Montag, 20.4.09

0.30 Uhr nachts. Ich rufe in Schildow an (+7 Stunden), hoffentlich nicht zu früh. Glück gehabt. Mutter ist gerade mit dem morgendlichen Zähneputzen fertig. Ich bin der erste Anrufer, nach dem Klang der Stimme meines Vaters zu urteilen aber glücklicherweise nicht der erste Gratulant. Zum ersten Mal bin ich der erste Anrufer, und das erste Mal, dass ich sie deshalb aus dem Ausland anrufe. Ist dieser Freude ein Vorwurf beigemengt? Wie kompliziert Familienbeziehungen doch sind. Wie unfrisch man zu kommunizieren gezwungen ist oder anders gesagt – die Frische muss man sich erobern.
Müde aber einigermaßen konzentriert stehen wir auf.
Mit David an der U-Bahn-Station. Man darf hier eigentlich nicht halten, also sind wir zur Eile gezwungen. Der Abschied herzlich und kurz, so wie ich es mag. Ein Grauen sind mir Abschiede in der Tür, Händeschütteln, dann noch mal fünf Minuten Smalltalk, ein weiteres Umarmen, in einer Extremsituation habe ich gesehen, wie sich der Abschied 50 Minuten hinzog, gerechnet ab dem Schuheanziehen und der ersten Verabschiedung. Es ist noch morgendlich kühl, wir fahren entspannt zum Flughafen.
Dort ein wenig unruhig, das Einchecken mit dem elektronischen Ticket etwas komplizierter als gedacht. Für jedes Gepäckstück noch mal 20 Dollar nachzahlen. Stand bestimmt im Kleingedruckten. Nimm gelassen hin, was du nicht ändern kannst, denke ich. Am Sicherheits-Check wird diesmal Steffi durchleuchtet. Sie nimmt es persönlich. Es wird ein langer Flugtag, wir nutzen jede mögliche Minute aus, die wir nicht im Flugzeug verbringen müssen und steigen als letzte ins Flugzeug. Ein Fehler. Wegen der 20-Dollar-pro-Gepäckstück-Regel haben die meisten Reisenden ihre Koffer als Handgepäck deklariert, was man ihnen durchgehen lässt. Pech für Steffi, die ihren kleinen Rucksack nicht mehr ins Gepäckfach gestopft kriegt. Unter den Sitz auch nicht. Wir sitzen getrennt, Bevor ich ihr Hilfe anbiete, bittet Steffi die Stewardessen um Unterstützung, diese wirken eher gestresst, und da wir die letzten sind, haben wir sicherlich auch keinen Stein bei ihnen im Brett. Mit den Worten "Der kommt nach hinten" trägt sie ihn fort. Wir zucken kurz auf, schauen uns in die Augen und wissen, dass wir dasselbe denken: Gerda!
Ich würde es eher riskieren, dass mein Computer wegkommt, als dass Gerda irgendwo verlorengeht. Was soll schon passieren, beruhigen wir uns, obwohl wir nicht wissen, wo die genervte Trulla den Rucksack hingebracht hat.
Wir heben ab nach Philadelphia. Blättere in "Audacity of Hope" und kann mich nicht konzentrieren. Dann muss es der Walkman tun. Schostakowitsch, Händel, Mozart. Und ein bisschen Schlaf kann auch nicht schaden.
Landung. "Sollen wir das Handgepäck, das sie vorhin weggetragen haben, hier abholen oder wird das automatisch mit nach Charlottesville verladen?" Sie bestätigt letzteres mit der Selbstsicherheit einer Stewardesse, aber hinter ihren Augen glaube ich lesen zu können, dass sie sich nicht an den roten Rucksack erinnert.
Regen in Philadelphia. Diesmal beeilen wir uns bei Umstieg. Eine Propellermaschine. Erinnere mich nicht, je mit so etwas geflogen zu sein. Die ewigen Anschnall- und Sicherheitsansagen. Ist man immer noch genervt davon, wenn man wöchentlich oder gar täglich fliegt? Oder kann man dann schon einen Sport daraus machen, die Unterschiede herauszufinden. Wie weit gehen die Stewardessen bei der Demonstration der Atemmasken? Werden Notbeleuchtungen angesagt. Lächeln sie beim Demonstrieren? Schnallen sie sich die Schwimmwesten tatsächlich an und demonstrieren das Pusten? Entfällt das alles und wird nur als Video gezeigt, möglicherweise dort mit diesen seltsam schwerelos wirkenden computeranimierten Androiden?
Der Lärm ist unglaublich, und man kann es sich kaum vorstellen, dass die früher alle so geflogen sind. Die armen Stewardessen in diesen Maschinen. Sie glaubten, einen attraktiven Job ergattert zu haben und arbeiten in einer akustischen Atmosphäre die der eines Stahlwerks gleicht. Die Aufforderung, das Handy und andere electronic devices auszustellen wirkt bei diesem Flugzeug wie die Aufforderung eines Ochsenkarrenlenkers sich anzuschnallen.

 

Virginia. Der Flughafen ist hübsch übersichtlich. Der zweitkleinste nach Sunyani vielleicht.

Stephen Nachmanovitch wartet bereits auf uns. Es ist, als schließe sich der Kreis. Vor sechs Jahren habe ich sein Buch in Chicago entdeckt, mich in es verliebt, dann Jahre damit verbracht, einen Verlag zu finden, es übersetzt, dann kam er nach Berlin, um es zu promoten, und nun besuche ich ihn. Wie ein Jungenstreich fühlt es sich an.
Der rote Rucksack – weg. Ich versuche, die Ruhe zu bewahren, warte mit unseren Koffern an der Gepäckausgabe. Stephen und Steffi bequatschen eine Angestellte. Zum Glück tun sie es, ich würde mich wahrscheinlich zu Aggressionen hinreißen lassen. Stephen schüttelt wissend den Kopf: "Philadelphia is a nightmare." Jedes zweite Gepäckstück käme dort abhanden (Mir bleibt fast das Herz stehen.), werde aber nachgesandt, wir bräuchten uns nicht zu beunruhigen. Vor zwölf Jahren ging bei Greyhound mein großer Rucksack verloren, mit Taschengeld und Pass stand ich dann in New Orleans und musste klarkommen. Damals sagte ich mir, ich lasse mir meine Reise nicht von diesem Problem verderben. Diesen Ansatz versuche ich jetzt auch, aber es ist schwerer. Während wir in den Toyota einsteigen, fällt es mir schwer, mich auf Stephens Fragen zu konzentrieren. Meine Gedanken schweifen ab zu Gerda. Es lässt sich anderen kaum erklären. Sie ist für uns eine Persönlichkeit – völlig unberechenbar – Trösterin, Gefährtin, Lehrerin, eigensinnige Tante. Ich konzentriere mich dann doch. Steffis Gelassenheit färbt ab. Plaudern über Charlottesville, Steves Söhne, seine Frau, Jefferson, das Buch, die kommenden Tage. Wir holen Jack von der Schule ab. "Hi Dad!" "Was gab’s in der Schule?" "Nichts." Stephen stimmt sein "Mumbomumbo" an. "Dad, please!" Dabei ist es die Funktion von Eltern, peinlich zu sein.
Ohrenstöpsel rein, und das Musikhören wird zum Mittel des Grenzenziehens – man muss nicht kommunizieren, man muss sich nicht rechtfertigen, man hört ja Musik. Der arme Jack hängt fest im Vorort von Charlottesville. Er kann keine zwei Kilometer von dort weg, denn dafür bräuchte er ein Auto. In einem Jahr, wenn er Sechzehn ist, macht er den Führerschein.
Das Haus ist unglaublich. Es liegt leise am Wald. Abgelegen, aber immerhin noch so, dass man die Nachbarn sieht. Die Zimmer sind wie von einem Feng Shui Meister angeordnet. Eine hohe Decke, man will tanzen. Die amerikanische Wohnküche geht in ein Esszimmer und dieses in ein Lesezimmer über. Außerdem haben beide Söhne einen eigenen Raum, die Eltern ein Schlafzimmer, Stephens Frau ein eigenes Schlaf- und Arbeitszimmer, außerdem einen Leseraum, es gibt einen Meditationsraum, Stephens Büro und Stephens Musikzimmer, einen Leseraum mehrere Badezimmer, einen Wintergarten, in dem das Kaninchen lebt, eine große Terrasse und bestimmt ein oder zwei Zimmer, die ich jetzt vergessen habe. Alles ist wunderbar angeordnet, angenehme Farben, Licht strömt herein, man fühlt sich in jedem Zimmer wohl. Teppiche, indische Buddhas stehen überall herum und signalisieren, welchen Weg die Söhne mal nicht nehmen werden.
Der Tag klingt angenehm mit der Familie aus. Wir sind groggy und wollen zeitig schlafen. Unser Schlafzimmer quillt über mit Science Fiction Literatur. Der werde ich mir wohl an einem anderen Abend als Schlaflektüre widmen. Mir fällt es immer leicht, einzuschlafen, in weniger als zwei Minuten, manchmal in nur zehn Sekunden, bin ich weggetreten. Heute nicht. Ich bange um Gerda.

20.4.2009
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