Ich habe seit fünfundzwanzig Jahren keinen Fernseher mehr. Seit einem Jahr habe ich meinen Nachrichtenstrom noch weiter gezügelt. Politische Informationen erhalte ich aus zwei Wochenzeitungen – einer deutschen und einer englischen – sowie den mittäglichen Drei-Minuten-Radionachrichten. „Aber du musst doch auf dem Laufenden bleiben“, rufen meine Freunde. Wie unwichtig es ist, auf dem Laufenden zu bleiben, wenn man nicht gerade Berufspolitiker ist, habe ich immer gemerkt, wenn ich aus dem Urlaub kam und den Stapel der liegengebliebenen Tageszeitungen durchblätterte: Seitenlange Analysen über anstehende Wahlen, deren Ergebnis man nun, zwei Wochen später, schon längst kannte. Irgendwann warf ich diese Stapel immer einfach weg und merkte, dass das Einzige, was an mir wirklich vorbeiging, der Tod alter Filmstars oder Schriftsteller war, deren Dahinscheiden sich mit einer Kolumne publizistisch erledigt hatte.
Nach zwei Wochen ist nämlich der Nahostkonflikt immer noch da, will Facebook uns noch immer ausspionieren. Und wenn der terroristische Anschlag in irgendeinem Teil der Welt von nachhaltiger Bedeutung war, werde ich davon noch rechtzeitig erfahren. Was habe ich davon, per Liveticker über ein Geiseldrama unterrichtet zu werden? Warum muss ich heute über den Raubüberfall von gestern Bescheid wissen? Über eine politisch haarsträubende Äußerung des gerade aktuellen CSU-Generalsekretärs? Über einen Lebensmittelskandal?
Der zeitlich und medial distanzierte Blick hilft, die Relevanz der Ereignisse wieder ins Verhältnis zu setzen. Er beruhigt den Blutdruck und fördert die gute Laune.
Allen, die am Medium Fernsehen verzweifeln, rate ich, ein halbes Jahr auf Nachrichtensendungen zu verzichten und dann mal die Tagesschau zu sehen. Die angeblich so seriöse Mutter der deutschen Nachrichtensendungen wirkt dann völlig lächerlich in ihrer vorhersagbaren Bilder-Abfolge: Aus Dienstwagen, die vor Bürogebäuden halten, steigen erst ein CDU- und dann ein SPD-Politiker. In lichtdurchfluteten Foyers gibt ein dritter Politiker ein aus maximal drei Sätzen bestehendes Statement hab, zu dem der vierte Politiker eine Gegenposition bezieht. Die nächste Nachricht ist meist außenpolitischer Natur. Die Film-Einsprengsel zeigen den Einsatz von Waffen; je größer, desto wahrscheinlicher, dass man sie zu sehen bekommt. Die Hierarchie: Panzer, Raketenwerfer, Maschinengewehre, Sturmgewehre, Handfeuerwaffen, Steinschleudern. Danach der Abtransport verstümmelter Opfer, ein Aufruf des UNO-Generalsekretärs. Zurück zur Innenpolitik: Irgendeine Gewerkschaft streikt immer, was die Arbeitgeber gerade in der jetzigen Situation für unverantwortlich halten. Ein Umweltskandal wird kommentiert von einem Experten, dessen Expertentum man daran erkennt, dass er vor einem Bücherregal steht. Ein Schauspieler, Musiker, Schriftsteller oder ehemaliger Justizminister ist gestorben. Eine Überschwemmung, ein Erdbeben, ein Zugunglück, ein Flugzeugabsturz. Das Wetter.
Als ich an diesem Donnerstag unsere wöchentlichen Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ vorbereite, fragt mich ein Kollege: „Meinst du denn, dass die Leute überhaupt Lust auf kurzweilige Unterhaltung haben?“ Für einen Moment wusste ich gar nicht, was er meint. Dann erinnerte ich mich, dass diejenigen meiner Facebook-Freunde, die sonst fast ausschließlich politische Kommentare posten, sich nun auf den Flugzeugabsturz der Germanwings-Maschine beschränkten. Dem Aufregungsthermometer zufolge muss es im Fernsehen Sondersendungen gegeben haben, die Hälfte der Nachrichtenzeit ging wahrscheinlich für dieses Thema drauf. Und je länger die Nachricht, um so wichtiger. Die Betroffenheit ist ungeheuer. Stefan Raab, so erfahre ich, hat seine Sendung abgesagt. Die Lufthansa-Aktien straucheln.
Aus meiner Perspektive ist es aber ein Flugzeugabsturz, wie es ihn ab und zu mal gibt. Spektakulär zwar. Aber auch: extrem selten. Was also ist, aus der Perspektive der zeitlichen und medialen Distanz geschehen? 150 Menschen sind bei einem Flugunfall ums Leben gekommen. Schlimm für die Angehörigen? Sicher. So wie der Tod für Angehörige immer schlimm ist. Aber was wissen wir von den Angehörigen aller anderen Unfallopfer, die in den letzten Wochen starben? Nimmt man die Zahlen der vergangenen Jahre, so kann man davon ausgehen, dass in den ersten Märzwochen dieses Jahres über 200 Menschen im deutschen Straßenverkehr gestorben sind. Was ist mit deren Angehörigen? Und Unfälle gibt es ja nicht nur im Verkehr, auch im Haushalt oder auf der Arbeit. Wer interviewt hier die Angehörigen? Und leiden die Angehörigen von jungen Menschen, die an Krebs sterben weniger? Wenn man die Zahlen, die die Statistik hergibt, extrapoliert, kann man davon ausgehen, dass sich im März 2015 zwischen 700 und 900 Menschen in Deutschland selbst getötet haben. Auch das ist keine Nachricht wert.
Ein Flugzeugabsturz ist mehr als eine Nachricht wert, weil er spektakulär ist. Weil selbst jene, die routiniert ein Flugzeug besteigen, diese Angst kennen, die bei den meisten irrationalerweise größer ist als wenn man sich auf eine Autofahrt auf einer deutschen Autobahn einlässt. Der Absturz (in diesem Fall: das langsame Absteigen) ist wie für einen Horrorfilm gemacht. Und wie bei einem guten Horrorfilm kommen im Germanwings-Fall auch noch das Psycho-Element und ein Schuss Whydunnit hinzu. Man will wissen, was genau passiert ist. Wie bei einem Krimi kann jeder mitknobeln und das Rätsel lösen. Und je nach Bildungsstand erklärt man sein Interesse mit aktuell-politischem Interesse, Mitleid mit den Angehörigen oder meta-ironisch-offen mit Neugier.
In Wirklichkeit haben sich für ein paar Tage die Deutschen auf BILD-Niveau runterziehen lassen.

Ein Unfall – Und auf einmal wurden alle zu BILD-Lesern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert