Man tändelt weiter, doch da kündigen die Sklavinnen die Ankunft des Kader Eunuchen und Masrûr dem Schwertträger des Kalifen an. Die beiden Herren werden versteckt, und sicherheitshalber lässt sich Schams en-Nahâr von einer Sklavin die Füße kneten.
Von einem Balkon sehen Alî ibn Bakkâr und Abu el-Hasân der Tändelei zwischen dem Kalifen und Schams en-Nahâr zu, nicht ohne dass Alî ibn Bakkâr ständig in Ohnmacht fällt, aus der er mit Rosenwasser wieder zu Bewusstsein gebracht wird. Als es schließlich zu unsicher wird, bringt eine Sklavin sie zu einem Fährmann, der die beiden zum anderen Ufer rudert.

***

Nachtrag zur Anreise in China:

Wenig nur wissen wir über China, als Jochen Schmidt, Volker Strübing und ich in das Reich des gelben Mannes aufbrechen, um dort unsere Texte einem die deutsche Sprache lernenden Publikum vorzutragen. Die wichtigsten Fakten zusammengefasst:

1. Die Wirtschaft des Landes boomt. Bedeutet das jetzt, dass sich jeder Chinese einen Opel leisten kann oder heißt es nur, dass er zur täglichen Schale Reis, von der er bekanntlich lebt, nun auch noch Kompott verlangt?

2. Einen großen Teil seiner sozialen Probleme entsorgt der Chinese dadurch, dass er seine Landsleute ins Gefängnis sperrt. Lediglich die USA haben eine höhere Inhaftiertenquote. Wir werden unser Verhalten diesem Umstand anpassen und unsere Solidaritätsbekundungen mit unterdrückten Bergvölkern zu unterdrücken wissen, denn unser Verlangen danach, den Haftalltag von Gefangenen zu studieren, hält sich in den Grenzen von 1937.

3. Der Chinese hat Philosophien erfunden, die sich der aristotelischen zweiwertigen Logik entziehen, Taoismus und Konfuzianismus sind nur zwei davon, Yin und Yang zwei andere.

4. Mao ist tot. Aber wie heißt der Typ noch mal, den sie jetzt haben?

5. Dass der Chinese kleiner ist als der Europäer, dass er verschmitzt lächelt, dass seine Haut zum Gelbsein neigt, dass er sich flink und verschlagen bewegt und Kampfsportarten beherrscht, in denen die Gesetze der Schwerkraft, der Kohäsion und des gesunden Menschenverstandes außer Kraft gesetzt werden, darf nicht zur Aufbauschung rassistischer Vorurteile genutzt werden.

Das Flugzeug startet so früh, dass wir uns verschlafen begrüßen und nur wenige Worte miteinander wechseln. Diesen geistigen und sozialen Aggregatzustand konservieren wir für die nächsten zwei Wochen. Zwischenstopp in London. Jochen sucht sich, wie er es immer auf Zwischenstopps tut, eine Bank, legt sich hin und schläft sofort ein. Diese Fähigkeit, jederzeit und überall schlafen zu können, erweckt Neid, und die Müdigkeit steckt an. Volker hingegen filmt, fotografiert, schreibt, liest, trinkt Kaffee und spricht gleichzeitig. Diese Unruhe – nach eigener Auskunft hat er seit drei Wochen keinen Schlaf mehr von innen gesehen – ist ebenfalls ansteckend. Und so wanke ich ziellos müde und unruhig durch die Hallen des Heathrow Airport Terminal 5.

Auf einmal sitzen wir in einem Flugzeug, Jochen schläft schon, bevor überhaupt angesagt werden konnte, dass man sich anzuschnallen habe. Volker filmt, fotografiert, schreibt, liest, und mit mir legt sich ein Schwabe an, der sein Handgepäck in meinem Fach verstaut hat. In meinem Fach! Schließlich ist es aber wie früher, wenn man mit der Schulklasse im Kino war – zuerst streiten sich alle um die Plätze, bewerfen sich und nörgeln, die vor einem Sitzenden würde zu sehr die Köpfe in die Höhe strecken, aber wenn es losging, funktionierte es wie von selbst.

Von Stewardessen lernen, heißt Sozialkompetenz lernen. Ihre ewig freundliche Art macht sie unangreifbar. Ihre Körpersprache signalisiert Kompetenz, wie man sie heutzutage selbst von Ärzten nicht mehr erwartet. Sie sind die Göttinnen in Blauweiß. Damit die Fluggäste sich nicht wie Kinder aufführen und zu streiten beginnen, werden einem ständig Snacks, Getränke, Luxusspielzeug und andere Dienstleistungen angeboten. Um in den Genuss der sprichwörtlichen Nymphomanie der Stewardessen zu kommen, muss man aber wahrscheinlich mindestens Business Class gebucht haben.

Jochen schläft, und Volker liest. Jochen schläft und Volker schreibt. Jochen schläft und Volker guckt Acionfilme. So geht es die ganze Zeit. Ich bin zu müde, um zu lesen, zu schreiben oder mich auf die Logik der Zombie-Actionfilme einzulassen, aber auch zu aufgekratzt um zu schlafen. In später, sehr später Nacht setzt das Flugzeug zum Sinkflug an und ich schlummere für zwanzig Minuten ein. Und schon werde ich wieder aus meinem Sessel vertrieben. Wir sind schon da. Kann ich nicht trotzdem sitzenbleiben und weiterschlafen? Nein. Das ist aber ungerecht! Raus, raus! Ich bin doch kein Vieh! Die Sonne scheint. Ich verstehe nicht. Achso, die Zeitumstellung. Hier ist ja noch gestern. Ach nee, hier ist schon morgen! Schnell, schnell! Volker filmt und fotografiert.

Das Zeichen für Passkontrolle sieht aus wie das, was es bedeutet – ein großes Männchen wartet vor einem Häuschen, in dem ein kleineres Männchen hockt, darauf, dass ihm sein Pass zurückgegeben wird.

Wer holt uns eigentlich ab? Es soll wohl ein Chinese sein, auf dessen Schild „Berliner Lesebühne“ steht. Jetzt stehen wir dumm da. Lauter Chinesen, lauter Schilder. Wir hatten vergessen, bescheid zu sagen, dass der Chinese „Berliner Lesebühne“ auf Deutsch schreiben soll. Wir stehen verloren rum und warten, bis sich vor unseren Augen ein junger Mann kung-fu-film-mäßig materialisiert und uns akzentfrei begrüßt und einen Fahrer des Goethe-Instituts kommandiert, uns zur Wohnung unseres Gastgebers zu lotsen. Der Name des jungen Mannes ist Wenn, aber mein schreibt es Wuan. Trotz seiner Akzentfreiheit und seines stellenweise thomas-mann-artigen mündlichen Stils versteht er kaum ein Wort von dem, was wir sagen. Schließlich lernt er erst seit einem halben Jahr die Sprache der Deutschen.

Unser Gastgeber, Rupprecht Mayer, ist eigentlich Schriftsteller, aber als er als junger Mann einmal seinen Berufswunsch in einer Liste ankreuzen musste, ist er in der Zeile verrutscht, und kreuzte aus Versehen Sinologe statt Schriftsteller an. Um aber vor seinen Altersgenossen und seinen Eltern nicht deppert dazustehen, richtete er seinen Lebenskompass nun auf China aus, was schließlich dazu führte, dass er als Dolmetscher im oberen Stockwerk eines Shanghaier Wolkenkratzers lebt. Damit hat er es gut getroffen.

Rupprecht wohnt in der Nähe der iranischen Botschaft, vor deren Gebäude das Shanghaier Gartenbauamt den Ahornbäumen Stacheldraht umgehängt hat, damit, wie wir erfahren, politisch unterdrückte Shanghaier nicht versuchen, über die Botschaft abzuhauen. Ich frage mich, wie schlecht es einem politisch Verfolgten gehen muss, dass er versucht, ausgerechnet in den Iran abzuhauen.

Rupprechts Wohnung ist, wie es sich für Diplomaten gehört, mehrstöckig, mehrbalkongig, mehrwc-ig und mehrbettig sowieso. Fünf Zimmer gibt es – für jeden eines, und dann bleibt noch eins übrig. Wir haben die Schlafräume noch nicht gesehen, aber schon regt sich in Volker und Jochen die Panik, womöglich das schlechtere zu erwischen. Prinzip Zufall entscheidet. Man schläft dort, wo man gerade hinfällt. Es wird ein ausgedehnter Mittagsschlaf, der die innerer Uhr völlig durcheinanderbringt.

Als ich aufwache, müssen wir schon los, zum Bund, einer sehenswürdigen Uferpromenade, deren Sehenswürdigkeit darin besteht, dass man von hier aus gut die modernen Wolkenkratzer auf der gegenüberliegenden Seite fotografieren zu können. Alte Frauen bieten einem lustige Knetfiguren an, die, ähnlich wie früher in der Sesamstraße, auf den Boden geworfen werden und sich dann von selber wieder in ihre ursprüngliche Form zurückverwandeln. Alle zwei Meter werden einem diese Dinger hier angeboten, und dann auf unserer Reise nie wieder. Wir werden bereuen, sie nicht gekauft zu haben.

Ich war lange nicht mehr an einer richtigen touristischen Sehenswürdigkeit und nun erinnere ich mich wieder, warum. An Sehenswürdigkeiten fotografiert man im besten Falle Sehenswürdigkeiten, die man auf Postkarten besser fotografiert bekommt. Im schlechteren Falle, der meistens der Fall der Fälle ist, fotografiert man Touristen, die andere Touristen beim Fotografieren fotografieren, während sie versuchen, den Postkartenverkäufern, auszuweichen, die doch lediglich versuchen, ihnen Postkarten zu verkaufen, auf denen die Sehenswürdigkeiten aus besserer Perspektive, mit besseren Lichtverhältnissen und ohne störende Touristen, Fotografen und Postkartenverkäufer zu sehen sind.

154. Nacht
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