum Zeitpunkt, da ich aufhörte, über die Tausendundein Nächte zu bloggen, hatte ich vielleicht dreißig einigermaßen regelmäßige Leser. (Dazu kamen monatlich noch zirka eintausend Zufallsleser, die durch spezielle Suchbegriffe – insbesondere „Sklaverei“, „Jungfrau“ und „Sexualität“ – auf meine Seite gestoßen waren und sie wahrscheinlich auch rasch wieder verließen.
Mittlerweile habe ich mir auch noch ein weiteres Extrem-Projekt auferlegt, das in seiner Nischenhaftigkeit vergleichbar ist: Ein auf zwölf Bände angelegtes Werk zum Thema „Improvisationstheater“, das ich im nächsten Jahr beendet haben wollte, was mich aber noch deutlich mehr Zeit kosten wird. In den ersten zwei Bänden hatte ich noch diesen sportlichen Zeitplan angegeben, auch um mich selbst unter Druck zu setzen. Das habe ich später nicht mehr getan – es wäre nur noch peinlich.
Hofstadters Gesetz besagt: Es dauert immer länger als du denkst, selbst wenn du Hofstadters Gesetz mit einberechnest.
Nebenbei musste übrigens der Blog zwei Mal umziehen, was einige Bilder zerstört und die Formatierung zerschossen hatte. Ich hatte vier verschiedene Schriftformatierungen: 1) Für meinen Text, 2) für Zitate aus dem Buch, 3) für Verse aus dem Buch und 4) für die Kommentare. Dies wiederherzustellen würde mindestens einen Monat dauern, aber wenigstens ein paar Fotos werde ich wieder hochladen.
Nun weigere ich mich aber, zu sterben, ohne die komplette Sammlung ausgelesen zu haben. Dafür sind sie doch zu gut. Und ich weiß, dass noch einige Leckerbissen auf mich warten. Also wage ich mich wieder heran und schiebe zwischen die Korrektur meines neusten („Schauspiel-Improvisation“) und dem Schreiben des folgenden Buchs („Storys Improvisieren“) wenigstens die Nächte 478 bis 719 (Ende des dritten Bandes und Band 4).
Auf geht’s.
478. Nacht
Nachdem die Christin geheilt ist, bittet sie:
„O Abu Ishâk, wann sollen wir nach dem Lande des Islam auswandern?“
Ich dachte, er hieße Sîdi Ibrahim el-Chauwâs. Sollte Abu Ishak Shami, der Sufi-Meister gemeint sein?
Und der Erzähler schloss mit den Worten: Nie habe ich einen Menschen gekannt, der fester als sie im Fasten und Gebet stand; sie harrte bei Allahs heiligem Haus sieben Jahr aus. Und nachdem sie aus diesem Leben geschieden, fand sie in mekkanischer Erde den Grabesfrieden.
Ist mit diesem heiligen Haus die Kaaba gemeint oder das Leben? Jedenfalls kann sie nicht besonders alt geworden sein.
*
Die Geschichte von dem Propheten und der göttlichen Gerechtigkeit
Einer der Propheten [welcher es ist, wird uns nicht mitgeteilt] lebt und betet auf einem Hügel und beobachtet, wie ein Reiter bei einem Brunnen absteigt, um zu trinken. Dabei lässt er versehentlich ein Goldsäckchen dort liegen und reitet fort. Es kommt ein zweiter Reiter, der das Säckchen an sich nimmt und verschwindet. Als drittes kommt ein armer Holzhauer an den Brunnen, der erste Reiter kehrt zurück, verdächtigt den Holzhauer des Raubes und tötet ihn. Der Prophet will einschreiten, doch Allah hält ihn zurück:
Kümmere du dich um deine Andacht; denn die Regierung der Welt ist nicht deine Sache! Wisse, der Vater dieses Reiters hatte tausend Dinare dem Vater des zweiten Mannes geraubt; deshalb habe ich dem Sohne über das Geld seines Vaters Macht gegeben. Der Holzhauer aber hatte den Vater dieses Reiters erschlagen; deshalb habe ich dem Sohne Gewalt gegeben, die Strafe zu vollziehen.“ Nun rief der Prophet: „Es gibt keinen Gott außer dir! Dir sei Preis, du kennst die verborgenen Dinge.“
Unabhängig von dem seltsamen Dreh der Geschichte, ist doch eigentlich interessant, dass Allah an seinen Propheten appelliert, sich aus Regierungsdingen herauszuhalten.
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479. Nacht
Es folgt ein längeres Gedicht, das mit folgenden Zeilen, die Allah in den Mund gelegt werden, endet:
O mein Knecht, von solchem Grübeln musst du deinen Sinn befrein;
Manch Geheimnis, das dem Blick entzogen, birgt die Schöpfung mein.
Drum ergib dich meinem Willen, unterwirf dich meiner Kraft;
Denn mein Wille ist es, der das Gute und das Böse schafft.
Hat hier Littmann bei Goethe geborgt oder ist die Parallele zufällig? Im Faust ist es ja der Teufel, hier Allah, der behauptet, das Gute zu schaffen.
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Die Geschichte von dem Nilfergen und dem Heiligen
Ein Nilferge (Fährmann über den Nil) hilft einem Alten nicht nur durch die Überfahrt, sondern auch dadurch, dass er ihn beköstigt. Daraufhin bittet ihn der Alte, ihn am folgenden Tag, da er, der Alte, sterben würde, zu bestatten und demjenigen, der ihn am Stadttor anspricht, Lederflasche und Gewand zu übergeben.
Der Ferge tut dies, wundert sich aber weniger über den Tod des Alten als vielmehr darüber, dass ein „Schelm“ die Habseligkeiten des Alten bekommen soll. Im Traum belehrt ihn Allah, dass alles so von ihm vorhergesehen war. Nach dem Aufwachen dichtet der Ferge spontan:
Wer liebt, darf beim Geliebten keine Wünsche haben.
Die Wahl ist dir versagt – o, dächtest du nur dran!
Will er dir gütig sein, dir deine Neigung zeigen,
Will er je von dir gehn, kein Tadel trifft ihn dann…
(Es folgen noch einige Zeilen.) Interessant ist aber, dass der im Gedicht erwähnte Geliebte natürlich Gott ist, gleichzeitig aber die Erwartungslosigkeit der Schlüssel zu jeder Liebes-Beziehung ist.
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Die Geschichte von dem frommen Israeliten, der Weib und Kinder wiederfand
Wie die Lobesgeschichten über Israeliten ihren Weg in die Erzählungen, die ja nun gar nicht frei von Antijudaismus sind, gefunden haben, konnte ich nicht herausfinden.
Einem Juden, dessen Vater ihm auf dem Sterbebett bittet, nie bei Gott zu schwören, verliert seine materielle Habe, als angebliche Gläubiger seines verstorbenen Vaters ihn bis aufs Blut aussaugen. Ihm bleibt nichts übrig, als mit Weib und Söhnen zu fliehen, was mit einem recht hübschen Gedicht kommentiert wird:
O der du aus der Heimat fliehst aus Furcht vor Feindschaft:
Wer flüchtet, dem wird oft ein rasches Glück zuteil.
Sei nicht betrübt ob der Verbannung; oftmals findet
Der Fremdling, weit entfernt von seinem Heim, das Heil.
Denn müssten alle Perlen in den Muscheln wohnen,
So wäre ihre Stätte nicht in Königskronen.
Das Schiff aber geht unter, aber Vater, Mutter und die Söhne überleben und werden auf Planken in jeweils unterschiedliche Länder getrieben.