Nun habe ich – den Nächten nach – ein Drittel hinter mir (in Seiten gerechnet ist es ein bisschen mehr). Und das in viereinhalb Jahren. Wenn ich in dem Tempo weitermache, bin ich 50, wenn ich die 1001 Nächte ausgelesen habe. Aber um sich ihnen im täglichen Rhythmus zuzuwenden, sind sie wirklich nicht ergiebig genug. Weder stilistisch, noch narrativ. Und so setze ich eben von Zeit zu Zeit Atempausen, die sich auch mal über Monate hinziehen können, wie bei der Unterbrechung zur Reihe "Richter liest Schmidt liest Proust". Die gegenwärtige Liebeskorrespondenz gehört für meine Begriffe auch nicht gerade zu den Brüllern unter den bisherigen Storys, sondern ist eher eine Variation der immer wiederkehrenden Motive:
– Der Kalif langweilt sich.
– Ein Gast muss eine Geschichte zum besten geben.
– Mann verirrt sich in einer Stadt und trifft in einem unbekannten Haus eine Schöne.
– Liebeskorrespondenz mit wiederholten Ohnmächten.

Und doch finden sich immer wieder kleine Perlen. Und ich kann mir nicht helfen – die Wucht der Sammlung zieht mich doch immer wieder in ihren Bann. Wenn ich dann eben den Gilgamesch-Epos in diesem Leben nicht mehr schaffen sollte – auch gut.

*

23.-29.6.11

 

Bei diesem Graffito auf einem Schulhof in der 28th Street ist mir erst beim Betrachten des Fotos aufgefallen, dass die bunte Hose dieses doch etwas unglücklich dreinschauenden gelbgesichtigen Burschen aus Phantasie-Flaggen besteht.

 

Wir können von unserem Zimmer auf den Hudson River schauen, was für mich bewegender ist, als wenn es der Atlantik wäre. Aber ich weiß nicht warum.

 

 

Diese typisch stylische Eigen-Reklame fanden wir in einem Bio-Imbiss in der 27th Street. Auch in New York hält man viel auf Dirk Nowitzki.

 

Passend zur "Überflieger"-Lektüre von vor zwei Wochen: Die jüdischen Schneider in New York legten Anfang des 20. Jahrhunderts den Grundstock für die Anwalts-Karrieren ihrer Söhne und Enkel. "The Garment Worker" von Judith Weller. Der Herr mit der Aktentasche bleibt höflicherweise stehen, damit er nicht das schöne Touri-Foto verdirbt.

 

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich das entdeckte: Radwege in New York. Im Gegensatz zu Berlin oder überhaupt deutschen Städten braucht es ja einen gewlatigen Nachfragedruck, bis der Radweg gebaut wird. Hier in Manhattan, wo nur Sportfreaks, Fahrradkuriere und Lebensmüde auf dem Rad unterwegs sind, ist ein geradezu autoritärer Wille der Stadtverwaltung unter Bloomberg nötig. Im Grunde erschwert er den ohnehin mühsamen Autoverkehr mit dieser Maßnahme noch mehr. Die New Yorker sind Meister der Anpassung. Mich würde nicht wundern, wenn diese Radwege in 1-2 Jahren tatsächlich auch genutzt werden. Um ein Radfahrer-Foto wie das obenstehende knipsen zu können, muss man im Schnitt fünf Minuten warten.

 

 

Washington Square Park. Ich versuche jedes Jahr aufs Neue, seine Magie zu verstehen. 1997 sah ich über zwei Stunden Komikern, Lyrikern, Rappern und Predigern zu, die sich dort abwechselten. Hier probieren Frauen ihren Trash-Chic aus. Ob wegen des bevorstehenden CSD, trauen wir uns nicht zu fragen. Und ehrlich gesagt, sehen sie dafür auch nicht lesbisch genug aus.

Im ersten Moment suche ich den Witz. Werbung mit possierlichen Tieren – dahinter steckt meistens irgendetwas, das gerade nichts mit Tieren zu tun hat, vor allem, wenn sie in T-Shorts oder Stramplern stecken. Aber diese Werbung sagt nicht mehr als das, was sie sagt: Die Frühjahrskollektion ist da. Für Hunde.

 

Die Upright Citizens Brigade gilt als eine wahre Talente-Schmiede. Amy Poehler wurde hier groß. Matt Besser, Matt Walsh, Ian Roberts. Die Impro-Workshops gelten immer noch als die besten der Stadt. Die Qualität der Shows hat aber, soweit ich das aus den letzten drei Jahren beurteilen kann, erheblich nachgelassen. Wahrscheinlich hängt es vom Tag ab, und man muss wissen, wann wer spielt. Allen gemeinsam ist der schnelle Wortwitz zulasten der räumlichen Szene. Trotzdem immer einen Blick wert. In der Regel muss man sich lange vorher anstellen, um überhaupt noch Karten zu erwischen. Die Straße ist jeden Abend voll von jungen, auf dem Gehweg hockenden Leuten. Die Shows sind jeden Tag ausverkauft. Und es wäre wohl ein leichtes, die Nachfrage über den Preis zu regeln. Aber sie bleiben konsequent bei fünf Dollar! Eine Sensation in dieser Stadt. Selbst bei 200 Zuschauern und drei Shows pro Tag werden sie wohl davon gerade mal die Techniker und die Miete bezahlen können. An Wochenenden gibt es um 0 Uhr außerdem noch eine Gratis-Show. Aber auch hier ist der Preis: Eine Stunde fürs Ticket anstehen.

 

Ein Haus des Gebäudekomplexes, in dem wir wohnen. Die Häuser wurden Anfang der 60er Jahre errichtet. Sie gelten nicht als "Projects", sondern als Werk einer gewerkschaftsnahen Stiftung (sofern ich die organisationsrechtlichen Fragen richtig verstanden habe. Die Mieten dürfen nicht beliebig erhöht werden.

 

Bei meinen Freunden Gogo und Rebecca gibt’s W-LAN. Die vor mir stehende Radfahrer-Wasserflasche habe ich aus der Herberge in Seattle mitgenommen. Sie war herrenlos und hat mich so treuherzig angeschaut.

 

Mit großem Bohei beschwört uns unsere Gastgeberin, dass wir auf jeden Fall den High Lane besichtigen sollten – ein stillgelegter Gleisabschnitt im Westen Manhattans, der parallel zu den Avenues verläuft, nun begrünt wurde und von dem immer mehr Kilometer freigegeben wurden. Ich erwarte etwas wie die Gleisverlängerung vom Görlitzer Park Richtung Treptow. Stattdessen ein Schmalspurgang, dessen einziger Vorteil darin besteht, dass man nicht an jeder Straßenkreuzung halten muss und der Straßenlärm nicht ganz so ohrenbetäubend ist. Sicherlich für viele New Yorker eine Entlastung. Beim parkverwöhnten Berliner hinterlässt es ein Schulterzucken so wie für einen Schweizer die Müggel"berge".

 

 

Nicht nur für die bereits erwähnten Radspuren, auch für die in die schlimmste Verkehrshölle platzierten Fußgängerzonen ist Bürgermeister Bloomberg verantwortlich. Und ich bewundere ihn für seinen Mut, das Risiko auf sich zu nehmen, von der Mehrheit der autofahrenden Bevölkerung dafür gehasst zu werden. Das sollte sich mal ein konsensorientierter Bürgermeister in Berlin wagen!

Central Park. Manchmal denke ich, ich könnte problemlos einen kompletten Sommer täglich schreibend dort verbringen.

 

4 Tracks im "Magnet Theater", das ich im letzten Jahr schon als gute Alternative zum UCB erlebt habe. Ohne weiteres würde ich diese Truppe nach Berlin einladen.

 

Christopher Street Day an der Christopher Street. Und als schließlich dieser Bus vorbeifährt, in dem die Greise aus einem Seniorenheim sitzen, die sich auch an diesem Tag feiern lassen, bin ich doch gerührt. Was für eine Freude, was für ein Triumph muss es für sie sein, all die jungen, glücklichen Menschen zu sehen, die ihr Queer-Sein in dieser Stadt ausleben können.

 

"Homer, Herodot, Sophokles, Aristoteles, Demosthenes, Cicero, Vergil" stehen an der Fassade der Columbia University. Wäre ich schlauer geworden, wenn ich hier (wahrscheinlicher viel zielgerichteter) studiert hätte? Glücklicher womöglich? Ich schwanke in der Beantwortung dieser Fragen.

 

Im äußersten Norden des Central Parks, in den ich nur selten gekommen bin, gibt es auch ein hübsches Freibad, das allerdings erst einen Tag nach unserem Besuch öffnen würde. Das man Ende Juni schon fast täglich um die 30 Grad Celsius maß (rechnet selber nach, was das in Fahrenheit ist), war für die Damen und Herren Schwimmbadbetreiber kein Grund, die Plansche früher zu öffnen. Zu überlegen, wie dieses von innen aufgenommene Foto zustandegekommen ist, überlasse ich den Kniffelrätselratern.

 

 

Brighton Beach auf Coney Island zählt sicherlich nicht zu den idyllischen Gegenden der Stadt, sicherlich aber zu den sehenswerten. Als man für "The Godfather" noch eine historisch glaubwürdige Autofahrtszene brauchte, griff man ins Archiv und montierte Bilder von einer Fahrt unter den typischen Hochbahnschatten hinein. In den Läden und Imbissen wird nur gebrochen Englisch geredet und verstanden. Unsere Pizza kaufen wir in einer Bude, in der alle außer der Verkäuferin Russisch sprechen. Die pakistanische Bedienung im "Subways" ist die unfreundlichste aller Subways-Filialen westlich Brandenburgs, was man vielleicht auf die furchtbaren Arbeitsbedingungen schieben kann. Andererseits, wenn man schon furchtbare Arbeitsbedingungen hat, warum muss man dann den allgemeinen Schlechte-Laune-Pegel auch noch durch Unfreundlichkeit heben?

 

Während ich mich am Brighton Beach durch die düsteren Seiten des Tagebuchs des Stanford Prison Experiments arbeite, geben die Schüler einer Tanz- oder Schauspiel-Schule ihrem Affen Zucker und spinnen sich einen aus. Vielleicht sind es auch einfach sieben äußerst bewegungsbegabte junger New Yorker, aber dafür wirkten sie zu professionell. Das Foto, auf dem außer dieser Dame auch noch ich mit unvorteilhaften Speckröllchen zu sehen bin, habe ich in der Tiefe meiner Datenbanken verschwinden lassen.

 

Ich vor schiefem Horizont. Immer wenn ich hier in Coney Island an alten Menschen vorbeigehe, verlangsame ich meine Schritte, in der Hoffnung, sie jiddisch reden zu hören. So wie ich das noch 2003 erlebt habe. Aber die sterben wohl auch aus. Inzwischen ist der Strand hier in russischer Hand.

 

Ich habe die New Yorker nie so recht verstanden. Sie haben einen großartigen Strand vor der Haustür und nutzen ihn kaum. Kaum jemand geht tiefer als bis zur Hüfte hinein. So gut wie niemand schwimmt. Und dann gibt es noch all diese Verbote. Vor acht Jahren bin ich auch von einem Rettungsschwimmer zurückgepfiffen worden, als ich weiter als 25 Meter im Wasser war. Nachdem ich den Strand verlassen habe, erfahre ich, dass das fast alles seine Berechtigung hat: Die Strömung ist hier sehr gefährlich. Also keine Flossen, keine Luftmatratzen, kein Rausschwimmen. Aber warum gibt es keine Sonnenschirme und keine Strandmuscheln?

So richtig habe ich es nicht verstanden, das Konzept der Congregational Church. Jüdische und christliche Glaubensgemeinschaft unter einem Dach. Unser 75jähriger Freund Ron ist hier sehr gern unter den jungen Leuten, manchmal zum Sabbat.

 

Der High Lane kurz vor Mitternacht. So unprätentiös bin ich wieder mit ihm ausgesöhnt.

 

Amerikanische Zahnkunst.
(Klingt wie ein Zirkuskunststück.)

 

Am letzten Tag noch einmal in den Central Park. Was mal als kleines "Wir spielen Theater im Park" begonnen hat, ist nun ein kommerzieller Renner geworden. Maß für Maß, das ich in diesem Jahr kennengelernt habe, wird gezeigt. Aber es ist der Tag meiner Abreise.

I’ll be back.

*

Budûr überreicht nun den Liebesbrief an ibn Mansûr, der ihn zu Dschubair ibn Umair bringt. Als dieser den Brief liest, fällt er in Ohnmacht.

Doch bald kam er wieder zu sich und rief: "Sohn des Mansûr, hat sie diesen Brief mit eigener Hand geschrieben und mit ihren Fingern berührt?" Ich fragte: "Mein Gebieter, schreiben Menschen vielleicht mit den Füßen?"

In dem Moment tritt Budûr selbst ein.

Sobald er sie erblickte, sprang er auf als ob er gesund wäre, und umarmte sie, wie das Lâm sich um das Alif schlingt.

Sie setzen sich, lassen einen Kadi und zwei Zeugen rufen und sich an Ort und Stelle vermählen. Man gibt ibn Mansûr ein Nachtlager. Und am nächsten Morgen sieht er die beiden kommen

aus dem Bade im Hause, und beide pressten ihre Locken aus.

Dschubair will ihm zum Dank für seine Boten-Dienste dreitausend Goldstücke überreichen, die ibn Mansûr nur unter der Bedingung annehmen will, wenn man ihm berichtet,

"wie es kam, dass die Liebe von ihr zu dir überging, nachdem du ihr so sehr abgeneigt warst."

Dschubair berichtet, dass er beim Neujahrsfest, bei dem alle in der Stadt auf Booten spazierenfahren, er Budûr entdeckte, die von Sklavinnen umringt zur Laute sang:

Kein Feuer brennt so heiß wie das in meinem Innern;
Wie meines Herren Herz – kein Felsen ist so hart.
Mich wundert’s, wie sein Wesen, sich nur zusammenfügte:
Ein Herz von Stein in einem Leibe, weich und zart.

 

333. Nacht – Back in New York
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