Sa, 7.10.06

Anfrage von einem Wrestler, seine Truppe in Schauspiel, Lockerheit und Improvisation zu coachen. Ich sage zu.
Mich will eine gewisse Nervosität wegen des Odessa-Kurs nicht verlassen. Ich sehe immer mehr, dass mein Russisch-Vokabular bei weitem nicht ausreicht, um schnell und spontan die richtigen Anweisungen zu geben. Falls nun nicht genügend Leute englisch verstehen, werde ich die Hilfe der Dolmetscherin in Anspruch nehmen müssen und kann nur verzögert reagieren. Vielleicht ist es aber auch für mich ein Training, mich mehr zurückzuhalten.

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J.S.: "Die Intensität von Kinobildern, immer eine Provokation für die Wirklichkeit, die daneben wirkt wie eine zwar durchaus ähnliche, aber ungleich weniger attraktive Schwester." Möglicherweise ist es dieser Film, den er den Enthusiasten so dringend empfiehlt: "sehr zu empfehlender film: "science of sleep", gibts keine ausreden.
Erstaunlich das Selbstbewusstsein als Opinion Leader, dessen Geschmacksurteil keiner Begründung bedarf als die, dass es eben von Jochen Schmidt stammt. Da werde ich wohl meine Reise nach Odessa verschieben müssen, denn die zählt ja als Ausrede auch nicht.

Marcel im Salon der Madame de Guermantes vertieft sich in die Sammlung der Bilder des Malers Elstir und vergisst die Gesellschaft, die eine Dreiviertelstunde mit dem Essen auf ihn wartet. Eine solche Höflichkeit sucht man im Schusterjungen vergebens. Aber wessen Höflichkeit ginge so weit, kaltes Eisbein zu essen? Im Salon gab es bestimmt nur Kuchen.

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So, 8.10.06

Schlage vor, das Kantinenlesen zur Nichtraucher-Veranstaltung zu machen.

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J.S. "Die große Therapie ist ein Mythos. (…) Man muss an seiner Therapie arbeiten."

Marcel bemüht sich, die Details der aristokratischen Etikette zu verstehen.

J.S.: Es entbehrt "nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet Proust verkündet, dass Verzicht die Qualität eines Buchs ausmacht, denn seit ungefähr vierhundert Seiten hat er bestimmt auf kein Detail mehr verzichtet."

Erstmals erkenne ich ein Objekt aus der Liste "Unklares Inventar", die Jochen bei der Lektüre führt: "Prinzessin Budrulbudur". Dies ist nur eine andere Schreibweise für "Prinzessin Badr el-Budur", nämlich die Prinzessin, in die sich Alâ ed-Dîn verliebt. Also genau jene Geschichte aus den "Tausendundein Nächten", die ich zugunsten dieses Lektüreblogs unterbrochen habe.

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Mo, 9.10.06

Unruhige Nacht. Ich wache immer wieder zwischendurch auf und denke, es sei zu spät. Selbst als ich auf die Uhr schaue. Eine seltsam negative Aufgeregtheit. Selbstverständlich, als ich dann 5.30 Uhr, eine Stunde vorm Losgehen, aufstehe, bin ich völlig übermüdet. Versuche, mich zu konzentrieren. Die zeitlich Effizienz verlangt mal wieder Multitasking. Es ist unangenehm kühl. Ich frühstücke im Bademantel. Höre Radio Eins – "Der schöne Morgen" läuft also schon schon vor 6.00 Uhr. Mit dem Leben der beiden Moderatoren möchte ich auch nicht tauschen, obwohl ich sie beneide. Die ganze Show über denke ich, was ich anders machen würde. Ihre langweilig-ungebildete und selbstbezogene Art nervt.
Reflexhaft noch mal E-Mails. B. erbittet Fotos. Tue ihm den Gefallen. Den Rest einpacken. Ich stolpere von einer Kleinigkeit zur anderen, obwohl es gar nicht so viele Dinge sind. Wie jedes Mal. Es ist nicht gut, so früh aufzustehen, zu verreisen, zu fliegen.
In der Dunkelheit zum Bahnhof Warschauer. Es ist kalt. Mich schauert bei dem Gedanken an die feuchten Berufsverkehr-Menschen am Ostkreuz. Tatsächlich hat sich die Atmosphäre nicht geändert. Es riecht zum Teil noch so: dick aufgetragenes Parfum, das die unhygienischen Nächte übertünchen soll, jeder Zweite auf dem Bahnsteig raucht. Und auch für mich wäre das vor Jahren ein Rauchmoment gewesen. Ich spüre für einen Moment dem Reflex und der Erinnerung an diesen herb-aromatischen Vergiftungsgeschmack nach.
taz-Lektüre bis Beusselstraße. Bahn doch leerer als befürchtet. Sitzplatz für mich und den Rucksack. Die Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau ermordet. Donath deutet es als Zeichen dafür, dass die Demokratie untergeht. Die Bevölkerung lethargisch, die politische Elite korrupt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Mob übernimmt.
Check In, überbrücke das Boarding in einem bayrischen Imbiss mit Wasser und schlechtem Kaffee.
Bin der Einzige, dessen Laptop kontrolliert wird.
Rumpelige Maschine nach Prag. Schlechtes Sandwich, schlechter Nescafé. Und natürlich wie überall zu enge Sitze.
Lockere Kontrolle in Prag, schaue aus den Fenstern, tippe dieses Tagebuch und genieße den Sonnenschein.
Das Flugzeug nach Odessa überrascht mich mit Beinfreiheit. Das allein genügt schon, um alles in mildem Licht erscheinen zu lassen.
Neben mir wieder die zwei schwulen Laberköppe von vorhin, die sich nicht einig darüber waren, ob Odessa nicht doch in Moldawien liege. Einer ist Violinist und die Noten des Mozartschen Violinkonzerts KV 207 liegen auf dem Sitz. Ich spreche ihn an, er spielt sogar in Berlin.
Glücklicherweise verdränge ich es immer wieder – aber ich habe bei Start und Landung auch jedes Mal ein bisschen Absturzangst. Als es in der wackligen Maschine beim Anflug auf Prag anfängt zu ruckeln, beruhigt mich nur das Lächeln der anscheinend absichtlich sichtbar mit dem Gesicht zu den Passagieren sitzen müssenden, Stewardess.
Beim Anflug auf Odessa düsen wir durch malerische Wolkengebirge. Sehr schön anzusehen. Beim Aussteigen bleibe ich vor dem Flugzeug stehen und schaue mich um. Zum ersten Mal seit über zwölf Jahren auf ukrainischem Boden. In einem uralten Hänger, der von einer ebenso alten Knattermaschine gezogen wird, von der ein Deutscher kennerhaft und glaubwürdig behauptet, sie sei aus den 50er Jahren werden wir die 100 Meter zu ollen Flughafengebäude geschafft. Die altbekannten russischen Provisorien. Pseudo-Absperrungen, Tarnanzüge der Sicherheitsleute, das Gepäck wird seltsamerweise durchleuchtet und bei einigen dann auch durchsucht.
Ich latsche mit meinem Kram einfach durch. Die Halle hat eher etwas von einem Provinzbahnhof. An der Tür hinter der Zollabfertigung drängeln sich Familien, kundenerhoffende Taxifahrer, und Profi-Abholer, so wie meiner, der Juan heißt – ein kleiner Kubaner, Mädchen für alles am Bayrischen Haus. Wir unterhalten uns im wechselnden Spanisch-Russisch-Englisch-Deutsch-Kauderwelsch.
Sowjetische Straßen, sowjetische Fahrweise. Die ukrainischen Aufschriften überall müssen die Russen hier hinnehmen.
Er fährt mich zu Tanja, wir biegen in einen Hof auf einer der Hauptstraßen und es ist hier dermaßen zerfallen, wie ich es in den schlimmsten 80ern erwartet hätte – furchtbar verfallener Weg, jedes Teil ist nur notdürftig festgemacht, keinerlei Ambition, etwas zu ändern ist zu erkennen. Dasselbe setzt sich in der Wohnung fort. Ich wohne im Dachgeschoss, dass mit einer Art Leiter zu erreichen ist. Die Decke durchzogen von Nässeflecken, Pressspanverkleidungen, Kram der rumsteht. Wie würde sich mein Hang zur Verwahrlosung auswirken, wenn ich hier aufgewachsen wäre? Die Tür kann man nur schließen, wenn man das Kabel vom Fön dazwischenklemmt. Ich bekomme diese Wohnung, da M. sich gewünscht hatte, lieber privat zu wohnen.
Teetrinken mit T., Smalltalk. Sie wirkt in allem, was sie sagt, angepisst oder verbittert.

Sie und später auch Natalia im Bayrischen Haus betonen immer wieder, wie toll das im letzten Jahr mit M. gewesen sei. Ich nehme es fast als Drohung wahr: Wehe, wenn es diesmal nicht genau so abläuft.

*

Der falsche Film, die Lautsprecher rauschten, der Ton falsch justiert. Scheiterte daran das Kennenlernen?

Der Gegenclan der de Guermantes, die Courvoisiers, hätten nicht die "Feinheit des Gehörs", um Imitationen genießen zu können.

7.10.-9.10.06
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