Die Debatte über die Wirtschaftskrise mutet an wie ein Kasperletheater. Mit einem Mal sind alle wieder Keynesianer, die Konservativen in Deutschland schauen gern auf den guten alten Ludwig Ehrhardt zurück, die Linken haben’s schon immer gewusst, und nur ein paar versprengte Häuflein Marktradikaler behauptet, das Problem seien überhaupt nur die noch immer zu häufigen staatlichen Regelungen.
Das Wirtschaftssystem der Gesellschaft hat einen ungeheuren Drang zu expandieren, immer mehr gesellschaftliche Zusammenhänge werden ökonomisiert, d.h. zu einer Sache von Zahlungen gemacht. Wir können das beispielsweise im Gesundheitssystem ablesen: Wer brav seine Beiträge an die Krankenkasse zahlt (oder auch das Arzthonorar) glaubt oft, schon allein dadurch einen Anspruch auf Gesundheit erworben zu haben. Der Rat des Arztes, sich mehr zu bewegen, wird nicht mehr ernstgenommen. Ich habe bezahlt, also will ich gefälligst Tabletten, und zwar die besten, also die teuersten. (Der Placebo-Effekt teurer Tabletten ist enorm.) Ähnliches ließe sich fürs Erziehungssystem zeigen, teilweise auch für die Wissenschaft. Das politische System immerhin ist soweit immunisiert, dass Zahlungen an Politiker zumindest dann als Skandal angesehen werden, wenn sie mit konkreten wirtschaftlichen Entscheidungen verbunden sind. Wo hier die Schmerzgrenze liegt, ist unterschiedlich. In den USA wurde das Thema der "special interest" erst im letzten Präsidentschaftwahlkampf wirklich deutlich, allerdings finanzieren Großkonzerne und Verbände weiterhin die Wahlkämpfe von Abgeordneten. Und wer gerade mal mit 52% der Stimmen Abgeordneter geworden ist, der überlegt sich schon genau, wie er bei einem Gesetz zur Verschärfung des Waffenrechts stimmt, wenn die NRA ihm möglicherweise die finanzielle Unterstützung entzieht.
Der Expansionsdrang aber schwächt kurioserweise die Fähigkeit des Systems, sich seiner Funktion, Knappheit zu regulieren. Der Markt gilt seit den alten Ägyptern doch wenigstens als einigermaßen verlässliches Mittel. Verlässlicher als korruptionsanfällige Zuteilungen und z.B. jene Fünfjahrespläne, die zugleich verschwenderisch, ineffizient, visionslos und mangelbelastet sind.
Doch die Art und Weise, wie die Märkte operieren, wie sie organisiert sind, macht sie anfällig für gravierende Erschütterungen. Zunächst einmal in kurz- und mittelfristiger Sicht: Was in den letzten Jahren an Finanzderivaten entstanden ist und was diese gesamtwirtschaftlich als auch betriebswirtschaftlich auslösen, lässt sich vom einzelnen Wirtschaftssubjekt überhaupt nur noch begrenzt kalkulieren. Die immer wieder aufsteigenden und absehbar platzenden Spekulationsblasen sind vielleicht sogar ein noch schöneres Beispiel dafür, wie das Marktprinzip unterlaufen wird, welches ja so funktionieren soll, dass jeder Marktbeteiligte nach seinem Eigennutz handelt, und am Ende alle besser dastehen. Die Spekulationshypes drehen dieses Prinzip um: Jeder handelt für den Moment rational, am Ende ist alles schlimmer. Aber nicht nur für den Einzelnen, auch nicht nur für die verschiedenen, am Prozess der Finanzierung überbewerteter Investitionsgüter Beteiligter, sondern auch Individuen, die mit all dem überhaupt nichts zu tun hatten, also sagen wir: die Tochter des Angestellten eines Zulieferer-Unternehmens von Opel. Keynes hatte schon recht mit seiner Betonung der psychologischen Prozesse beim wirtschaftlichen Handeln. So wie es optische Täuschungen gibt, täuschen wir uns auch bei mathematischen Zusammenhängen, also den Grundlagen für finanzielles und wirtschaftliches Handeln. Schönes Beispiel: Man lasse eine Gruppe von Leuten bei kurzer Bedenkzeit von ca. 5 Sekunden das Ergebnis von 2x3x4x5x6x7x8 schätzen (Na? Schnell ein Selbstexperiment gefällig? Schätzen, und Ergebnis im Kopf behalten), eine Gegengruppe das Ergebnis von 8x7x6x5x4x3x2. Die erste Gruppe wird sehr wahrscheinlich das Ergebnis wesentlich niedriger als die zweite Gruppe schätzen. Für das Ergebnis die grüne Fläche markieren.40320 Ein weiteres, eher ökonomisches Beispiel: Bei den Berliner Lesebühnen ist es üblich, dass die Autoren am Eingang ihre Bücher zum Verkauf anbieten. Interessant ist aber, dass die Zahl der verkauften Bücher abnimmt, je mehr verschiedene Exemplare angeboten werden – zuviel Wahlmöglichkeit hemmt den Käufer. Dennoch ist es für den einzelnen Autoren individuell gesehen rational, sein Buch auch noch hinzulegen, wenn da schon mehrere Bücher der anderen Autoren liegen. Wie bei der Überfischung von Gewässern muss der einzelne Fischer immer noch mehr zur Zerstörung der ökologischen Balance beitragen, wenn er nicht draufgehen will. Ähnlich wie bei optischen Täuschungen sind wir auch bei wirtschaftlichen Zusammenhängen oft nicht in der Lage zu lernen. D.h. wer eine wirtschaftliche Entscheidung trifft, wird sich wider besseres Wissen irrational verhalten, einfach weil es für ihn die rationalste Entscheidung ist.
Ich deutete es eben schon an – der Markt versagt nicht nur bei seiner mittelfristigen Aufgabe, Knappheit zu managen, sondern vor allem auch langfristig. Jeder weiß, dass das Klima bedroht ist von zu hohem CO2-Ausstoß, jeder weiß, dass die fossilen Brennstoffe zur Neige gehen. Doch dies drückt sich so gut wie gar nicht durch den Markt aus. Die kommenden Generationen sind als Marktteilnehmer nicht vorhanden, und selbst wenn – würden sie denn wirklich heute Energie sparen, um nächstes Jahr besser leben zu können? Welchen Zeitraum braucht der Markt in seiner jetzigen Organisiertheit, um auf Knappheiten reagieren zu können? Ich weiß es nicht, aber sicherlich weniger als 10 Jahre. Selbst der wirtschaftsliberalste Liberalo wird konzedieren, dass es keinen schrankenlosen Markt geben kann. Schon die rechtliche Bindung eines Kaufvertrags erfordert den Staat, der notfalls die Vertragspartner zur Erfüllung bzw. Haftung zwingt. Die Frage ist nur – was soll politisch reguliert werden undwie soll der Staat regulieren?
Man könnte sich darauf verständigen, dass es einer Regulierung dort bedarf, wo die Risiken des wirtschaftlichen Handelns derartige Ausmaße angenommen haben, dass sie die Gesellschaftssysteme, vor allem aber das Wirtschaftssystem als solches gefährden. Ob die Beschränkung der Managergehälter da so ein gutes Mittel ist, möchte ich bezweifeln. Das ist nur eine Placebo-Pille für die Sozialdemokraten, die das irgendwie ungerecht finden, dass jemand so dermaßen viel Geld kassiert. Wichtiger wäre es aber, von der anderen Seite zu beginnen, nämlich Vorstände und Manager wieder in größerem Maße für ihr wirtschaftliches Handeln haftbar zu machen. Aber auch dies reicht nicht aus, denn wir stünden höchstwahrscheinlich vor demselben Schlamassel, denn sie handelten ja oft (s.o.) rational, im Rahmen der Möglichkeiten. Die Spekulation mit hochriskanten Finanzprodukten muss eingeschränkt werden. Diese Risiken sind kaum überschaubar und lösen gleichwohl gigantische Erschütterungen aus.

Schön anschaulich für den amerikanischen Immobilienmarkt, dieser kleine Zeichentrickfilm.
 

Außerdem müssen die Knappheiten, über die das Wissenssystem der Gesellschaft (=Wissenschaft) früher bescheidweiß, auf den Monitoren des Wirtschaftssystems sichtbar werden. Das Allerdümmste hier sind Appelle der Politiker, die niemandem etwas nutzen außer den Politikern. Was soll also ein Auto-Hersteller mit dem Appell anfangen, ausstoßärmere Autos zu produzieren? Bestenfalls wird er sagen: Schön und gut, aber wir sind ja keine Wohlfahrtsorganisation, sondern wir wollen Autos verkaufen, und der Verbraucher ist eben nicht bereit, mehr Geld für CO2-arme Autos zu bezahlen. Der Politiker kann wiederum auf die bösen Automobilhersteller mit dem Finger zeigen, der einfach nicht auf die wohlmeinenden Appelle hören will (ähnlich wie der böse, böse Manager, der ja so gierig ist). Schön für den Politiker, dessen Gewissen sauber bleibt, den er hat ja schließlich appelliert.
Die einzige Sprache, die das Wirtschaftssystem versteht, sind Zahlungen bzw. rechtliche Vorschriften des wirtschaftlichen Handelns. Die Politik hat also zwei Möglichkeiten – entweder über steuerliche Anreize bzw. Belastungen der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen oder über rechtliche Vorschriften die Wirtschaft um einige Handlungsoptionen zu berauben – die Produktion ökologisch schädlicher Produkte, die riskante Jonglage mit explosiven Finanzpäckchen. Bzw. umgekehrt das gewünschte Ergebnis zu stimulieren.
Jeder Bürgermeister muss sich in einem einigermaßen funktionierenden politischen System der Wahl stellen. Und doch steht außer Frage, dass die Handlungen des Vorstands der Deutschen Bank schon jetzt oft gravierender sind als die des Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes. Das Wirtschaftssystem wird durch die andauernde Auslagerung seiner Kosten und der Privatisierung der Gewinne af Dauer delegitimiert. Dazu später mehr.

Dan Ariely über unsere Selbsttäuschungen: Are we in control of our decisions?
 

***

Morgenimprovisation mit Stephen. Ich improvisiere am Gitarrenbass von Greg über das Riff von "Forest" von The Cure. Wahrscheinlich das erste Mal, dass ich mit Stephen musikalisch improvisiere.
Noch einmal spaziere ich durch die Wohnung. Hochzeitsfoto von Leslie und Stephen – schöne 70er Hippies.
Auf der Fahrt in die Stadt muss Stephen noch ein Päckchen bei der Post abgeben, die Poststation ist das einzige Gebäude in diesem Ortsteil. Wie im Western. Wir warten im Auto. Als Stephen wieder herauskommt und uns weiterchauffiert, wirkt er nachdenklich. Dann rückt er mit der Sprache raus: Die Post-Dame ist so scheißfreundlich zu ihm, das er es kaum ertragen kann. Er vermutet, das habe damit zu tun, dass er im letzten Jahr für Obama geworben hat, während sie eine stramme Republikanerin ist. Ich frage, ob es Steve lieber wäre, wenn sie unfreundlich zu ihm wäre. Er zuckt die Schultern. Ein wirkliches Dilemma für einen Buddhisten.
Schon am Vortag spiele ich in Stephens Auto mit einem unglaublichen Gerät – dem Kaossilator. Der Kaufreiz liegt nahe. Aber es ist ja doch so, wie Stephen es in seinem Buch schon beschrieben hat – wir glauben viel zu oft, dass uns zur künstlerischen Perfektion noch dieses Instrument oder jenes Gerät fehlte, aber es sind immer wir selber. Ich will mich nicht schon wieder mit einem Kaufakt beruhigen und mir dadurch einreden, ich wäre der kreativen Vervollkommnung dadurch näher. Besser wäre es da schon, Klavier zu üben. Heute im Auto Kurt Schwaen. Wer weiß – vielleicht das erste Mal, dass dessen Musik in Virginia erklingt.
Gegen Mittag in der Stadt, um die Uni zu besichtigen, die von Jefferson entworfen wurde. Jefferson, so verstehen wir allmählich, war ein Tausendsassa, der sich mit allem beschäftigte, was ihm unter die Finger kam, und alles wurde gut. Ähnlich wie bei uns Goethe. Und beide hatten eben auch ihre Spezialgebiete. Über Goethe den Politiker wollen wir heute gar nichts mehr wissen und seine wissenschaftlichen Beobachtungen dienen eher der Dekoration seiner Literatur als umgekehrt.
Jefferson also war einer von drei verschiedenen Präsidenten, die in Charlottesville, Virginia gelebt haben. Unter Wikipedia ist als einziger mir einigermaßen bekannte lebende Promi Stephen Malkmus genannt.
An der Tankstelle. Stephen steigt zum Tanken und Bezahlen aus. Vor uns ein höchstens Sechzehnjähriger, der den Tank eines Geländewagens auffüllt. Unglaublich. Ich filme ihn, und als er in unsere Richtung schaut, drehe ich die Kamera weg, so als wäre das weniger auffällig, ähnlich dem peinlich berührten Wegschauen.

 

Noch einmal Improvisieren mit Mecca & Brad. Sie wollen Playback Theater aufführen. Eine Gruppe von Militärs. Am Anfang wird das ethische Problem diskutiert. Was sollen wir schon dazu sagen? Entweder man hält es für einen Job und lässt sich kaufen oder es ist inakzeptabel. Aber wo liegt die Grenze?
Wir hatten Playback Theater vor ein paar Wochen schon in Berlin gesehen. Die Schwierigkeit liegt wohl darin, die Geschichten der Zuschauer ernstzuehmen und nicht im lustigen Einerlei abzurutschen, was hier besonders heikel ist, da die Zuschauer sich ja sehr öffnen, andererseits darf es nicht zu pathetisch daherkommen. Einen Riegel schieben hier in gewisser Weise die strikten Formen vor, die sowohl Kaspereien ausschließen als auch fettes Pathos. Dennoch fehlt mir etwas bei dem, was ich sehe. Eine Spannung, eine künstlerische, schauspielerische Kraft. Mir scheint, die drei lassen sich etwas zu sehr vereinnahmen von dem, was sie hören, interpretieren schon zu viel hinein, sind zu betroffen, Fokus fehlt. Im Grunde müsste man als Schauspieler das brechtisch angehen, in dem Sinne, das man fast emotionslos darstellt, oder selbst die Emotionen eher "zeigt", nur eben ohne den didaktischen Besserwiss-Gestus. Auf jeden Fall ist diese Form auch künstlerisch interessant – einmal wegen ihrer Abstraktionen, zum anderen wegen der sehr speziellen Einbindung des Publikums. Es erfordert eine schwierige Balance zwischen unbedingter Hingabe und Zurücknahme des Ego, also künstlerische Tugenden.
Leslie hat sich beim Karate ausgepowert. Nun ein Abschiedsessen zu viert in einem wunderschönen Restaurant. Nur die Musik nervt wieder mal. Ich wende nochmal meinen Trick an, bei der Kellnerin die Musik zu loben, mich danach zu erkundigen, und erst dann zu bitten, sie trotzdem leiser zu machen. Leslie und Stephen erklären mir, bei welcher Internetradiostation ich diese Art von Musik finden könne. Sie lachen, als ich ihnen erkläre, dass mir die Musik doch schnuppe ist, solange sie hier leise gespielt wird.
Man empfiehlt uns:
Film: The Impostors
Die Sci-Fi-Bücher "The gone-away war" von Nick Harkaway
                "Snowcrash" von Neil Stephenson.
Am Abend herzliche Verabschiedung von Leslie.
Alle sind wir müde. Aber ich gehe noch mal die Bücherreihen durch. Mindestens vier Meter Science Fiction Shortstories. Und unwillkürlich denke ich das, was ich sonst belächle, wenn ich das gefragt werde: "Hat sie die wirklich alle gelesen?"

 

22. April 2009
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