Mi, 23.8.06

Aufwachen mit einem sehr realistischen Traum: Eine Punkerin fragt mich, ob sie und ihre zwei Freunde nicht im Fortgeschrittenen-Workshop mitmachen dürfen. Während ich schon halbwach überlege, wieviel ich heute laufen will, denke ich noch unterbewusst, welche Antwort ich ihnen geben soll („Nur wenn ihr hart an euch arbeitet“).
Laufen auf der nach wie vor gesperrten Laufbahn. Es ist trüb und etwas kühl, fast ideal. Wie immer auf der Bahn verzähle ich mich dann mit den gelaufenen Runden, wenn ich es nicht mal mehr von der Zeit rekonstruieren kann. Lauf-Forum: Wenn man zu viel reines Wasser trinkt, kommt es zu einer sogenannten Elektrolyt-Verschiebung. Deshalb also lieber die Tees trinken und zwischendurch auch Banane essen. Schicke den Link an Jochen. Bei Knieproblemen wird Aqua-Jogging empfohlen.
Unterdurchschnittliche Impro-Show. E. im Zuschauerraum. Fühlt sich berechtigt, Statements abzugeben, statt Fragen zu stellen. Versuche, mich nicht auf Statusspielchen zwischen Improexperten einzulassen. Das amerikanische Improtheater sei in der Krise. Dass ich nicht lache.
Mail an die Bayrische Wasserschutzpolizei, seit wann auf dem Starnberger See von der Polizei Motorboote benutzt werden.

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Während ich beim Laufen Glück habe, wird Jochen in "Alt-Lipchen" vom Regen überrascht. Jauche-Jens überholt ihn. "Jauche geht immer."

J.S.: "Wir leben nicht nur in der Gegenwart (vielleicht sogar nie), sondern wir sind eine Vielzahl von verschütteten Ichs, die wachgerufen werden können. Alle, die in einem langen Leben zusammenkommen, zu verwalten, erfordert Kraft."

Proust enttäuscht von der sich prosaisch darbietenden Kirche in Balbec, von der er sich ein derart romantisches Bild gemalt hat, dass es ohnehin nur enttäuscht werden kann.

Eine Konstante bei Chaussee-Reisen in Ostdeutschland: Wir werden auf dem Bahnhof abgeholt und in zwei Autos aufgeteilt. Jochen fährt stets mit dem Veranstalter oder dessen Beauftragten und quetscht ihn über die Stadt aus: Wieviele Abgewanderte, wieviel ist von der (DDR-)Architektur übriggeblieben, welche Teile der Stadt wurden bombardiert, welche warum nicht, usw. So viele Fragen, auf die man nicht kommen würde. Es lohnt sich, sich an Jochens Fersen zu heften.

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Do, 24.8.06

Jochen und Bohni fehlen deutlich bei der Chaussee. Ihre Vertretungen sind nicht in Form: Ermüdend bzw. unverständlich.

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Jochen glaubt, sich zu erkälten.
Erkenntnisgewinne auf dem Lande in den Bereichen Ökologie, Landwirtschaft, Zoll, Drogen, Medizin, Psychologie, Selbstverteidigung.

Die Enttäuschungen habe sich Proust selbst zuzuschreiben: "Selbst schuld, wer verreist."
In der Tat muss man das Reisen in Zeiten des Reisens neu definieren. Am besten geht’s wohl noch dem, der einfache Ziele hat – Baden, Klettern usw. Man kann höchstens Pech mit dem Wetter haben. Alles andere kann man vorher in Erfahrung bringen. Aber wer wirklich etwas entdecken will, hat es schon schwerer. Auf der Suche vor Ort lässt sich die Authentizität von der Lüge schwerer unterscheiden als in der Bibliothek. Und wenn sich das Falsche so sehr eingefressen hat, löst es das Authentische schon wieder ab, das Authentische existiert nur noch als Zitat. Nickend-kennerhaft schlendern die Touristen durch die Hackeschen Höfe und die Sophienstraße, während ihnen die Touristenführer anhand der renovierten Fassaden das 20er-Jahre-Berlin erklären. An der Oberfläche der renovierten Architektur entzündet sich die Phantasie, der Reisende glaubt, Einblicke bekommen zu haben, hakt den Punkt "Hackescher Markt" ab, und weiter geht’s zur Synagoge in der Oranienburger Straße. Der Geschäftsreisende wiederum, der kaum Zeit zwischen zwei Terminen hat, sollte penibel darauf achten, ein passendes Restaurant in der Umgebung zu finden, sonst ruiniert er sich den Darm. Zur Not tut’s auch ein McDonalds, das Personal hat Englisch zu sprechen, in der Nachttischschublade liegt Gideons Neues Testament.
Freunde besuchen – das lass ich gelten.

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Fr, 25.8.06

Der Fernseher ging für 13, der Videorekorder für 25 Euro bei Ebay weg. In der DDR hätte man dafür vier Monatsgehälter hinlegen müssen.
Das war nach der Wende das Irritierende, und bis heute hadere ich damit: Dass jetzt der Luxus billig und die Lebenshaltungskosten teuer sind.

Seit Jahren bemühe ich mich recht erfolgreich, nicht zu lästern. Nun konnte ich Anfang der Woche doch nicht an mich halten, und prompt stellte sich heraus, dass mein Gesprächspartner der Freund des von mir Belästerten war. Jetzt rudere ich zurück, der Freund akzeptier und ich hoffe, gelernt zu haben.
Abends bei den Gorillas, die eine nette Show spielen. Vielleicht die beste in den letzten Monaten. Gute Figuren, elegantes Improvisieren. Klarheit und Überraschungen, Freude auch beim Scheitern. U. hat einen Auftritt mit uns abgesagt, um hier auszuhelfen, was ich wahrscheinlich auch getan hätte. Ich würde auch von jedem der Bö-Spieler behaupten, dass er sich gut einfügt. Das Verrückte aber ist, dass die Gorillas als Gruppe so gut funktionieren. Eine solche Show würde die nur selten hinkriegen. So wie es auch bei der Chaussee der Enthusiasten funktioniert: Man kann ein oder zwei Gäste einladen und erwarten, dass sie an dem Abend ihr Bestes geben, und die Show wird immer noch als solche zu erkennen sein. Aber die Gäste auf sich gestellt, könnten es nicht.

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Zeit für Jochen, aus "Alt-Lipchen" abzureisen, bevor er institutionalisiert beobachtet wird wie das Postauto.
Marcel versucht, Kontakt zu finden, aber "Die Madame entfernte sich, und ich blieb in meiner Einsamkeit zurück wie ein Schiffbrüchiger, der geglaubt hat, ein Schiff nähme Kurs auf ihn, nachdem es dann wieder verschwunden ist, ohne Anker zu werfen." Ein Bild, dass Proust noch nutzen konnte, für uns ist es inzwischen nur noch als Karikatur vorstellbar – das Subgenre der Schiffbrüchigenwitze – 2qm große Insel mit genau einer Palme.

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Sa, 26.8.06

Mit Hilfe vom Carsten Joost (inzwischen bekannt durch seine Inititative "Mediapree versenken") hatten wir vor Jahren bei einer Show spontan eine Stumm-Version von Schneewittchen synchronisiert. Ich stelle sie bei Youtube ein.

 

Meine Anfrage nach Motorbooten der Wasserschutzpolizei wird nichtbeantwortend beantwortet: "laut unseren Aufzeichungen wurde am 15.03.1947 auf Erlaß der Westallierten die ‚Waterpolice‘ u. a. auch für den Starnberger See gegründet. Seit dieser Zeit verrichten die Beamten der Wasserschutzpolizei ihren dienst auf den oberbayerischen Gewässern." Vor 1945 also nichts…

Abends reißt Jochen mit seinen Texten und seiner guten Laune die Kantinenlesen-Show.

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Zeitangabe: Jochen arbeitet drei Stunden an 20 Proust-Seiten. Ich arbeite drei Stunden an 20 Schmidt-Seiten.
Nachdem ihm am Vortag auf S. 811 der erste Druckfehler aufgefallen ist, unterlaufen ihm oder seinen Lektoren nun auf S. 105 gleich zwei:
"Ist denn der kampf (sic!) um Eu-Fördermittel noch ein dramatischer Stoff wie die Bodenreform für "Die Umsiedlerei" (Dieser Fehler bei einem Müller-Kenner muss Absicht oder Sabotage sein!).

Prousts Fähigkeit, "in die Ferne zu blicken", dabei doch so viel wahrzunehmen und später rekapitulieren zu können. Könnte fast eine Selbstbeschreibung Jochens sein. Oder ist Proust nicht mit Notizbuch rumgerannt?

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So, 27.8.06

S-Bahn-Fahrt zum Trainingslauf im Grunewald. Immer mehr Läufer steigen zu. In Ostbahnhof zwei Frauen. Eine sehr fett und unproportioniert, dass man ihr raten möchte ab und zu Sport zu treiben, sie redet von nichts als Sport und Laufen. Denke schon wieder, dass es diese Frauen sein werden, die mich später durch ihre Figur und ihr Tempo demütigen werden. Tatsächlich sehe ich eine von ihnen später wieder, sie hat sich ca. 2 Liter Getränke um ihren Wanst geschnallt und leidet nach 15 km, dass es ein Jammer ist.
Jochen wartet vor den Toiletten.
Brauche drei Stunden und es dauert bis zum späten Abend, bis mein Puls sich normalisiert.

 

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Auch Jochen Schmerzen. Aber am Abend noch "mit dieser blonden Zuschauerin" zu einem Tanzstück ins Dock 11. Dürfte FIGURE 8 RACE Remix gewesen sein.

Marcels "Verweile doch, du bist so schön"-Moment.

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Mo, 28.8.06

Jochen mailt, Kathrin Passig hat für die Chaussee zugesagt, da sie nun verstanden habe, dass er "der mit proust und der mit der chaussee" ist.
Seit Donnerstag stelle ich die Preisfrage, welche Filmfigur "Gustav von Bier" ist. Jede Woche lasse ich mehr Informationen durchblicken. Bis zum Jahresende schafft es niemand, da die Figur nicht zu googeln ist. August Bier, der deutsche Arzt, ist es nicht, auch wenn der Mailschreiber damit näher liegt, als er glaubt.

Immer noch Nackenschmerzen, die in den Kopf strahlen.

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"Wie bei jedem Buch, das einem gefällt, lebt man ja in der Illusion, es sei nur für einen selbst geschrieben." Unklar. Ich genieße das Wissen, dass sich Tausende andere Eingeweihter diesen Genuss teilen.

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23.8.-28.8.2006
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