Donnerstag, 16. April 2009

Schwermütig wache ich auf, alles bedrückt mich. Ich weiß, dass es nur ein Mittel gibt, was mir jetzt einigermaßen helfen kann, auch wenn ich darauf am wenigsten Lust habe – Joggen. In diesen Momenten kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass das hilft, und ich verstehe jeden Depressiven, der eine Pille bevorzugt, denn Motivation fehlt einem am meisten. Das Einzige, worauf ich mich stütze, ist die Erfahrung, dass Laufen zumindest ein bisschen hilft. Ich kleide mich um und verbringe schon damit unglaublich viel Zeit.
Immerhin scheint die Sonne (ich hasse es, im Regen zu joggen), und ich wähle eine andere Strecke – South Plymouth, wesentlich ruhiger als South Clarke. Lande in einem Barnes and Noble. Wie passend – gute Buchgeschäfte sind immer ein Trost. Verbringe darin verschwitzt eine knappe halbe Stunde, damit müssen sie halt klarkommen. Denn auch die Penner werden geduldet, aber sie müssen offenbar einen gewissen Schein waren. In den Buchhandlungen setzen sie sich in die Lese-Ecke und halten sich großformatige Bücher oder Zeitungen vor die Nase, um ihre müden Augen und manchmal eben auch das Einschlafen zu verdecken. Starbucks verkauft zwar teuren Kaffee, ist aber im Vergleich zu anderen Cafés tolerant in Bezug auf den Aufenthalt. Zeitungen liegen aus, manchmal auch Schachspiele. Mit dem billigsten Kaffee von $ 2,20 erwirbt man eben auch ein Aufenthaltsrecht von zwei bis drei Stunden in einem angenehmen, warmen Raum. Ich suche ja immer noch die hübschen Notizbücher, die einen eingebauten Gummi für einen schmalen Bleistift haben, aber auch Barnes & Noble hat, wie alle anderen Buchläden offensichtlich auch, einen Exklusivvertrag mit Moleskine, die zugegebenermaßen angenehme Notizbücher basteln, aber mit ihrer Legende, wer damit schon alles geschrieben haben soll und wie sehr diese Dinger angeblich die Kreativität anregen, den Preis pushen.
Auch ich bin nicht davor gefeit zu glauben, ich könne mir Glück kaufen: Patrick Lindsays "Now is the Time. 170 Ways To Seize The Moment" scheint mir das richtige Vademecum in meiner Bedrückung. Aber als ich wieder in Davids Haus angelangt bin, kann ich mir schon sicher sein, dass es das Laufen war, dass mir den Kick versetzt hat.

David empfiehlt uns ein Cajun Restaurant " Heaven on Seven". Wir gehen zu Fuß. Dumm nur, dass wir North und South Wabash verwechseln. Zwischendurch geraten wir kurz in Versuchung, doch auf McDonalds zurückzugreifen. In einem noblen Business Gebäude dann ein doch etwas billig wirkendes Restaurant, das eher einer Kantine gleicht, an den Wänden neben New-Orleans-Bildern, auch vielfältiges Lob der Chicagoer Journalisten. Eine leise Erinnerung an 1997, als ich mich in die Stadt New Orleans verliebte – die Musik, das seltsame Leben, der Fluss, die Landschaft, in einem schönen Hippie-Hostel. Der damalige Besitzer gehört, soweit ich das verstanden habe, zu den Opfern der Flutkatastrophe.
Cajun-Essen besteht natürlich aus Fisch, Fisch, Fisch. Daneben natürlich auch Seafood, Krebse, Muscheln. Ich hatte in Erinnerung, dass die Louisianer auch in der Lage sind, Hähnchen auf Südstaatenart zu bereiten. Auf diese Facette verzichtet man aber im "Heaven vor Seven". Burger hätten wir auch bei McDonalds bekommen. Also Bohnen. Rote für Steffi, schwarze für mich.

 

Gerda habe ich heimlich in den Rucksack gesteckt. Was sie für einen Trost spenden kann, habe ich nie vermutet, als ich Steffis Pinguin kennenlernte. ("Ein weiblicher kleiner Plüschtier-Spleen, man kennt das ja.") Gerda entfaltet einen eigenen Charakter. Es ist für uns unvorhersagbar, wie sie reagieren wird. Neugierig, beleidigt, eitel, tröstend, allwissend.

*

Am Abend wartet ein experimentelles Feature auf uns – ein Impro-Laboratorium mit Zuschauerbeteiligung. Mit den Spezialgästen Joe Bill und Shaun Landry. Ob ich Shaun nun mal live erleben kann. Die Show findet in einer Barnes & Noble Filiale statt, und erst als wir uns der Adresse nähern, stelle ich fest, dass es derselbe Buchladen ist, der mir heute früh Trost gab.
Das Setting ist, wie man in der Sozialarbeit sagen würde, "niedrigschwellig". Wenig Show-Getue, alles wird ruhig gehandhabt. In einem separaten Raum steht eine Blackbox, in der vier Kameras montiert sind. Innerhalb der Box wird improvisiert, das per Kamera aufgenommene Geschehen auf eine Leinwand projiziert. Ich versuche Steffi zu ermutigen, sich zu melden. Sie scheut sich immer noch wegen ihres aus ihrer Sicht mangelhaftem Englisch. Die Szenen, die wir sehen, sind doch eher mau.
Vor uns sitzt ein älteres, steif wirkendes Ehepaar. Sie flüstert intensiv mit ihm und möchte ihn wohl überzeugen, mitzumachen, er verzieht keine Miene.
In der zweiten Runde werden ein Mann und eine Frau gesucht. Außer mir und dem Alten gibt es nicht viele Männer. Nach 30 Anstandssekunden melde ich mich. Das Spielen macht Spaß, vor allem weil man sehen kann, wie es die Spieler irritiert, als sie bemerken, dass sie keinen Anfänger vor sich haben, sondern sich mit irritierenden Angeboten auseinandersetzen müssen. Joe Bill fast perplex, als ich ihm Waffen andichte.
Die Storybox wird wohl, so stellt sich später heraus, tatsächlich für alles mögliche verwendet – Lehrer- und Polizistenfortbildung, Therapie usw. Impro eher als Mittel zum Zweck. Für Showzwecke ist mir die Verwendung nicht ganz klar, auch nachdem ich mit dem Leiter der Truppe spreche. Warum, so fragt man sich, muss eine Zwischenebene eingezogen werden? Warum nicht gleich die Bühne. Fast scheint es, als hätten die Spieler etwas zu verbergen. Wie mag es für unerfahrene Spieler sein? Vielleicht wirkt die Abwesenheit des Publikums erleichternd? Andererseits ist die Box an sich schon einschüchternd. Man hat Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Und man hat das leichte Gefühl, man wird zum Spielball der anderen gemacht. Sie haben etwas mit mir vor…

 


(c) Jerry Schulman

 

Freitag, 17. April 2009

Auch wenn man in der Innenstadt wohnt, muss man sagen, dass einige Gegenden nicht für Fußgänger gemacht sind. Von unserem Haus bis zum nächsten größeren Supermarkt laufen wir fast eine halbe Stunde an der Schnellstraße entlang. Dafür fangen wir dort Bilder ein, die wir aus dem Auto nicht hätten machen können.


US-Flagge auf dem transportablen Klo (c)


Steffi Winny und Dan Richter als extrem lustige Schatten


Sears Tower und Metra-Züge

Abends endlich ins Lakeshore, um Shaun Landry zu sehen. "Oui Be Negroes", eine legendäre Improtheatergruppe gibt es eigentlich nicht mehr, wurde aber aus Anlass des Festivals noch einmal reanimiert. Eine der wenigen "schwarzen" Improgruppen der USA. Das Problem, so Shaun in einem Interview, als schwarzer Improspieler wirst du in normalen Gruppen meistens als "der Schwarze" angespielt. D.h., deine Hautfarbe wird thematisiert, und so gründeten sie ihre eigene Improtruppe in San Francisco. Sie beginnen ihre Show mit der etwas provokativen Frage, was untypisch für Schwarze sei (die Publikumsantwort lautete "Schwimmen") und bauten darauf eine szenische Collage. Erst während der Show fiel mir auf, dass Improtheater im Grunde auch untypisch für Schwarze ist. Bedenkt man die weite Verbreitung in den USA, fällt doch auf, dass sich unter al den Gruppen nur wenige schwarze Spieler befinden. Seltsam, dabei ist doch z.B. in der Musik gerade der Jazz mit seiner Betonung des Improvisatorischen im Schwarzen Amerika geboren und entwickelt worden. (Die zweite, gerade populäre Ausnahme ist eine Gruppe namens Pimprov, die mit Zuhälter-Klischees spielen, was für mich schon beim ersten Zuschauen langweilig ist und ich kann mir auch nicht versprechen, dass die Wiederholung meine Lust des Zuschauens fördert. Es könnte also eher mit der vergleichsweise weniger ausgeprägten Theaterkultur zu tun haben. Oui Be Negroes jedenfalls spielen in einem angenehmen Flow. Zwischendurch ein paar Derbheiten, die aber gut abgefedert werden, dadurch, dass sie glaubwürdig gespielt sind.
Anschließend "Boom Chicago", die in Amsterdam bekannt sein sollen und sozusagen die Niederlande vertreten. Angestrengte und grobe Comedy. Für die besten Publikumsvorschläge wird Gratisbier verteilt. Honoriert werden Vorschläge wie "Ich masturbiere auf dich".
Allmählich verstehe ich die Frage, die im YesAnd-Forum immer wieder diskutiert wurde – familienfreundliche Shows. Bei uns wird diese Trennung in der Regel gar nicht so streng gezogen. Wenn in einer unserer Show, sei es bei den Lesebühnen oder im Improtheater – mal ein Kind sitzt, muss es (oder die Eltern) eben damit leben, wenn das böse, böse F-Wort benutzt wird. Jürgen von der Lippe brachte es mal schön auf den Punkt: "Wenn das Kind es versteht, ist die Sache kein Problem. Wenn das Kind es nicht versteht, ist es auch kein Problem." Hier aber (und das sollte in den folgenden Tagen noch schlimmer werden), wurde die Sexualität zur Obsession. Manchmal fühlte man sich erinnert an die Scherze von Schülern in College-Internaten – Jetzt dürfen wir endlich mal.
Nach der Show fasse ich endlich den Mut, Shaun anzusprechen, aber jetzt ist sie verschwunden. Wir gehen mit David und seinen Freunden noch in eine Bar. Technofassungen von Björk-Songs, es wird getanzt. Ich habe diese Art von Bars schon immer gehasst, und zwar unabhängig von der Musik. Vor allem wenn man sie mit Leuten aufsucht, die man gerade kennengelernt hat. Man steht mit Bieren rum, hat keine Lust zu tanzen, und zum Unterhalten ist es einfach zu laut, man brüllt sich Minimal-Informationen ins Ohr. Ich bin extrem angeödet, reiße mich aber, soweit ich kann, zusammen. Nach anderthalb Stunden sind wir wieder draußen, und ich frage mich, warum wir überhaupt da drin waren. (Diskotheken sind natürlich was anderes, da gehe ich rein, um zu tanzen, aber hier?) Das letzte Mal hatte ich ein ähnliches Erlebnis vor drei Jahren in Lille mit der Chaussee der Enthusiasten. Man ging noch nach der Show mit irgendwelchen Franzosen "etwas trinken", und von allen Cafés und Bars, die es in dem Ort gab, musste es das lauteste und überfüllteste sein. Warum muss ich mich da irgendwo reinquetschen, wenn ich sowieso Schwierigkeiten habe, die Sprache zu verstehen? Interessanter vielleicht noch: Warum quetschen sich andere da rein? Ist es die Angst, nur ja nichts zu verpassen, durch die hohe Dichte an Menschenmassen das Gefühl zu haben, jederzeit mit jedem kommunizieren zu können? Am Ende kommuniziert man doch nicht, hängt nur rum, beobachtet die anderen und schreit sich logistische Anweisungen ins Ohr – wie lange man noch bleibt, wer das nächste Bier holt, wie man nach Hause kommt.

Kurz vor Drei sind wir wieder in Davids Haus. Er war im letzten Moment doch noch so vernünftig, das Auto stehenzulassen und mit dem Taxi mitzukommen. Ich habe ein schlechtes Ami-Bier zu viel getrunken und habe morgen früh einen Impro-Workshop. Wann fängt der noch mal an? Ich schließe die Augen. Es reicht, wenn ich das morgen weiß, irre ich mich.

16.-17. April 2009
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