Dass ich Sahra Wagenknecht noch mal verteidigen würde, das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ausgerechnet diese Politikerin, die über Jahre in der PDS einen verstaubten Kommunismus vertrat und bei der man beim Zuhören ihrer humorlosen Reden vor Trockenheit husten musste.
Nun hatte sie mitten in den Wahlkampf 2021 hinein ihr Buch „Die Selbstgerechten“ geworfen, das prophetisch die Gründe für das Scheitern der Linken vorwegnimmt. (Dass das Buch selbst ein Grund fürs Scheitern gewesen sei, ist Humbug. Keine Partei-Interna werden gesteckt. Und die Handvoll Personen, die leicht camoufliert erwähnt werden, können schon mal den Kick in die Seite ab.)
Die Hauptthese: Die politische Linke verliert ihre Basis, da sie sich nicht mehr um die wirtschaftlichen Belange der Ärmeren kümmert. Anstatt sich mit den proletarischen Schichten zu verbünden, rümpft man die Nase über ihren Habitus, ihre Fixierung auf Konsum, ihre ungeschliffene und ihre politisch unkorrekte Sprache.
Meine linken Freunde waren rasch dabei, das Buch zu verdammen. Einmal wegen des unglücklichen Diktums von den „immer skurrileren Minderheiten“. Zum anderen, weil Wagenknecht angeblich einen neuen Nationalismus predige. Schon während ich das Buch (ein Geburtstagsgeschenk, das ich mir selbst nicht gekauft hätte) las, fragte ich mich, ob die Freunde das Buch wirklich ganz gelesen hatten oder sich die Rosinen herausgepickt hatten, die ihre Vorurteile nur bestätigten.
Dabei müsste das Buch für alle Aufgeschlossenen ein Augenöffner sein. Dass die Linken sich verrannt haben, dürfte jedem klar sein. Aber warum ist das so? Wagenknecht sieht hier die Ursache in einem üblen Schulterschluss mit den (Neo-)Liberalen. Für Liberale rührt jede Ungerechtigkeit aus der Diskriminierung. Was darüber hinausgeht – sprich, Ungleichheit durch ungerechte ökonomische Strukturen – interessiert sie schon seit einigen Jahren nicht mehr. Nun ist es aber deutlich einfacher, Diskriminierungsdetektiv zu spielen, als sich in volkswirtschaftliche Zusammenhänge einzulesen. Das betrifft sogar einfache Fakten. Das beste Beispiel ist, dass die Empörung im Netz die Unilever-Tochter Knorr dazu zwang, die „Zigeunersoße“ vom Markt zu nehmen. Der zeitgleich (durch Entlassungsdrohung durchgesetzte) verschlechterte Tarifvertrag kümmerte die Linken nicht die Bohne. Die Frage der Mikroaggressionen ist der Akademiker-Sternchen-Gemeinde wichtiger als die des materiellen Wohlstands der Abgehängten. Diese Kaste, die vor allem in den Medien dominiert, hat sowohl professionell als auch individuell die Verbindung zum proletarischen Milieu verloren. Wenn überhaupt, dann wird über dessen Vertreter angewidert berichtet, wenn man sie plötzlich mit wütenden Grimassen und hilfloser Grammatik auf Pegida-Demos antrifft. Die Nicht-Akademiker sind den Links-Liberalen schlicht und einfach egal. Und man wundert sich, warum sie plötzlich alle nach rechts abwandern, wo doch die Wirtschaftsprogramme der AfD gerade die Armen benachteiligen. (Der Begriff „Besorgte Bürger“ ist in Satiriker-Kreisen, in denen ich mich bewege, zur Standard-Mini-Pointe geronnen.)
Und schwupps, da sind wir schon beim Thema Nation. Dem Standard-Linken ist es schon unangenehm, wenn bei der Fußball-WM Deutschland-Fahnen geschwenkt werden. (Mir übrigens auch.) Aber nicht genug davon, man verkündet das auch, um noch den letzten potentiellen Verbündeten abzuschrecken. Der Widerwille gegen alles Nationale ist nach der NS-Zeit ein nachvollziehbarer Reflex. Die Nation – davon geht das Böse aus. Das Problem ist nur, dass ohne einen positiven emotionalen Bezug zu einem demokratischen Gebilde, dieses Gebilde in große Schwierigkeiten gerät – man denke an Belgien, Norditalien oder einige der seltsam viereckigen afrikanischen Länder. Wer meint, sich eher als Europäer zu fühlen als als Deutscher, möge sich fragen, wieviele europäische Parlamentarier man denn im Vergleich zu den deutschen kenne. Die Nation existiert in unserem Hinterkopf, wie wir merken, sobald wir bei einer Bundestagswahl mitfiebern, da wir wissen, dass der Bundestag der Ort ist, wo über unsere Kernthemen demokratisch legitim entschieden wird (und nicht in der Europäischen Kommission). Und wieder der Schulterschluss mit den Neoliberalen: Die EU ist – im positiven wie im negativen Sinne – ein liberales Projekt. Im positiven Sinne, weil es die Freiheitsrechte und die Möglichkeiten von Millionen Bürgern ausgeweitet hat. Im negativen Sinne, weil die Demokratie in der EU im Prinzip kaum eine Rolle spielt und weil die EU als supra-nationale Organisation die finanzielle (und damit auch sozialpolitische) Autonomie der Einzelstaaten immer mehr beschneidet. Freiheit heißt hier vor allem Freiheit für die Wohlhabenden.
Kommen wir noch zum heißesten Thema – der Immigration. Wagenknecht gelingt es, den Blick zu erweitern. Ja, die EU-Länder, und vor allem Deutschland, hat ein Problem, was Fachkräfte im Bereich Medizin und Pflege betrifft. Aber die Lösung ist nicht etwa, hier bessere Gehälter zu zahlen und bessere Bedingungen zu bieten. Stattdessen zieht man Fachkräfte aus den Entwicklungsländern ab. Mit anderen Worten: Die armen Länder übernehmen für uns die Ausbildung qualifizierter Fachkräfte und stehen am Ende dumm da. Von den paar Euros, die dann die Glücklichen, die es nach Europa geschafft haben, in die Heimat schicken, kann man sich leider auch nicht neue Ärzte basteln.
Auch um den Konkurrenzkampf zwischen Eingewanderten und geringqualifizierten Arbeitern kümmert sich die Linke nicht. Ebenso wenig um die riesigen Flüchtlings-Camps von Migranten innerhalb Afrikas. Die Antwort ist vielmehr: Offene Grenzen für alle. Finger in die Ohren stecken und laut „Lalala“ rufen. Und sich bei der nächsten Wahl wundern, wenn man keine fünf Prozent erreicht hat.

Sahra Wagenknecht – Die Selbstgerechten
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