20. Nacht

Die Voraussetzung für die Hinrichtung des Sklaven ist freilich, dass man ihn findet. Wird er nicht gefunden, muss der Wesir dran glauben. Die Lebensumstände von Ministern scheinen nicht immer beneidenswert gewesen zu sein. Andererseits dürfte es auch heutzutage nicht für jeden erträglich sein, auf der obersten Etage die Karten mitzumischen.
Der Wesir nimmt Abschied von seinen Kindern, am Ende von seiner jüngsten Tochter, die einen Apfel verspeist, von dem sich herausstellt, dass sie ihn vom Sklaven Raihân habe. Er gesteht, genau jener Sklave gewesen zu sein. Und der Wesir muss nicht lange überlegen, was zu tun ist, den ihm fällt noch das Gedicht ein, das ihm rät:

Wenn ein Unheil kommt durch einen Sklaven,
bringe ihn statt deiner ins Gericht.
Denn du wirst noch viele Diener finden,
Doch ein zweites Leben findst du nicht.

Als ich dieses Gedicht vor 20 Jahren das erste Mal in einem Auszug der 1001 Nächte las, verschlug es mir den Atem. Ich kann es seitdem auswendig, auch wenn ich die es einbettende Geschichte vergessen habe.

Der Kalif befiehlt, den Sklaven töten zu lassen, doch der Wesir Dscha’far erbittet, ihm das Leben zu schenken, wenn die Geschichte, die er gleich erzählen würde, noch wunderbarer sei als die soeben erlebte. Der Kalif willigt ein. Und so erfahren wir

Die Geschichte der Wesire Nûr ed-Dîn und Schems ed-Dîn

Der Wesir des Kairoer Sultans stirbt, und so werden seine überaus schönen Söhne – der junge Nûr ed-Dîn und der ältere Schems ed-Dîn – zu gleichen Teilen Wesir. Kurz vor der Abreise des Sultans mit dem älteren beginnen die beiden einen hypothetischen Streit: Wenn, so die Hypothese des Älteren Schems, beide gleichzeitig heiraten sollten und gleichzeitig Kinder bekämen – nämlich Schems eine Tochter und Nûr einen Sohn – dann mögen sie heiraten. Aber wie hoch wäre die Morgengabe, fragt Nûr, die Schems von seinem Sohn in diesem Falle verlange.

Dreitausend Dinare und drei Gärten und drei Ackergüter.

Wer wäre nicht erbost über ein solches Ansinnen. Die beiden trennen sich im Streit, und während Schems mit dem Sultan reist, verlässt Nûr ed-Dîn Kairo mit den Satteltaschen voller Geld auf einer Maultierstute.

Sie war ein stahlgraues Tier, ihren Rücken sah man, einer hohen Kuppel vergleichbar, sich emporrecken; ihr Sattel war aus Gold, ihre Steigbügel waren aus Indien gebracht, auf ihr lag eine Schabracke von persischer Pracht, und sie glich einer Braut geschmückt für die Hochzeitsnacht.

Letzteres erweist sich bestimmt als sinnvoll, denn die Nächte der Steppe sind oft einsam und lang.
Innerhalb von sieben Tagen erreicht er Basra (1.000 km!) , wo ein Wesir auf die Stute aufmerksam wird, mit Nûr ed-Dîn ins Gespräch kommt, ihn zu seinem Nachfolger erklärt und ihn mit seiner Tochter vermählt.

19. Nacht

Der Kalif Harun er-Raschîd lässt die Geschichte in den Chroniken aufzeichnen. Und durch Verbrennen einer Haarlocke wird die Dämonin, die die Schwestern in Hündinnen verzauberte, herbeigerufen, und der Kalif befiehlt ihr, die Verzauberung rückgängig zu machen.

Eine zwischen politischer und religiöser Herrschaft oszillierende Figur wie den Kalifen finden wir in Europa eigentlich auch nur so lange, bis Heinrich den Gang nach Canossa antritt und beim Papst auf religiöse Herrschaft verzichtet. Die Ausdifferenzierung des politischen vom religiösen System beginnt in Europa zu jenem Zeitpunkt. Im muslimischen Gebiet etwa mit dem Ende des Kalifats, aber sie ist im Grunde bis heute nur teilweise vollzogen: So gelten angebliche Abkömmlinge Mohammeds oft als befähigt für Politik. Im krassesten Fall äußerte es sich in der Periode der Taliban-Herrschaft in Afghanistan, die einerseits als Terrorherrschaft beschrieben werden kann, aus systemtheoretischer Sicht aber auch als größtmögliche Entdifferenzierung sozialer Funktionssysteme: Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Erziehung, selbst Gesundheitssystem, Intimbeziehrungen und Kunst – alles wird als geschlossen und zusammenhängend betrachtet; es gibt kein Entrinnen. Die Personen geraten in einer funktional ausdifferenzierten Welt in ein Exklusionsloch, d.h. es wird ihnen unmöglich, überhaupt noch in einem Funktionssystem zu kommunizieren: Ob man ein Haus kaufen kann, ist keine wirtschaftliche, sondern eine politische. Ob man sein Kind in eine Schule schicken darf, ist eine religiöse Frage usw. Im krassesten Fall, wird man in den Exkusionslöchern auf den eigenen Körper zurückgeworfen: Kampf um kappe Güter wird zur Überlebensfrage, eine Frau zu sein, entscheidet darüber, ob ich das Gesundheitssystem beanspruchen darf, in Gerichtsverfahren wird rasch mit physisch drastischen Maßnahmen auf Abweichung reagiert usw.

Die Dämonin befreit nicht nur die Schwestern,

murmelte Worte, die ich nicht verstand.

(Wieso "ich"? Erzählerin ist doch hier Schehrezâd) sie enthüllt auch die Identität des schlagenden Ex-Gatten:

Dein Sohn el-Amîn, der Bruder von el-Ma’mûn. Er hatte von ihrer Schönheit und Anmut gehört, und er brauchte eine List gegen sie.

Der Kalif daraufhin:

Jetzt will ich, bei Allah, eine Tat tun, die man nach meinem Tode aufzeichnen wird.

Und tatsächlich: Er verknüpft die losen Enden der Geschichte. Allerdings dürfte sich die Freude einiger der davon Betroffenen in Grenzen halten:
Die drei Schwestern (d.h. zwei Ex-Hündinnen) werden mit den drei Bettelmönchen verheiratet. Will man mit einer Frau verheiratet sein, die versucht hat, ihre Schwester zu ertränken?

Das Mädchen mit den Narben gab er seinem Sohne el-Amin zurück.

Sie wird sich freuen, ihren Peiniger wieder umarmen zu dürfen.

Er selber jedoch nahm zur Gemahlin die Wirtschafterin und schlief in selbiger Nacht mit ihr. (…) Das Volk staunte ob der Großmut des Kalifen, seiner natürlichen Wohltätigkeit und seiner Weisheit; der Kalif aber wiederholte den Befehl, man solle alle diese Geschichten in seine Annalen eintragen.

(Da scheint ja jemand eine gewisse Panik vor der eigenen Unsterblichkeit gehabt zu haben.)
Ende. Fragt sich, was aus dem Lastträger geworden ist, nach dem  die Geschichte ja ihren Namen hat.

***

Dinazâd bittet um eine weitere Geschichte. Und Schehrezâd beginnt

Die Geschichte von den drei Äpfeln

Der Kalif Harûn er-Raschîd begibt sich mit seinem Wesir Dscha’far und mit seinem Schwertträger Masrûr in die Stadt Baghdad, um zu erfahren, was die Leute von den Amtsträgern halten. Als sie einen armen Fischer treffen, bietet der Kalif ihm an, das, was er beim nächsten Fang aus dem Meer zieht, für einhundert Goldstücke zu kaufen. Es ist eine Kiste. Leider nicht, wie man vermuten könnte, mit einem eingesperrten Dämon, sondern die zerstückelte Leiche einer jungen in einen Teppich eingewickelten Frau. Der Kalif daraufhin zu seinem Wesir:

"Du Hund von einem Wesir! (…) Wenn du uns den nicht bringst, der sie ermordet hat, damit ich sie an ihm rächen kann, so werde ich dich am Tore meines Palastes aufhängen, dich und vierzig deiner Vettern."

Gut, wenn man in einem solchen Falle über mehr als vierzig Vettern verfügt, damit man unter ihnen auswählen kann. Ich habe leider keinen einzigen.

Tatsächlich bereitet man am dritten Tage schon die Hinrichtung des Wesirs vor, doch da bekennt sich ein Jüngling dazu, die Frau umgebracht zu haben. Dann drängelt sich ein Alter dazwischen und meint, nicht der Jüngling, sondern er selbst sei es gewesen.
Sie werden vor den Kalifen gebracht, der sich darüber wundert, dass sie den Mord

ohne Bastonade gestehen.

Doch der Jüngling erklärt: Die Frau war seine Base und sein Weib. Als sie krank war, bat sie um Äpfel, die ihr Gatte extra aus Basra besorgt. Doch als er zurückkehrt, mag sie sie nicht mehr. Der Mann geht in den Garten und sieht einen schwarzen Sklaven vorbeigehen, der einen der Äpfel isst, und als Erklärung angibt, sie von seiner Geliebten bekommen zu haben. Der Jüngling flippt daraufhin aus und schneidet seiner Frau ohne zu zögern die Kehle durch und versenkt sie im Tigris. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Frau den Apfel ihrem Sohn gegeben hatte, der ihn sich vom Sklaven stehlen ließ. Der Alte ist der Vater der Frau und bestätigt die Geschichte. Der Kalif beschließt, weder den Alten noch den Jüngling hinrichten zu lassen, sondern den Sklaven.

Bei Allah!

Viel Spaß beim Sklavensuchen.

16. Nacht

Kurz nachdem Adschîb den Prinzen mit des Zufalls und eines Messers Hilfe in Allahs Reich befördert hat, kommt prompt das Schiff wieder angesegelt, und der Alte beweint versreich seinen toten Sohn, den sie mit einem seidenen Leichentuch bedecken. (Haben sie es schon sicherheitshalber mitgebracht?) Das Schiff fährt wieder weg, und Adschîb lebt einen Monat auf der Insel. Danach trocknet die Westseite des Meeres aus, und er watet hindurch, bis er ans Festland kommt, wo er einen leuchtenden Palast sieht.

“Kaum hatte ich mich gesetzt, da traten zehn Jünglinge auf mich zu, in kostbare Gewänder gekleidet, und bei ihnen war ein uralter Greis; doch die zehn Jünglinge waren alle auf dem linken Auge blind.”

Blindheit als Leitmotiv bei der letzten Chaussee der Enthusiasten. Sieht man wirklich nur mit dem Herzen gut? Chirurgische Tests, bei denen man versuchte, die funktionsfähige Herzen von Hirntoten in die leeren Augenhöhlen Blinder einzusetzen, schlugen leider fehl.
Wie weit können wir eigentlich gehen mit unseren Scherzen über Behinderung, die wir uns herauszunehmen wagen, mit der Begründung, dass wir die höchste Behindertenquote unter den Berliner Lesebühnen haben. Scherze über Behinderungen gelten merkwürdigerweise als anstößig, während sich niemand daran reibt, wenn sie als literarisches Mittel des Schreckens eingesetzt wird.

Wir wissen ja schon, dass Adschîb am Ende das Schicksal dieser zehn Jünglinge teilen wird – fragt sich nur, wie es dann dazu kommt.
Sie bieten ihm Aufenthalt unter der Bedingung, dass er sie nicht über ihre Handlungen und ihre Gebräuche befragen soll (Wiederaufnahme des Motivs der Rahmenhandlung der Geschichte vom Lastträger und den drei Damen). Doch er kann nicht an sich halten, aber wer würde nicht nachhaken, wenn sich der Gastgeber plötzlich das Gesicht rußig färbt.

Sie sagen ihm, er möge sich von ihnen in ein Fell nähen lassen, das hernach vom Vogel Roch auf einen Berg getragen würde (Motiv bekannt aus dem russischen “Edelsteinberg”). Auf dem Berg stünde ein Palast, dort erführe er, warum sie einäugig seien und sich die Gesichter schwärzten.
Eine für 1001 Nächte seltsame Begründung:

Wollten wir dir jetzt unsere Geschichte erzählen, so würde es zu lange dauern.

Dabei lieben doch gerade die Protagonisten von 1001 Nacht nichts so sehr wie lange Geschichten. Es ist umso erstaunlicher, als das folgende Abenteuer von Adschîb länger als ein Jahr dauert, so lang hätte die Einäugigen wohl nicht gebraucht.
Adschîb tut, wie ihm geheißen, und er entdeckt vierzig Mädchen im Palast:

“Wir sind deine Dienerinnen und dir untertan; also befiehl uns nach Gutdünken!”

Machoherz, was willst du mehr!
Er verbringt die erste Nacht mit der Schönsten unter ihnen. Die zweite Nacht mit einer, die noch schöner ist, usw.

Ich sah auf ihrer Brust zwei Schreine, die waren versiegelt
Mit Moschus, auf dass der Verliebte sie nicht berührt und verletzt.
Sie behütet die beiden mit Pfeilen aus ihren Blicken;
Sie trifft mit ihrem Pfeile den, der sich ihr widersetzt.

Doch nach einem glücklich miteinander verbrachten Jahr (warum wird hier eigentlich nie jemand schwanger?) müssen die vierzig fort zu ihren Vätern, die Könige sind:

“Hüte dich, die vierzigste Tür zu öffnen, sonst musst du uns verlassen.”

Ob dieses Motiv universal ist? Vielleicht gibt es das schon so lange wie Türen? Schließlich: Wer kennt nicht die Versuchung zu stöbern, wenn man vom Nachbarn den Schlüssel zum Wellensittichfüttern bekommt! Fragt sich nur, warum sie ihm überhaupt den Schlüssel zum letzten Raum geben.

Dann flogen sie davon.

Hä? “Flogen”?

Jeden Tag probiert er ein Zimmer aus. Die ersten vier werden beschrieben:

  1. Blumen, Bächlein, Bäume, Rehlein, Quitten, Aprikosen

  2. Palmen, Bächlein, Rosen, Jasmin, Majoran, Eglantinen, Narzissen, Levkojen

  3. Sandel- und Aloeholz, Singvögel in Käfigen (Wer füttert die eigentlich?)

  4. Perlen, Saphire, Topase, Smaragde

Im vierzigsten Zimmer schließlich wird er vom Geruch betäubt und steigt auf ein schwarzes Pferd, dass mit ihm zum Himmel emporfliegt.

Nach einer Weile jedoch ließe es sich mit mir auf einer Dachterrasse nieder, warf mich vom Rücken, peitschte mich mit dem Schweif ins Gesicht und schlug mir das linke Auge aus, so dass es mir über die Wange rollte, und flog weg von mir.

Hallihallo – die Dachterrasse gehört zum Palast der zehn Jünglinge. Man könnte nun annehmen, jetzt wäre er einer von ihnen, aber sie jagen ihn davon, und er reist nach Baghdad.
Ende der Geschichte des dritten Bettelmönches
Für meinen Geschmack die aufregendste, aber hat er sich nicht auch am tollpatschigsten angestellt?
Die Dame schenkt sowohl ihm das Leben als auch dem Kalifen und seinen zwei Begleitern, nachdem sie ihre Lügengeschichte wiederholen. Alle dürfen gehen. Am nächsten Tag jedoch befiehlt der Kalif alle vor seinen Thron:

“Jetzt aber möchte ich euch zu wissen tun, dass ihr steht vor dem fünften der Nachkommen des Abbâs, vor Harûn er-Raschîd, dem Bruder des Kalifen Musâ er-Hâdi, dem Sohne des Muhammed el-Mahdi, des Sohnes des Abu Dscha’far el-Mansûr, des Sohnes Muhammeds, des Bruders von es-Saffâh ibn Muhammed.”

Gehen wir gnädig über den Umstand hinweg, dass der historische Kalif seinen Bruder – den erwähnten Kalifen Musâ er-Hâdi – umbringen ließ, um auf den Thron zu gelangen.
Die erste Dame tritt hervor und berichtet ihre Geschichte

***

12. Nacht

Der Oheim des jetzt als einäugiger Bettelmönch umherziehenden Prinzen schlägt die verkohlte Leiche seines Sohnes obendrein mit dem Schuh. Seine widersprüchlichen Reaktionen erklären sich dadurch, dass er ihn einerseits liebte, andererseits wusste er, dass sein Sohn in körperlicher Liebe zu seiner Schwester entbrannt war. Er hatte ihn noch gewarnt:

"Hüte dich vor so sündhaften Taten, die vor dir noch keiner beging und keiner nach dir begehen wird; sonst wird dein Name unter den Fürsten mit Schmach und Schande bedeckt sein bis ans Ende der Zeiten, und die Kunde von uns wird durch die Karawanen überall ruchbar werden."

Wie mag es sich in Zeiten gelebt haben, als Karawanen mit ihren trottenden Kamelen das flotteste Verbreitungsmedium waren!

Offenbar hatten der Prinz und seine Schwester in der Höhle Zuflucht gesucht und waren darin umgekommen. Der König nimmt nun den Vetter an Sohnes statt, doch als sie wieder nach oben kommen, hat der bösartige, augenauspieksende Wesir auch die Herrschaft über diesen Ort erlangt. Der Oheim wird getötet, und der Prinz kann sich nur retten, indem er sich den Bart schert. Er flieht nach Baghdad, um dort Schutz beim Herrscher der Gläubigen, Harûn er-Raschid zu finden, wo er aber zunächst nur die anderen beiden traf.
Die Dame ist zufrieden mit der Geschichte, und es beginnt

Die Geschichte des zweiten Bettelmönches

Dieser war ebenfalls Sohn eines Königs und kundig in:

  • Lesen des Korans in nach Traditionen

  • Vortragen gelehrter Bücher

  • Sternenkunde

  • Dichtung

  • Kalligraphie

Als er an den Hof des indischen Königs geladen wird, schifft er sich mitsamt Pferden ein, belädt Kamele auf dem Festland und wird in der Wüste von Beduinen überfallen, die die Karawane ausrauben. Der Prinz aber kann fliehen. In einer Stadt, deren König der Erzfeind seines Vaters ist, verdingt er sich bei einem Schneider als Holzhacker, denn seine Künste bringen ihm hier nichts ein:

"In unserer Stadt ist niemand, der etwas weiß von den Wissenschaften oder auch nur vom Schreiben, außer dem Geldverdienen."

Dazu Luhmann: "Bis in die Neuzeit wird Schrift primär als Gedächtnisstütze und als Transportmittel aufgefasst, und es gibt folglich keinen Begriff von Kommunikation der mündliche (Rede) und schriftliche Ausführung übergreift." (Gesellschaft der Gesellschaft, Kap. 4 / XIII)

Im Wald findet er eines Tages eine Luke, die, als er sie anhebt, ihn in eine Höhle führt.

Reimprosa: "Darinnen fand ich eine Maid, gleich einer kostbaren Perle; die erlöste mir das Herz von Kummer, Gram und Leid; ihre Stimme heile alles Bangen und nahm den Klugen und Weisen gefangen; ihr Wuchs war von zierlicher Art; fest standen die Brüste gepaart, ihre Wangen waren zart, von Farben glänzend rein und Haut so wunderbar fein; ihr Antlitz erstrahlte durch der Locken Nacht, und über den herrlichen Schulter glitzerte ihrer Zähne Pracht."

Sie wurde vor 25 Jahren vor ihrer Hochzeitsnacht von einem Dämon, der der Vetter des Satan persönlich ist, hierher verschleppt. Man fragt sich natürlich, a) wie sie ihre Schönheit in einer Höhle erhalten konnte und b) wie alt den die "Maid" heute ist, wenn sie 25 Jahre gefangen ist plus im heiratsfähigen Alter war. Selbst wenn man ein Heiratsalter von zwölf Jahren ansetzt und auch noch das arabische Mondjahr in Betracht zieht, müsste sie doch wenigstens 34 sein.

Nichtsdestotrotz baden sie miteinander, kneten einander die Füße – eine auch zu damaligen Zeiten heikle Angelegenheit, den wir können davon ausgehen, dass der Dämon nicht weniger sensibel auf solche Vorgänge reagiert als beispielsweise Marsellus Wallace.

Wein, dessen Konsum anscheinend häufiger das Nahen einer Katastrophe andeutet, macht unseren Bettelmönch in spe betrunken und er zertritt die Nische, deren Berührung schon den Dämon herbeiruft.

11. Nacht

Man gestattet den Gefangenen, ihre Geschichte zu erzählen, um sich auf diese Weise freizukaufen. (Zweite Wiederholung des Schehrezâd-Motivs Geschichte gegen Leben).
Der Kalif will seinen Wesir vorschicken, nun zu sagen, wer sie seien, doch der Wesir spielt den Eigeschnappten.
Der Lastenträger berichtet in zwei Sätzen, was sowohl wir als auch natürlich die Damen wissen.

"Das ist meine Geschichte, und damit basta!" Da lachte die Dame und sprach zu ihm: "Heb deine Hand zur Stirn und geh fort."

Hand zur Stirne heben? Ein Abschiedsgruß vielleicht?

Eine Geste, die mich im Iran zunächst verunsicherte: Den Kopf in den Nacken werfen und dabei leicht schnalzen. Ich interpretierte das erst als arrogantes "Wie bitte?" und wiederholte meine Frage an den Taxifahrer: "Fahren Sie zum Bahnhof?" bis ich erfuhr, dass die Geste schlicht "Nein" bedeutet.

Doch der Lastenträger bleibt, um die Geschichten der anderen zu erfahren.

Die Geschichte des ersten Bettelmönches

Der erste Bettelmönch ist der Sohn eines Königs. Als er seinen Vetter besucht, betrinken sie sich und der Vetter lässt sich mit einer Dame vom Königssohn in eine Gruft einbuddeln. Am nächsten Morgen hält er alles für einen Traum, ist aber beunruhigt über das Verschwinden seines Vetters. Bei der Rückkehr in seine Heimatstadt wird er verhaftet. Es stellt sich heraus, dass der Wesir geputscht hat und sich nun am Sohn rächen will, der ihm als Knabe auf der Vogeljagd mit der Armbrust ein Auge ausschoss.

"Wenn du es aus Versehen getan hast, so will ich es mit Absicht tun." (…) und er stieß mir den Finger ins linke Auge und drückte es aus.

Man sollte sich genau überlegen, ob man seine Söhne auf Vogeljagd schickt, wenn die Gegenwart von Ministern nicht zu vermeiden ist.

Der Schwertträger, der ihn hinrichten soll, läst ihn, ähnlich wie der Jäger in "Schneewittchen" laufen, nur dass er dem Wesir keine gebratenen Innereien als Beleg servieren muss.
Der Königssohn flieht in die Stadt des Oheims, der über den Verlust seines Sohnes trauert, und offenbart ihm die Geschichte. Sie gehen zum Totenacker und öffnen die Grabkammer, wo sie in einem Saal voller Getreide einen Thronhimmel finden, auf dessen Lager die verkohlten Leichen des Vetters und seiner Dame liegen.
Bemerkenswerte Reaktion des Vaters, der ja eben noch um den verlorenen Sohn trauerte:

spie er seinem Sohn ins Gesicht und rief: "Das verdienst du, du Ekel!"

Ich hoffe, dass der Kummer, den ich meinen Eltern von Zeit zu Zeit bereite, nicht so weit geht, dass sie sich eines Tages zu solchen Ausbrüchen hinreißen lasse.

10. Nacht

Die 10. Nacht

Das Geschlechtsteil des Trägers heißt also weder zubb noch air und auch nicht chazûk. Doch der Träger verrät es den Damen nach einigem Kosen, Necken und Schlagen*.

"Dies ist das Maultier, das die Krauseminze des Kühnen als Weide winkt, das den enthülsten Sesam als Nahrung verschlingt und in der Herberge des Abu Mansûr die Nacht verbringt."

Am nächsten Morgen soll er zunächst gehen:

"Zieh ab und zeige uns die Breite deiner Schultern."

Eine derb-freundliche Art, einem Mann zu sagen, dass man ihn lieber von hinten sehen will. Doch der Träger überredet sie bleiben zu dürfen und so verbringt er weitere nette Stunden mit ihnen, bis es an der Tür klopft: drei einäugige, persische Bettelmönche,

deren Bärte und Schnurrbärte abrasiert sind,

begehren Einlass, da sie von der Nacht überrascht worden seien. Er wird ihnen gewährt, ebenfalls mit der Warnung:

"Wer da redet von dem, was ihn nichts angeht, wird hören, was ihm nicht angenehm ist."

Nun trinken und tändeln sie zu siebt. Ein dramaturgisch eigenwilliger Moment, eine Figur einzuführen, die uns wohl noch oft in den 1001 Nächten begegnen wird: Kalif Harûn er-Raschid**, der (wie immer verkleidet) gemeinsam mit seinem Wesir Dscha’far und Marûr, dem Träger des Schwertes seiner Rache, des Nachts prüft, ob seine Untertanen in Baghdad auch brav sind. Er klopft – gegen den Rat des Wesirs (schließlich wird dort Wein getrunken) – an die Pforte, ihm wird geöffnet und er begehrt Einlass, der ihm unter derselben Bedingung gewährt wird.
Nun geschieht etwas Merkwürdiges: Zwei schwarze Kettenhunde werden herausgelassen. Die Wirtschafterin peitscht sie aus, nur um gleich anschließend in Tränen auszubrechen, und die Biester zu streicheln und zu trösten. Die älteste Dame singt ein Klagelied. Und die Pförtnerin fällt ständig in Ohnmacht, indem sie sich die Kleider zerreißt und somit Geißelnarben auf ihrem Rücken sichtbar werden.
Wie standhaft wäre man da, nicht doch nachzuhaken? Den Kalifen jedenfalls übermannt die Neugier. Er lässt den Lastenträger fragen, woraufhin die Damen erzürnen:

"Kommt schnell herbei!" Und siehe, eine Kammertür tat sich auf, und heraus traten sieben Negersklaven mit gezücktem Schwert in der Hand; und sie sagte zu ihnen: "Fesselt diese Schwätzer und bindet sie Rücken an Rücken!"

Die Sklaven können es kaum erwarten, ihren Opfern die Köpfe abzuschlagen, doch die Dame gibt ihnen noch eine Stunde Zeit.

* Wie weit diese Schläge gehen, wird nicht gesagt, aber man kann getrost davon ausgehen, dass hier eine sanfte S/M-Variante angedeutet wird.

** In Wirklichkeit war Harûn er-Raschid überhaupt nicht am Schicksal seiner Untertanen interessiert, sondern hockte die ganze Zeit – abgeschirmt durch Wesire und Berater in seinem Palast. Seine politischen Fähigkeiten hielten sich – im Gegensatz zu seiner Eitelkeit – in Grenzen. Er förderte aber die Kunst, vor allem aber die Literatur. Die Autoren dankten es ihm, indem sie ihn in ihren Geschichten zu einem großartigen, weisen Herrscher zurechtfabulierten.