Nachdem ich beim Kantinenlesen das Publikum ermahnt hatte, in dieser infektiösen Zeit schön darauf zu achten, sich nicht mit den Händen in Nase und Augen zu wischen, was viel gefährlicher sei, als sich vor dem Essen die Ende nicht zu waschen, hat es mich nun selbst erwischt. Ich alter Augenwischer. Außerdem fummle ich auch gern am Mikroständer rum. Hängt das miteinander zusammen? Ich weiß es nicht. Healthy Living, die Gesundheitszeitschrift für die Frau um die Dreißig, die ich da meine Freundin sie abonniert hat, mitlese, schreibt, lange Bettaufenthalte verzögerten die Genesung. Ich vermute, dass stressige Arbeit aber mindestens genauso schlimm ist. Entspannung und Bewegung, darauf kömmt es an. (Im Übrigen sollte ich ehrlich sein: Meine Freundin wollte die Zeitschrift schon mehrmals abbestellen. Ich riet ihr davon ab. So frauenlastig die Themen, so albern das Styling, so oberflächlich die Berichte, es finden sich doch immer wieder zwei, drei kleine Beiträge, aus denen man lernt. Oder auch nicht, siehe oben.

***

Mo, 25.9.06

Lade Kathrin Passig zum Kantinenlesen ein.
Stein sucht Duschke über Weber.
Ich werde von einer Besucherin per Mail ausgequetscht: "Bin außerdem nicht wirklich überzeugt, das man Improvisation lernen kann, entweder man ist schlagfertig und hat kreative Gedanken und diese noch dazu sehr schnell, oder eben nicht. Oder liege ich da falsch?." Ich antworte: "Dass man Improvisation lernen kann, sehe ich immer wieder – auch wenn es sicherlich wie überall mehr oder weniger Talentierte dafür gibt. Der Witz ist: Wir improvisieren sowieso ständig – in jedem alltäglichen Gespräch. Improvisation lernen heißt nichts weiter, als die Barrieren, die einen hemmen wegzuräumen und auf den kreativen Fluss zu vertrauen." – Vielleicht etwas vereinfacht, denn das Handwerk der jeweiligen Kunst – in unserem Fall Schauspiel und Storytelling – muss man ja auch lernen.
Ausrede bei einer Ebayversteigerung, ich hätte wegen einer Verletzung die Platten nicht früher versenden können. Kann mich, wenn ich so etwas schreibe, eines gewissen Aberglaubens nicht erwehren.

Ich müsste D. endlich den Geburtstagsbrief schreiben. Bei den letzten Malen glaubte ich immer wieder zu erkennen, wie fremd ihm hier alles geworden sei. Und natürlich hat man als Weggereister immer das Gefühl, zuhause habe sich nichts geändert, man sich selber aber schon.
Ich stehe vorsichtig auf und gehe eine Etage höher auf Toilette. Es schmerzt so gut wie gar nicht. Es ist zwar eine ordentliche Belastung, aber eher wie nach harter Arbeit, so als hätte ich am Tag zuvor beim Umzug geholfen. Ein Lob dem Franzbranntwein.
M. kann für die nächsten Monate kein Improtheater mehr spielen. C. hat sich zurückgezogen. Diskussion, ob man sich nun zur Amateurszene hin öffnet oder die verbleibenden Kräfte nutzt, um voranzukommen. Schwierig wird die Diskussion dadurch, dass die Positionen geradezu ideologisch vorgetragen werden, die gegenseitige Abgrenzung scheint wichtiger als die gemeinsame Lösung. Angenehme Pantomime-Probe zu viert. Am besten sind wir, wenn wir produktiv sind. Bartuschka feilt an meinen Mädchenhaftigkeiten in der Pantomime – der kleine Finger, etwas zu weiche Bewegungen, zu forcierter Tock, die die Bewegung clownesk erscheinen lässt. Außerdem Details: Auch ein Schlüssel hat ein Volumen. Zwei Varianten des Auf-der-Stelle-Gehens, Treppensteigen, Wiederholung der "Mauer". Varianten des Tür-Öffnens.

*

Jochen ärgert sich auf amüsante Weise über den Film "Das Parfüm", ohne ihn zu nennen. Er wirft der Geschichte Vorhersagbarkeit vor. Ich glaube, es ist eher das schlechte Timing und mangelndes Selbstvertrauen – einerseits klebt er sklavisch an der Romanvorlage und hakt hektisch die Handlungsstationen ab, dann wieder will er ihn zusätzlich aufpeppen und referiert wieder und wieder auf den ersten Mord. Die bunte üppige Ausstattung kann nicht viel retten. Dustin Hoffman macht sich seit Jahren nur noch zum Clown. J.S.: "Man hätte bei der Ausstattung viel Geld sparen können, denn daß man sich in "Frankreich" befand, wurde ja, wie immer in deutschen Synchronfassungen, schon aus der Tatsache deutlich, daß die Töchter ihre Väter "Papá" nannten."
Dass das Allegretto in der 10. Sinfonie einer der abgründigsten Sätze von Schostakowitsch sei, bezeichnet Jochen als "Nutzloses Wissen". Ist denn nicht allein das Nutzlose schön?

Die Beschreibung der Pariser Salons langweilt also Jochen. Man hatte darauf fast gewartet…

***

Di, 26.9.06

Verkaufe nun auch liebgewonnene CDs bei Ebay, beginne mit 15 Stück, sie nehmen nur Platz weg, es gibt andere Möglichkeiten der Aufbewahrung…
Bohni anscheinend der Einzige, der noch nie eine Bahngeschichte geschrieben hat.
Pinnacle Studio hat zwar eine Handvoll netter Features wie die Szenen-Erkennung, aber es frisst dermaßen viel Arbeitsspeicher, dass normales Arbeiten kaum möglich ist. Sicherungskopie nicht wiederherstellbar.
Vergesse meinen Termin bei der Pass-Stelle.
Guter Tritt beim Radfahren. Marathonschmerzen kaum bemerkbar.
Essen unter Freunden von Freunden. X verlässt nach ein paar negativen Sprüchen den Raum, angeblich, so S, weil dieses Gespräch eines sei, das er nicht dominieren könne.

*

Sie sei gern allein. J.S.: "Das war ich bis vor kurzem auch."

Die langwierigen Namedropping-Passagen bei Proust seien nur dazu da, unter den Lesern die Spreu vom Weizen zu trennen, "wenn man uns dafür mit einem kleinen Satz belohnt, nicht einmal einem besonderen Satz, nur einem schlichten und wahren Gedanken". Was wäre dann der Unterschied zu einem Autor, der seine Aphorismensammlung in einem Telefonbuch versteckt?
Redewendungen seien wie eine Krankheit, z.B. O-Saft, "auf jeden" und "an Ostern". Letzteres aber eine regionale Wendung. Man wird nur fuchsig, wenn solche Wendungen die anderen verdrängen. Manchmal benutzt man ja schon in einer Art vorauseilendem Gehorsam das "Viertel vor Acht" statt "Dreiviertel Acht", einfach weil die meisten Anwesenden einen sonst nicht verstehen würden, oder man deren Fragen erklären müsste. Anpassung wird so zur Sprecheffizienz. Vielleicht aber reagiert man ja nur auf die Verdrängung der eigenen Sprache verärgert und nimmt die Breschen, die das Hochdeutsche in Süddeutschland schlägt, gar nicht wahr.

***

Mi, 27.9.06

Arbeite von 9 bis 18 Uhr am Film "Business in Mallorca", unterbrochen nur vom Mittagessen und ein paar Dehnübungen.
Show im Zebrano fällt aus. Wenn’s schon knirscht, dann richtig.

*

Antisemitische Stimmung im Salon. Dilemma, ob der Jude Bloch, der so viel für den Salon bedeutet, weiterhin eingeladen werden soll. Alle reden, außer Marcel, dem man die Antworten aus dem Munde nimmt, da man befürchtet, das Gespräch gerate ins Stocken.

***

Do, 28.9.06

Ein Japaner ersteigert 26 Vinylplatten, ohne zu wissen, wieviel der Transport kostet. In den folgenden Wochen gehen diese Platten mehrmals um den Globus wegen eines Schreibfehlers in der Adresse.
Zusage vom Bayrischen Haus Odessa für den Improtheater-Workshop. Sie wollen einen detaillierten Lehrplan. Scherzkekse – ich weiß ja nicht einmal, wie gut die Studenten sind. Alteuropäisches Erziehungssystem – der Lernende als Trivialmaschine. Ich buche meinen Flug.
Eine jener Ulkigkeiten, die meine Biographen nachdem ich tot bin, bestimmt nicht mehr rekapitulieren können, wird der Umstand sein, dass ich mich immer nur mit vorläufigen Reisepässen durch die Länder dieser Welt schlug. Den einzigen dauerhaften Pass bekam ich im November 1989 von den DDR ausgestellt, optimistisch mit dem Auslaufdatum November 1999 versehen.
Ein außerordentlich guter und gut besuchter Abend bei der Chaussee, trotz meiner eher mickrigen Geschichte. Die schönen Abende verschmelzen irgendwann auch zu einem Gesamteindruck. Es wird immer schwieriger, sich darauf zu konzentrieren, wie schön der Abend gerade ist. Irgendwann werden wir dieser Zeit hinterhertrauern.

*

Kinder seien eher als Erwachsene zu spielerischer Abstraktion fähig. "Mit Sand und zwei Stöckchen kann man "Nudeln-mit-Tomatensauce-und-Hustenbonbons-Essen" und Zähneputzen spielen, und es wirkt nicht unrealistischer, als in der Kirche in Gestalt einer Oblate Jesus zu verspeisen." (Finde das Stilblütchen)
Die Trägheit, Abstraktionen überhaupt nur mitzudenken, erleben wir am Schlimmsten im Fernsehen. Aber auch beim Improvisationstheater gibt es immer wieder Zuschauer, die sich veralbert vorkommen, wenn nicht alles 1:1 nachgespielt wird.

Marcel erbt von Onkel Adolphe die Aktfotosammlung, die dieser seinen Eltern nicht schicken wollte, aber eben auch nicht dem Sohn. Ich hatte keinen Onkel und besitze auch keine Aktfotosammlung, die ich meinem Neffen vererben könnte, nur ein Autogramm auf einem Foto von Eva-Maria Hagen, sie ist auf dem Foto jünger als ihre Enkelin heute.

***

Fr, 29.9.06

Der Japaner kommentiert jeden einzelnen Schritt der Transaktion per Mail und will auch über meine Schritte minutiös informiert werden. Ich wäre ja bereit dazu, wenn er nur verständliches Englisch schreiben oder einfaches Englisch verstehen würde.
Mit dem Rad in die Harzer Straße, wo ich den Mietvertrag unterzeichne – ein Schlussstrich unter das Leben im Friedrichshain. Die Verwaltungsangestellten und überhaupt die ganze Atmosphäre wieder unangenehm. Man wird im Vorzimmer abgefertigt. Und das auch noch im Stehen. Kein gemeinsames Gespräch am Tisch. Der Empfangstresen wie eine Abwehrbarriere. Als ob Freundlichkeit was kosten würde.
Stelle den Mallorca-Film bei YouTube ein.
Ziel-Video-Clip vom Marathon. Obwohl ich mich viel positiver gefühlt habe, sehe ich da auch nicht besser aus als beim letzten Mal – ein x-beiniger, kranker Storch.
Sorgenvoll gehe ich ins Bett und werde von meiner schlafenden Gefährtin weggekickt.

*

J.S. über Mark Benecke: "Wie anregend neugierige Menschen sind!"

Ende von Marcels Salonbesuch. Ein windiger Bursche namens Charlus hakt sich bei ihm ein und führt "abscheuliche und an Wahnsinn grenzende Reden". Berührt ihn am Kinn und rät ihm zur Rasur. Hochstatusgesten.

***

Sa, 30.9.06

Unruhig wie ich einschlief, erwache ich. Die Freundin und die Jugendlichen draußen machen Geräusche. Stehe früh auf, frühstücke, Zeitung ist noch keine da. Lese ein altes Didedags-Mosaik-Heft. Ein Gag im letzten Heft: In Bobs Krankenzimmer heißt ein Zimmergenosse mit strubbligen Haaren Marc Bolan.
Kaufe den Laptop (auf dem ich heute – Oktober 2008 noch schreibe) für 453 Euro von einem überparfümierten Katzenhalter in Marzahn, wo ich ihn Tage später selbst abhole. Der Kauf von Second Hand Produkten über Ebay und früher "Zweite Hand" hat mich in Berliner Wohnungen geführt, die ich sonst nie betreten hätte. So müssen sich Klempner und Zähler-Ableser fühlen. Die kann nichts mehr schocken.
Treffen zum gemeinsamen Essen. XY erwartbar negativ und emotional aufgeladen. Als sie im Gehen auf dem Flur für sich aber laut und vernehmlich sagt: "Wieder drei Stunden Lebenszeit!", wissen wir, es ist für sie vorbei. Welche Respektlosigkeit gegenüber den anderen! Welcher Mangel an Eleganz beim Abgang!
Nach dem Kantinenlesen Diskussion mit … über Sterilisierung beim Mann. Er hätte es fast gemacht. Ich winde mich schon beim Gedanken.

*

Über die Schwierigkeit, Komplimente anzunehmen. Komplimente, die beleidigen. Komplimente-Verteiler, die man in Zukunft enttäuschen muss. Loben, wie schon vor ein paar Tagen hier erwähnt, ist eine der fünf Sprachen der Liebe. Anscheinend ist man für diejenigen Sprachen auch empfänglich, die man selber gut beherrscht. Das Irritierende war für mich früher immer, dass ich nicht wusste, wie ich darauf antworten sollte. Man hatte den Lober im Verdacht, etwas bezwecken zu wollen. Auch heute noch bemerke ich an mir den Reflex, mich herauszuwinden, vor allem wenn ich für Äußerlichkeiten gelobt werde. Dabei ist es so einfach. Wenn man "Danke!" sagt, sind alle glücklich. Schwierig auch, wenn man für Dinge gelobt wird, mit denen man selber nicht recht zufrieden ist, z.B. mit einer mäßig gelungenen Show. Aber warum dem Zuschauer die Unzufriedenheit mit Details auf die Nase binden? Warum seine Freude zerstören? Auch hier genügt ein "Danke". Wenn man es eine Weile geübt hat, macht es sogar Spaß.

In der Krankheit sei der Körper der taube Feind, dem man nicht zureden könne. Eine der schwächsten Beobachtungen Prousts bisher. Denn wenn er das sagt, hat er es offenbar noch nicht einmal ernsthaft versucht. Aber warum sollte er es tun, wenn er ihn so oder so als Feind betrachtet?

25.9.-30.9.06
Markiert in:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert