269. Nacht d)

Was ich mal mochte, jetzt aber nicht mehr

  • Vollmilchschokolade

  • Beethoven

  • Fernsehen überhaupt und Talkshows im Speziellen

  • Recht behalten

  • Auf Rockkonzerte gehen

  • Otto Waalkes

 Was ich mal nicht mochte, jetzt aber schon

  • Ingwer

  • Tanztheater

  • Goethe

  • Mozart

  • Ein Telefon besitzen

  • Yoga

  • Soziologische Systemtheorie und Konstruktivismus

 Was ich mal nicht mochte, jetzt aber immer noch nicht

  • Tocotronic

  • Fisch

  • Orgelfugen

  • Samt

  • Kalt duschen

  • Fußballgucken

  • Walt-Disney-Comics

Was ich mal mochte, jetzt komischerweise immer noch

  • Boney M.

  • Honig

  • Früh aufstehen

  • atonale Musik von Hanns Eisler

  • Texte meiner Kollegen der Chaussee der Enthusiasten

  • Zaubertricks

***

Alâ ed-Dîn hört auf seine Mutter, schmeißt Ring und Lampe weg. Ende der Geschichte.

Alâ ed-Dîn besteht darauf, die Lampe zu behalten. In den folgenden Tagen leben sie vom Verkauf der Schüsseln, deren Wert Alâ ed-Dîn nicht kennt. Er nimmt eine nach der anderen zum Basar, und verkauft sie einem Juden,

der gemeiner war als der Teufel.

Für jede Schüssel erhält er einen Dinar und der Jude flucht insgeheim, dass er ihm

nicht einen Dreier gegeben hatte.


Dreier 17. Jh. (Abb. Numispedia)

 


Golddinar 5. Jh. (Abb. Numispedia)

Scheint eine seltsame Übersetzung aus dem Französischen zu sein. Denn der Dreier als Kleinmünze war nur in Norddeutschland gebräuchlich, nicht aber in Frankreich. In China schon gar nicht.

Nachdem die zehn Schüsseln und auch noch der Tisch verkauft sind, rubbelt Alâ ed-Dîn wieder an der Lampe, alles wiederholt sich. Nach dem Verbrauch der Lebensmittel will er wieder die Schüsseln verkaufen, wird aber von einem muslimischen Händler abgefangen, der ihn darüber aufklärt, dass

den Juden das Gut der Muslime, die den einigen Allah, den Erhabenen verehren, als erlaubte Beute gilt.

Man beachte, dass diese antisemitischen Zeilen vom Franzosen Galland verfasst wurden.

Der muslimische Händler gibt ihm siebzig Dinar pro Schüssel, und Alâ ed-Dîn lernt nun auf dem Basar das Handeln, verkehrt auch unter Juwelieren und erfährt so, dass die Steine, die er aus der Höhle geholt hatte, keine Glasmurmeln sind, sondern Edelsteine.
Eines Tages läuft ein Ausrufer durch die Straßen der Stadt und befiehlt allen, sich zu verbergen,

denn die Herrin Badr el-Budûr, die Tochter des Sultans will sich ins Bad begeben. Jeder, der diesen Befehl übertritt, wird mit dem Tode bestraft werden.

Wie lange war wohl die Prinzessin nicht mehr baden?

Um sie zu beobachten, versteckt sich Alâ ed-Dîn hinter der Tür des Badehauses.

Wer streute Zauberschminke wohl auf die Blicke ihr
Und pflückte Rosenblüten wohl von der Wange ihr?
Ein nächtlich Dunkel ziert der Haare schwarze Pracht,
Doch ihrer Stirne Licht erhellt die finstre Nacht.

Die ersten Verse in dieser Erzählung. Man beachte den Primreim der ersten beiden Zeilen.

Alâ ed-Dîn kehrt heim, legt sich nieder und wird liebeskrank.

269. Nacht c) – Berlin Marathon 2008

Eine gute Woche ist nun nach dem Berlin Marathon vergangen. Ich bin völlig erholt. Aber auch der Lauf selber ging so gut wie noch nie. Keine Blasen während des Laufs, kein Mann mit dem Hammer, keine Gelenkprobleme, keine Krämpfe, keine ausgedehnten Gehpausen. Von Anfang an, lief alles perfekt.

Ich hatte vorher die etwas seltsame Idee, meine während des Laufs zunehmenden physischen Probleme zu dokumentieren, indem ich an jedem Kilometer einen Stopp einlegte. Aber das Leid hielt sich in Grenzen, vielleichtgerade wegen der kurzen Pausen. Schon bei km 9 habe ich die erste kleine Stretchingpause eingelegt. Ab der Hälfte widmete ich jeden weiteren Kilometer einigen Personen, die mir gerade wichtig sind.

Den kompletten Lauf habe ich hier dokumentiert

***

Es mutet schon etwas seltsam an, dass der Maure so schnell aufgibt, da er ja immerhin mehrere Jahre gebraucht haben muss, bis er nach China gelangt ist.

Nachdem Alâ ed-Dîn mit Weinen und Klagen fertig ist, besinnt er sich des Rings, den ihm der Zauberer gegeben hat. Er fleht weiter zu Allah und ringt dabei wie ein Trauernder mit den Händen, so

dass seine Hand an dem Ringe rieb.

Aber warum musste er sich da des Ringes besinnen?

Es erscheint ein Dämon, der bekennt, er sei der Sklave des Ringträgers. Alâ ed-Dîn befiehlt ihm, ihn zu befreien, was auch höchste Zeit wird, da er schon seit drei Tagen in der Höhle festsitzt. Er geht den Weg zurück, den er gekommen ist und

dankte Allah dem Erhabenen, der ihn zur Oberfläche der Erde herausgeführt und ihn vom Tode errettet hatte.

Allah? Oder nicht doch der Dämon?

Alâ ed-Dîn kehrt ins Haus seiner Mutter zurück und berichtet ihr alles ausführlich,

was wir dann auch noch in aller Ausführlichkeit lesen müssen, Galland scheint Zeilen schinden zu wollen. An anderen Stellen in "1001 Nacht" heißt es immer: "Doppelt erklärt ist nichts wert."

Nachdem sich der Sohn ausgeruht hat, will die Mutter zum Basar gehen, um vom Erlös des gesponnenen Garns Essen zu kaufen. Alâ ed-Dîn rät ihr, lieber die Lampe zu verkaufen, die brächte sicherlich mehr Geld. Doch wie Mütter so sind, sie meint, man müsse die Lampe vorher putzen, dann brächte sie einen höheren Erlös. Ein Dämon erscheint. Sie fällt in Ohnmacht, Alâ ed-Dîn jedoch befiehlt dem Geist, gutes Essen zu besorgen, dies bringt er augenblicklich herbei. Ausdrücklich erwähnt wird darunter nur:

Brot, weißer als Schnee.

Sie essen sich satt, aber anschließend bittet die Mutter ihren Sohn Alâ ed-Dîn darum, Ring und Lampe fortzuwerfen:

"denn sie verursachen uns große Furcht; (…) Auch wäre es eine Sünde für uns, mit ihnen zu verkehren; denn der Prophet – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – warnt uns vor ihnen."… Weiterlesen

269. Nacht b) Jekaterinburg – Jonglage mit Omnibusschimmeln

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Jekaterinburg – Jonglage mit Omnibusschimmeln

(12.4.07)
E-Mails und das Weltweitgewebe katapultieren einen gedanklich nach Hause. In wenigen Stunden ist man nun nach Asien geflogen, hat sich flink ein paar Urteile zurechtgebastelt, hat in einem Tschechenrestaurant gespeist, von weitem die Gedenkstätte für die Zarenfamilie in Augenschein genommen. Das Reisen wird banalisiert, die grundlegenden Fakten kann ich mir ganz ohne Reiseführer aus der deutschen Wikipedia zusammenklauben. Es liegt einzig in der Kraft des Einzelnen, sich die Aufregung zurückzuerobern. Goethe ritt aus purer Neugier nach Italien, und das zu einer Zeit, als man in Italien nichts davon wusste, was man außerhalb von Italien für ein Italienbild hatte, und somit auch keine entsprechenden standardisierten Klischee-Wünsche industriell zu befriedigen wusste. Das Staunen war echt. Heute hat jede Stadt, jeder Ort ihr Muss-man-gesehen-haben, und dort ist Staunen Pflicht. Da man aber zu einer derartigen spontanen Empfindung ja allein durch die Standardisierung des Ortes nicht in der Lage ist, muss der Besucher die Besonderheit durch das Hervorholen der Kamera signalisieren. Aber selbst das ist vergebliche Liebesmüh, denn um so gute Fotos wie die vom Postkartenstand oder in der Google-Bildersuche hinzukriegen, müsste man schon mehrere Jahre in eine Profi-Fotografen-Ausbildung investieren. Man kann sich zwar auch selber vor der Sehenswürdigkeit ablichten lassen, aber was ist das viel mehr als der Beweis, seine Pflicht des Sich-Ablichtens vor der Sehenswürdigkeit erfüllt zu haben? Da uns also die Unmittelbarkeit des Erstaunens versperrt bleibt, suchen wir panisch die Besonderheit im kleinen Detail: Man hält es schon für verrückt, dass Jekaterinburg eine Millionenstadt ohne McDonald’s ist, die Schreibtische im Hotel sind aus Massivholz, im Erdgeschoss der Rüstungsfabrik eine Spielhölle. Jochen Schmidt geht spazieren, um dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Ich gehe schlafen, um meinen Jetlag auszugleichen.

(13.4.07)
Das hier angebotene Frühstück deutet darauf hin, dass die Hoteliers mit westeuropäischen Standards in Berührung gekommen sind, sogar ein probiotisch anmutendes Müsli lockt auf dem Büffet. Die vier Fernseher, auf denen Dauernachrichten dröhnen, sind so angeordnet, dass man ihnen nicht ausweichen kann, und so muss ich es zulassen, dass mir die morgendliche Mahlzeit mit Bildern vom Anschlag auf das irakische Parlament gewürzt wird. Vielleicht ist man das als Frühstücksfernsehgucker gewöhnt, aber ich habe keinen Fernseher mehr und reagiere morgens auf solche Bilder wie ein Kleinkind, das man mit Thrash-Metal-Doppelalbum weckt.
In der Jekaterinburger Universität sollen wir vor den Deutsch-Studenten einen Vortrag über die Berliner Lesebühnen halten. Das können sie dann im Studienbuch unter "Landeskunde" verbuchen. Zunächst hatte ich Jochens Einstiegsreferat, das er mir per Mail zugeschickt hatte, für etwas speziell gehalten: Würde eine 19jährige russische Studentin verstehen, was es für einen wendegebeutelten Ostdeutschen im Jahre 1998 bedeutete, den Humor launiger Kurzgeschichten zu entdecken? Würden sie die Anspielungen verstehen, die Bedeutung von Steins Gebet gegen die Arbeit, dass wir uns an der Tatsache aufgegeilt hatten, dass Tube mit kaputten Schuhen auf die Bühne ging? Kurz vor Beginn des Seminars wärmen wir uns im Institutsbüro auf. Ich beäuge die Lehrbücher in den Regalen. "Zeitungsdeutsch verstehen" klingt gut. In diesem Buch von 1968 wird sogar mit Wörtern wie Omnibusschimmel jongliert. Wenn man hier sogar Vokabeln benutzt, die nicht einmal ich kenne, dann werden sie wohl auch Jochens Vortrag verstehen. Notfalls werde ich die Sache mit ein paar Fotos und Filmen von unseren Lesebühnen auflockern.
Endlich auf der richtigen Seite des Hörsaals stehen – auf der Seite der Wahrheit. Nicht einmal die Professorinnen dürfen uns hier kritisieren, denn wir sind die Experten, die Spezialisten. Jochen beginnt den Einstiegsvortrag mit der Binsenweisheit, überall in der Welt glaube man, die Deutschen hätten keinen Humor. Die Studentinnen schauen ihn angesichts dieser Neuigkeit an wie einen Senegalesen, der dasselbe von seinem Volk behauptet. Jochens Einsamkeit, Tubes kaputte Schuhe, die Studentinnen in der hintersten Reihe beginnen, Käsekästchen zu spielen, eine Bemerkung darüber, wie witzig es doch war, wie Ahne damals 1998 eine Serie über seine Möbelstücke vorlas – von der hinteren bis zur mittleren Reihe machen die Studentinnen nun ihre Hausaufgaben für die nächste Stunde oder schicken SMS. Die Freude, die Wahrheit gepachtet zu haben, verfliegt, wenn sich für die Wahrheit niemand interessiert, außer ein paar Professorinnen.
Ein Wort zu den Männern: Ihre Aufgabe in diesem Hörsaal besteht darin, den Beamer zu installieren, dann verschwinden sie. Der einzige männliche Student hier, wird wohl entweder der Hahn im Korb sein oder der schwulste Mann westlich von Wladiwostok. Fragen zu Jochens Vortrag gibt es keine. Ich versuche, mit einem kleinen Chaussee-der-Enthusiasten-Filmchen aufzulockern. Leider ist der Film auf der Riesenleinwand nur so groß wie eine Postkarte und man kann wegen des schlechten Tons nichts verstehen. Ich erkläre, was man da jetzt sehen könnte.
Ich spreche langsam.
In Hauptsätzen.
Damit alle Studentinnen verstehen.
Das sind Jochen und ich.
Bei einer Lesung.
Wir sprechen da gerade über Gewalt.
Über Gewalt von Frauen gegen Männer.
Die Studentinnen lachen.
Ich notiere auf einem Zettel: "Gewalt-Witze gegen Männer funktionieren."
Und? Gibt es jetzt Fragen?
Warum schreiben Sie? – Weil wir es in der Schule gelernt haben?
Kennen Sie russische Autoren? – Ja.
Haben Sie schon mal Probleme mit der Polizei gehabt? – Nur, wenn Stephan Zeisig die Diskothek zu laut aufgedreht hat.
Für das Referat würde ich uns eine Drei Plus geben, aber hinterher kommen ein paar achtzehnjährige Studentinnen an, die so aussehen, als hätten sie ihre Pubertät noch vor sich und begehren Autogramme. Wir zieren uns nicht.

***

Nachdem der Maure seinem angeblichen Neffen Alâ ed-Dîn die Sehenswürdigkeiten und sogar den Sultanspalast gezeigt hat, verspricht er ihm, ihn am Freitag nach dem Gottesdienst zur Stadt hinauszuführen – zu den Gärten und Lustplätzen.

In welcher chinesischen Stadt sollte den ein Sultan über ein muslimisches Volk geherrscht haben?
Was nicht besonders für Gallands Erzähltalent spricht: Die Handlungen werden angekündigt, ausgeführt und berichtet, so dass wir sie drei Mal lesen müssen.

Die beiden gehen also vor die Tore der Stadt, wo

die Wasser flossen aus Mäulern von Löwen, die von gelbem Messing waren.

Es dauert mehrere Stunden, und Alâ ed-Dîn verliert allmählich die Geduld,

bis sie zu der Stätte gelangten, die das Ziel des maurischen Zauberers war.

Alâ ed-Dîn holt auf Geheiß des Mauren Brennholz, und dieser entfacht ein Feuer, zaubert ein bisschen, und der Erdboden öffnet sich. Alâ ed-Dîn versucht zu fliehen, doch der Maure schlägt ihn nieder. Im Boden ist eine Platte eingelassen, in die ein Ring eingefasst ist, den nur unser Held Alâ ed-Dîn zu heben vermag. Dies tut er und steigt auch hinab, da ihm der scheinbare Oheim verspricht, er könne ihn reich machen. Alâ ed-Dîn möge in den hinteren Saal gehen und von dort die Lampe holen. Erst auf dem Rückweg dürfe er sich die Taschen mit Juwelen, Gold und Silber vollstopfen, die er in den dorthin führenden Gärten finden würde. Zur Sicherheit steckt er ihm einen Siegelring an den Finger, den man nur in der Not zu drehen bräuchte.
Alâ ed-Dîn tut wie ihm befohlen wurde. Als er mit der Lampe zurückkommt, ist die letzte Stufe der Treppe zu hoch, und Alâ ed-Dîn bittet seinen "Oheim", ihm zu helfen, doch dieser verlangt zuerst die Lampe. Da Alâ ed-Dîn aber die Lampe unter all den Juwelen hat, vermag er nicht an sie zu gelangen.
Vor Zorn wirft der Maure Weihrauch ins Feuer, und die Platte schließt sich über Alâ ed-Dîn.

Das Motiv ist eindeutig das vom "Blauen Licht" bei Grimms bzw. der Version von Andersen "Das Feuerzeug". Unklar bleibt, wer hier von wem abgekupfert hat. "Das Blaue Licht" erschien in der Grimmschen Sammlung 1814, es ist durchaus denkbar, dass "Aladin" oder Motive dieser Geschichte zu jener Zeit in popularisierter mündlicher Form durch Europa geisterten.… Weiterlesen

269. Nacht a) – Jekaterinburg – Betrug fängt im Kopf an

(12.4.07)

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Jekaterinburg – Betrug fängt im Kopf an

Am Jekaterinburger Flughafen empfängt uns Irina. Ich habe noch nie eine russische Reisebegleiterin erlebt, die nicht Irina hieß. Wahrscheinlich eine zwingende Voraussetzung bei der Bewerbung um diesen begehrten Job Womöglich legen russische Eltern per Namensgebung den beruflichen Weg ihrer Nachkommen fest. Gennadis werden Metro-Rolltreppen-Reparateure und Irinas Reisebegleiter für deutsche Touristen.
Der vom Goethe-Institut angeheuerte Fahrer wirkt wie einer jener Schlägertypen des KGB aus amerikanischen Spionagefilmen. Schweigsam, aber irgendwann, wenn er von oben das Kommando bekommt, wird er uns umlegen und seinem Kommissar Bericht erstatten. Bis dahin verhält er sich zugeknöpft und korrekt. Das früher Swerdlowsk genannte Jekaterinburg ist, so berichtet uns der Fahrer-Agent, nach Moskau, Petersburg und Nishni-Nowgorod die viertgrößte Stadt Russlands. Allerdings wird man das in den Städten Omsk, Nowosibirsk und Krasnojarsk, die wir in den nächsten Tagen besuchen, ebenfalls behaupten.
Jekaterinburg scheint sich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation zu befinden (s. Karl Marx: Das Kapital Band I): Holzhäuschen, Beton-Glas-Stahl-Konstruktionen und Sowjetfassaden wechseln sich ohne Sinn und Verstand ab. Die Hauptstraßen sind, wie uns auch auch aus anderen russischen Städten bekannt ist, dermaßen breit, dass man als Fußgänger einen halben Tag braucht, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Dabei fuhr zur Zeit ihrer Entstehung höchstens alle zwei Stunden ein PKW den Leninprospekt herunter. Jochen Schmidt argumentiert, es läge an den extrem breiten Flüssen Russlands. Doch warum sind dann die Straßen des am Mississippi-Delta gelegenen New Orleans so wurschtelig schmal? Ich vermute eher, dass die russischen Architekten nach der Oktoberrevolution alle erschossen wurden und man das Relaunch einer Kindergarten-Werkstatt übertrug: Patsche-patsche – fertig ist die Straße. Der weitblickende Stalin ließ die Verantwortlichen erschießen, aber die Straßen wurden dennoch gebaut, denn die seherischen Fähigkeiten des Generalissimus ließen ihn schon damals erahnen, dass der zu hochprozentigem Alkohol neigende Russe als Autofahrer ein großzügig angelegtes Manövrierfeld benötigt.
Das Hotel gehört zu den besten der Stadt. Falko Hennig, der vor kurzem ebenfalls in Russland aufgetreten war, hatte berichtet, dass man ihm die Rezeption per Anruf ein paar Abendhäppchen anbot, die nicht nur aus Kaviar, Wodka und frisch gezapftem Bier sondern auch aus frisch bezopften russischen Mädchen bestanden. Sollte man, nachdem man so oft derartige Angebote auf der Oranienburger Straße abgelehnt hat, sich nicht wenigstens mal nach dem Preis erkundigen. Aber was, wenn es nachher bloß 2,99 Euro kostet? Dann kann man sich schlecht rausreden, das es einem zu teuer wäre. Man könnte ja auch nur mal mit dem zu einer derart erniedrigenden Arbeit gezwungenen Mädchen reden, und das unter “Recherche” verbuchen, wobei ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn mir das arme Mädchen während unseres Gesprächs den Nacken massiert. Oder die Füße, oder den Bauch, oder die Schläfen, den Rücken, die Oberschenkel. Ab welcher Art von Massage würde ich meine Freundin betrügen? Doch eigentlich nur, wenn das Mädchen einen Körperteil berührt, der von meinem Slip eingefasst wird. Aber heißt das, dass Beziehung, Treue und Liebe nur auf Hintern und Genitalien beschränkt sind. Treue oder Betrug – das fängt doch im Kopf an. Und wenn es alles nur eine Frage des Kopfes ist, dann könnte ich auch gleich die Hose runterlassen. Angstvoll schiele ich nach 23 Uhr immer wieder auf das Telefon, aber es bleibt still. Glück gehabt.

***

Die Geschichte von Alâ ed-Dîn und der Wunderlampe
(Aladin)

In einer Stadt in China lebt ein armer Schneider, dessen Sohn Alâ ed-Dîn heißt.

Und dieser Knabe war von seiner Jugend auf ein Tunichtgut und Taugenichts.

Schon dieser Anfang ist anders konstruiert als die bisherigen Erzählungen, und es ist unglaubwürdig, dass Galland die Geschichte woanders als in seinem Kopf “gefunden” hat:

  • Der Held ist bei 1001 Nacht in der Regel noch gar nicht geboren.

  • Warum hat er einen arabischen Namen, wenn er in China lebt?

  • Warum heißt er genau so wie der Held der vorherigen Geschichte?

  • Tunichtgut und Taugenichts scheinen auch eher vom europäischen Ethos geprägte Bezeichnungen zu sein als typische zu überwindende Eigenschaften.

Alâ ed-Dîn spielt nun auch lieber

mit den anderen Buben, Lehrlingen,

als seinem Vater zu helfen, welcher dann auch stirbt.

Seine arme, unglückliche Mutter aber musste ihn von dem ernähren, was sie durch Spinnen mit eigener Hand verdiente, bis er fünfzehn Jahre alt war.

Spinnen als Handwerk der Ärmsten – auch ein europäisches Motiv?

Eines Tages kommt ein maurischer Derwisch in die Stadt, der Alâ ed-Dîn beobachtet:

“Dieser Knabe da ist ja der, den ich suche.”

Dass der Derwisch ein Maure sein soll, scheint mir ebenfalls eine europäische Projektion. In der Figur des Mauren sammelt sich das Unheimliche, das Exotische, das Dunkle, das Afrikanische verbindet sich mit dem Orient. Der Derwisch wäre eher im persischen Raum zu vermuten, bestenfalls in Ostafrika.

Der Derwisch gibt sich als Oheim Alâ ed-Dîns aus und beklagt den “Tod seines Bruders”. Er erklärt, Alâ ed-Dîn solle nun wie sein Sohn sein, gibt ihm zehn Dinare und kündigt seinen Besuch bei ihm und seiner Mutter an. Die Mutter scheint einigermaßen verwundert über den nie gekannten Oheim, kocht aber am nächsten Tag, als Alâ ed-Dîn wieder mit zwei Dinaren heimkommt ein gutes Essen, um den Mauren zu empfangen.
Langwierig erzählt der Maure (man könnte auch sagen Galland) eine dürre Geschichte, wie er von seinem angeblichen Bruder getrennt wurde und nun nach vierzig Jahren wieder zurückkehrte. Er fragt nach dem Handwerk Alâ ed-Dîns und die Mutter klagt:

“Mühsam spinne ich Baumwolle Tag und Nacht.”

Der Derwisch verspricht Alâ ed-Dîn, ihn zu einem feinen Kaufherrn zu machen. Da

freute er sich sehr; denn er wusste genau, dass diese Herren alle immer feine und saubere Kleider tragen.

Ich kann mir nicht helfen – auch das klingt für mich europäisch.

Am nächsten Tag führt der Maure Alâ ed-Dîn zum Basar, kleidet ihn ein, geht mit ihm ins Badehaus, trinkt mit ihm Scherbett und

zeigte ihm die Stadt, die Moscheen und alles Sehenswerte, was es in dem Orte gab.

Das sollte Alâ ed-Dîn, der Herumtreiber noch nicht gesehen haben?… Weiterlesen

269. Nacht – Strickkleider und Schnarch-Lacher

(12.4.07)

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Strickkleider und Schnarch-Lacher

Angeblich sind die Zwischenansagen des Kapitäns und der Stewardessen auch auf Deutsch. Erkennen kann man es nicht, der Tonfall und der Klang sind dieselben.
Als wir in Moskau ankommen, jammert Jochen, er habe im Flugzeug nicht schlafen können. Somit ist Jochen Schmidt der einzige Mensch, den ich kenne, der auch im Wachsein schnarcht, von ein paar Schnarchlachern abgesehen, deren Vorkommen in meiner unmittelbaren Umgebung in den letzten Monaten zugenommen hat. Ein Schnarchlacher ist ein Mensch, dessen Lachen zwar einigermaßen verhalten klingt, der dann aber beim Luftholen kräftig grunzt. Haben die dafür zuständigen Ärzte den Grund für dieses Phänomen schon mal untersucht? Ich glaube nicht.
Passkontrolle. Jochen wird angeschnauzt, weil er unverschämterweise kein Einreiseformular ausgefüllt hat. “Ot kuda?”, fragt er und will wahrscheinlich wissen, woher man diese Papiere bekommt, ich vermute aufgrund der barschen Reaktion der Flughafenaufpasserin einen Vokabelfehler. Willkommen in Russland.
In der Nähe des Flughafencafés, von dem wir abgeholt werden sollen, legen wir uns auf die Wartebänke zwischen die jemand Videosäulen gebaut hat, auf denen ein Drei-Minuten-Video des World Wildlife Funds läuft. Ein Jaguar und ein Hirsch. Der Hirsch, dann wieder der Jaguar. Der Jaguar im Schnee, der Hirsch im Schnee. Der Hirsch bei Nacht, der Jaguar bei Nacht. Wie in einem Liebesfilm fragt man sich: Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht? Oder anders gefragt: Unter welchen Umständen kriegen sie sich? Aber der Zuschauer wird enttäuscht. Wie in einer Liebeskomödie aus den 50er Jahren sieht man das Paar erst am Morgen danach. Der Jaguar kaut schon etwas übersättigt an den Hirschresten. Hab ich etwas verpasst? Ich habe in den nächsten 5 Stunden genug Gelegenheit, meine Filmanalyse zu verifizieren, denn der dreiminütige Jaguar-Hirsch-Clip läuft hier als Endlos-Schleife.
Unsere deutsche Begleiterin Dana, die man uns für die nächsten Tage als Beschützerin zugeordnet hat, können wir gar nicht erkennen, so russisch ist sie gekleidet. Aber das ist ein Schicksal, das anscheinend jedem widerfährt, der länger als ein halbes Jahr hier lebt. In der Schule konnte man früher auch die Russischlehrerinnen, die ein Jahr lang in Moskau studiert hatten, an ihrer Vorliebe für unvorteilhafte Strickkleider, altmodische Tropfenformbrillen, unzweckmäßige Plastegürtel und eigenwilliges Naschwerk identifizieren.
Der Binnenflughafen Scheremetjewo 1, zu dem uns Dana lotst, wirkt, als hätten ihn russische Leibeigene vor der Erfindung der zivilen Luftfahrt erbaut. Die slawische Rustikalität des Gebäudes und der hier angebotenen Nahrung kontrastiert auf beeindruckende Weise mit der distinguierten Preisgestaltung der Cafeteria.
Ein gleichzeitig geschäftsmännisch aber auch polit-mafiös wirkender Bartträger, den ich instinktiv-rassistisch als Armenier einordne, setzt sich, drei Russen nehmen neben ihm Platz, und ein Sonnenbrillenträger baut sich ostentativ als Personenschützer am Eingang des Cafés auf. Die drei Russen sind die Idealtypen des russischen Mannes:
1. der fette Alkoholiker-Macho á la Jelzin
2. der fetthaarige Funktionär á la Karpow
3. der Bodybuilder á la Iwan die Kampfmaschine in Rocky IV
Um ein Binnenflugzeug in Russland zu besteigen, muss man sich beim Sicherheits-Check fast bis auf den Leoparden-Schlüpper ausziehen. Ich vermute, dass sie nur von ihrer mangelhaften Durchleuchte-Technik ablenken wollen. Wenn man kein Messer mitnehmen darf, warum gibt es dann in der Ersten Klasse Stahlbesteck und Glasflaschen?
Die Sitzreihen sind diesmal so eng, dass sogar Jochen Probleme hat. Falls sich mein Vordermann anlehnt, werde ich mir die Kniescheiben brechen. Jochen hat den Gangsitz, aber sobald er seine Beine etwas rausschiebt, pfeifen ihn die Stewardessen zusammen. Müssen die eigentlich auch einen Freundlichkeitskurs belegen. Der Umstand, dass sie auf diesem Flug nur sachlich und nicht mürrisch sind, scheint das zu belegen.
Ankunft Jekaterinburg. Die übliche Hektik bei der Landung. Diesmal ist das Flugzeug gerade erst einmal aufgedetscht und noch nicht mit dem Bremsen fertig, als schon einige Eifrige aufstehen. Es nutzt ihnen nichts. Beim Warten aufs Gepäck sehen wir uns alle wieder. Eine Gruppe Kaukasier hat Pech gehabt. Das Gepäck ist auf dem Rollfeld vom Laster gefallen, aber jetzt ist leider Mittagspause in Jekaterinburg, da könne man nichts machen. Kaukasier sind in Russland eben nur Kaukasier und stehen in der sozialen Hierarchie irgendwo zwischen Dieb und Hund. Und so müssen die Kaukasier bis zum nächsten Flug warten und der kommt in fünf Stunden.

Als genuesische König erwacht,

sah er Alâ ed-Dîn und seine eigene Tochter auf seiner Brust sitzen,

die ihn auch noch mit Waffengewalt überreden wollen, zum Islam zu konvertieren.

So könnte im Jahre 2008 ein Horrorfilm beginnen: Ein Staatsoberhaupt wacht auf, und auf seiner Brust sitzt seine plötzlich zum Islam konvertierte Tochter, begleitet von einem grimmigen Moslem.

Da zückte Alâ ed-Dîn den Dolch und durchschnitt ihm die Kehle von Ader zu Ader. Dann schrieb er auf ein Blatt, was sich zu getragen hatte, und legte es ihm auf die Stirn.

Die Prinzessin ist in der Lage, den Zauberstein zu bedienen, den sie reibt. Es erscheint ein Ruhelager, mit dem sie sich in die Lüfte erheben und fliehen. Der Stein versetzt sie außerdem in die Lage,

  • in einem öden Tal Bäume wachsen und einen Fluss fließen zu lassen, an dem sie die religiöse Waschung vollziehen können

  • einen Tisch mit Speisen erscheinen zu lassen

  • einen Ritter erscheinen zu lassen, der die Truppen bekämpft, die der Bruder der Prinzessin ihnen hinterhergeschickt hat

vgl. Tischlein-deck-dich bei Grimms, wo der Reiter seine Entsprechung im Knüppel-aus-dem-Sack hat

Man reist weiter nach Alexandrien, wo sie Ahmed ed-Danaf treffen. Mit dem fliegenden Ruhelager reisen sie über den Umweg Kairo, wo Alâ ed-Din seinen Vater wiedertrifft, nach Bagdad, wo er seinen nun zwanzigjährigen Sohn Aslân zum ersten Mal sieht. Der Kalif führt den Erzdieb Ahmed Kamâkim vor.

Sofort zog Alâ ed-Dîn sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab.

Der Kalif lässt den Ehevertrag für Alâ ed-Dîn und die genuesische Prinzessin Husn Marjam schreiben.

Als er dann zu ihr einging, fand er, dass sie eine undurchbohrte Perle war.

Aslân wird zum Hauptmann der sechzig ernannt.

Hier endet die Geschichte, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass am Ende Zauberstein und Dämonen quasi hervorgezaubert wurden, um die Handlungsstränge zusammenzuknoten. Die Idee von einer erzählenswerten Geschichte ist hier völlig anders – es geht viel mehr ums Erzählen selbst, die Geschichte von Alâ ed-Dîn ist die einer seltsamen Biografie, weniger die von einer seltsamen Begebenheit.

Ende

Die 269. Nacht wird zwar fortgesetzt, ist aber außergewöhnlich lang, da Galland hier die (wahrscheinlich von ihm selbst erfundene) Geschichte von Alâ ed-Dîn und der Wunderlampe eingefügt hat.… Weiterlesen

268. Nacht – Eigenwilliges Naschwerk und Leopardenschlüpper für österreichische Experimental-Oboistinnen

Helge Schneider: "Ich bin kein Kirchist."

**

Im April 2007 durfte ich mit Jochen Schmidt nach Sibirien reisen. Den Bericht darüber habe ich bisher bei der Chaussee der Enthusiasten vorgelesen, aber sonst noch nicht veröffentlicht. Es ist an der Zeit.

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Eigenwilliges Naschwerk und Leopardenschlüpper für österreichische Experimental-Oboistinnen

 

Man hatte die Hoffnung ja schon längst aufgegeben, dass sich ein Goethe-Institut-Knecht finden würde, der die Chaussee der Enthusiasten auf eine Lese-Tour nach Russland einladen würde. Dabei lag es ja auf der Hand: Kurze, leicht übersetzbare, aber anspruchsvolle Geschichten, vorgetragen von anmutigen Autoren, die aus ihrem Russland-Faible nie einen Hehl gemacht hatten, sondern ihn wie einen Pionierwimpel vor sich hertrugen. Was hatte ich nicht alles getan: Ich hatte dem Institut ein Chaussee-der-Enthusiasten-Buch und einen ganzen Stapel unserer Hefte geschickt, auf unsere erfolgreichen Auftritte in Amsterdam und Lille verwiesen, meine Scham überwunden und schlechten Gewissens eine von mir einmal verlassene Freundin wieder angerufen, von der ich wusste, dass sie jemanden kannte, der jemanden kannte, der im russischen Goethe-Institut arbeitete, wir hatten uns sogar nach einer Moskauer Straße benannt. Stattdessen setzte man in Moskau lieber darauf, Dichterinnen, die vor 10 Jahren mal bei einem Provinz-Poetry-Slam den dritten Platz belegt hatten, oder gar österreichische Experimental-Oboistinnen wieder und wieder ins Russenreich zu karren, weil das ja die anderen Goethe-Institute auch so praktizierten. Und so kam die E-Mail mit der Einladung nach Sibirien etwas unerwartet. Sie hatten den Zeitpunkt gut abgepasst. Ich war knapp unter Vierzig, und so konnten sie mich noch unter der Kategorie “Junger Schriftsteller” ankündigen, aber dieses Etikett gilt in Deutschland vielleicht für jeden, bei dem man sich noch keine Gedanken machen muss, mit welchen Vorrichtungen man den Rollstuhl auf die Bühne gehievt kriegt.
Ich arbeitete an einer Übersetzung, trat viermal pro Woche auf, unterrichtete 2 Improvisationsheaterklassen, ermunterte meine an Frühschwangerschaftskotzerei leidende Schwester, und vertröstete meine Gefährtin Woche für Woche, Regale, Lampen, Lichtschalter, Vorhänge und Bilderrahmen anzubringen, die seit unserem Einzug vor 3 Monaten immer noch vorwurfsvoll im Korridor standen. Kein günstiger Zeitpunkt, um sich nach Sibirien zu verpissen. Aber Russland war ein Magnet für mich, es zog mich an und stieß mich ab. Ich hatte mich Anfang der 90er mit jungen Moskauer Punkbands befreundet, wir waren viermal auf die Krim gereist, ich hatte 1991 den Putsch gegen Gorbatschow live vom Fenster eines Freundes miterleben dürfen, und ebenso die Beschießung des Parlaments zwei Jahre später, ich hatte eine russische Patentochter, die ich fast nie sah, meine Mutter war in russischer Kriegsgefangenschaft entstanden, ich liebte russische Musik und das raue russische Essen, und ich verabscheute die “russische Seele”, die die russischen Rohlinge immer dann aus dem Sack ließen, wenn sie ihre Grobheit in Wodka ertränkt hatten, dann aber nicht etwa zärtlich wurden, sondern schlicht zur allergröbsten Grobheit nicht mehr in der Lage waren. Kurz gesagt: Ich musste nach Sibirien.
***
Als ich in der Abreisenacht rucksackbeladen und wegen eines Auftritts leicht verspätet, um 23.30 Uhr vom Bahnhof Treptower Park meinen Reise- und Lesebegleiter Jochen Schmidt auf dem Handy anrufe, damit er die Damen auf dem Flughafen davon abhalten möge, das Check In zu früh zu beenden, ich würde mich schon beeilen, wundere ich mich über die fehlenden Flughafen-Hall-Geräusche am anderen Ende der Leitung. Schmidt ist noch nicht einmal aus seiner Wohnung gegangen, und so bleibt es mir überlassen, die Damen auf dem Flughafen zur Verlängerung des Check In zu Jochens Gunsten überreden.
Wir sind die letzten Passagiere, bei der Sicherheits-Überprüfung nimmt man uns schon nicht mehr ernst und schäkert untereinander, nicht wissend, dass aufmerksame Schriftstellerohren die Metalldetektorpforte durchqueren. Der Dialog in diesem Setting zwischen der einen Politesse an der Durchleuchtmaschine und der anderen mit der ulkigen Detektorlupe könnte der Beginn eines Tarantino-Films sein:
“Wat willste denn da nach Thailand extra nô Hemden mitnehmen?”
“Na, een T-Shirt dô wenigstens!”
“Nö, da loofen wa dô alle nackee rum! Ne Zahnbürschte und ‘n Leoparden-Schlüppa, dit muss reichen.”
“‘n Leoparden-Schlüppa? Du hast ‘n Leoparden-Schlüppa! Ick fasset nich!”
Wir müssen weiter, dürfen nicht mehr mitlauschen, aber im Geiste drehe ich den Film weiter: Nach uns letzten beiden Passagieren kommt noch der Sky-Marshall angehetzt, bei dem (wie immer) der Alarm piept. Er lässt (wie immer) einen flotten Spruch fallen, man kichert. Im Flugzeug stellt er sich heraus, dass der Sky-Marhall selber ein Entführer ist. Cut! Zeitsprung. Er wurde von seinem sadistischen SM-Partner dazu gezwungen. Cut! Der Pilot vertuscht seit Jahren seine starke Sehbehinderung, aber er hängt an dem Job wegen der nymphomanischen Stewardessen. Als der kriminelle Sky-Marshal droht, dem Piloten die Augen auszustechen, lacht der nur, da das für ihn ja keinen Unterschied mehr macht. Das Flugzeug landet nun immer wieder auf verschiedenen Flughäfen in aller Welt, kein Land fühlt sich zuständig, und kein Innenminister nirgends will die Befreiung der Geiseln unternehmen, da das Risiko zu klein ist, und man sich somit keine Lorbeeren als harter Bulle verdienen kann. Inzwischen ist der sadistische Partner des Sky-Marshalls in Thailand angekommen, wo er sich zu seiner eigenen Überraschung, nicht mit einer Thai-Prostituierten, sondern einer deutschen Touristin vergnügt, in die er sich verliebt hat. Sie belustigen sich im Swimmingpool des Hotels, doch als er sie dort für seine Sado-Spielchen ausnutzen will, wehrt sie sich. Am nächsten Morgen findet das Personal seine Leiche auf dem Grund des Swimmingpools. Sie stellen fest, dass er mit einem Leoparden-Schlüppa erwürgt wurde.
***
Wir heben ab, Jochen setzt sich seine Schlafmaske auf und klemmt sich Ohropax in die beiden dafür vorgesehenen Körperöffnungen. Mit diesen Utensilien, die für ihn so wichtig sind wie für Asthmatiker ihr Spray, eliminiert er zwei wichtige Wahrnehmungsformen, und glaubt irrigerweise, ihre Benutzung garantierten ihm Schlaf.
Um drei Uhr nachts wird das Frühstück serviert. Und während ich wieder einmal meine Knie abwechselnd in den Gang, in Jochens Magengrube und gegen die Rückenlehne meines Vordermanns platziere, frage ich mich, ob diese Nahrungsersatzverabreichung auf kurzen Flügen nicht lediglich dazu dient, die Fahrgäste bei Laune zu halten, da sie sich sonst wie Kinder benehmen: Ich muss mal, ich will was zu trinken, mir ist warm, ich muss mal, wann sind wir endlich da, nein der da hat angefangen, wieso darf ich mir denn keine Mütze aus dem Security-Prospekt basteln?
 

***

Die Prinzessin spricht zu einer Begleiterin

"Du hast mich aufgeheitert, Zubaida!"

Und so erkennt Alâ ed-Dîn, dass diese Zubaida seine Gattin ist, die doch eigentlich tot sein müsste.
Die Prinzessin fährt fort, Zubaida zu trösten, Alâ ed-Dîn sei

in dieser Kammer dort und hört, was wir reden."

Sie rennen auf einander zu und sinken ohnmächtig zu Boden. Es stellt sich heraus, dass eine im Dienst der Prinzessin stehende Dämonin in den Körper von Zubaida gefahren war und Zubaida auf diese Weise zur Prinzessin gelangte.

Deus ex machina.

Dieser Prinzessin war durch ihre Großmutter geweissagt worden, sie würde eines Tages Alâ ed-Dîn heiraten.
Alâ ed-Dîn geht auf das Angebot ein, vorausgesetzt, sie ist Muslimin. Das ist sie tatsächlich, denn sie

las die vier Bücher, die Tora, das Evangelium, die Psalmen und den Koran.

Das hat sie bekehrt. Zubaida nimmt das neuerliche Eheversprechen ihres Gatten klaglos hin.
Außerdem klärt ihn die Prinzessin über die Vorgänge in Bagdad seit seiner Abreise auf. Den fünfeckigen Zauberstein habe sie übrigens von ihrer Großmutter, und sie hatte ihn Alâ ed-Dîn zukommen lassen Der Kapitän war einer ihrer Verehrer, den sie losschickte, um Alâ ed-Dîn nach Genua zu holen. Ihr Vater wiederum hat eine große Angst vor Alexandriern, die er alle hinrichten lässt, da ihm durch seine Mutter geweissagt wurde, er würde durch einen Mann aus Alexandrien getötet.

Man ahnt schon, wer ihres Vaters Mörder sein wird.

Am Abend betäuben sie den König mit Wein und Bendsch, fesseln ihn und geben ihm

das Gegenmittel gegen Bendsch.

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254. Nacht – Mein Ebay

Mein Ebay am heutigen Tag:

587 Punkte, davon 1 negative und 2 neutrale Bewertungen

695 abgegebene Bewertungen. Da bin ich wohl fleißiger.

Auswahl von Käufen

  • 17.3.00: Keyboard Yamaha PSS-26

  • 9.7.01: CD Clifford Brown – Paris Session

  • 26.2.02: Samy Molcho: Pantomime Körpersprache

  • 12.4.02: Haarschneidemaschine

  • 6.3.03: Buch “Trümmerleben, Münchnerinnen”

  • 31.7.04: Geldkassette mit Hartgeldeinsatz

  • 4.10.05: Gitarren-Wandhalter

  • 27.11.05: Fünf Klammappen

  • 16.2.06: Cardia Designer Hemd weiß

  • 30.1.07: Kopie des Bilds von Monet: Wasserlilien

  • 28.2.08: DVD “The Oxbow Incident”

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Die Karawane zieht macht nacheinander Halt in Aleppo, Damaskus und Bagdad. In jeder dieser Städte besitzt der heimliche Magier Mahmud el-Balchi Häuser. Und bei jeder Rast lädt er Alâ ed-Dîn zu einem Festmahl ein. Der Leiter der Karawane, ein Vertrauten seines Vaters, rät ihm jedes Mal ab, aber vor den Toren Bagdads lässt sich Alâ ed-Dîn auf die Einladung ein. Während des Essen versucht der Magier, Alâ ed-Dîn

einen Kuss zu rauben.

Dieser zuckt zurück, doch der Magier schlägt ihm vor,

“Wir wollen die Worte des Dichters auslegen:

Kannst du nicht zu mir kommen, nur ein Augenblickchen,

So lang wie ein Schäfchen gemolken, ein Ei gebraten wird,

Und, was an zartem Feinbrote dir nur zusagt, essen,

Und nehmen, was an silberner Münze dir entgegenklirrt,

Und ohne Müh ertragen, was dir behagen soll,

Ein Zöllchen oder ein Spännchen oder ein Händchen voll?”

Darauf wollte Mahmûd el-Balchi den Jüngling vergewaltigen.

Wie nun? Erst mit Lyrik verführen, dann vergewaltigen?

Alâ ed-Dîn wehrt sich mit dem Schwert und beschwert sich beim Karawanenführer:

“Der da ist ein Wüstling!”

Wüstling – auch ein Wort, dessen Verlust zu betrauern wäre.

Alâ ed-Dîn überredet den Karawanenführer, ohne el-Balchi und dessen Leute aufzubrechen, um noch vor Anbruch der Nacht Bagdad zu erreichen. Dieser rät ihm aus Sorge vor den Beduinen ab. Alâ ed-Dîn entgegnet:

“Du, Mann, bist du Diener oder Herr?”

Diese Sorglosigkeit kostet mehreren Menschen des Leben, denn in der Tat werden sie im Hundetal von der Bande des Beduinenführers Adschlân Abu Nâîb überfallen. Alâ ed-Dîn überlebt, indem er seine kostbaren Kleider auszieht und sich im Blut der Toten wälzt, damit er selber für tot gehalten wird.

241. Nacht – Hauptstädte die ich sah

Hauptstädte, in denen ich war. Mit Jahreszahl meines ersten Besuchs sowie gegebenenfalls Relativierungen für Kürzestaufenthalte und Hauptstädte, die keine waren oder mehr sind:

Berlin (DDR)

Bonn 1991 (BRD)

Berlin (BRD)

Warschau 1979

Prag 1990

Budapest 1981

Sofia 1997 (nur auf dem Flughafen)

Wien 1998

Bratislava 1981 (zu CSSR-Zeiten)

Vilnius 1989 (zu SU-Zeiten)

Minsk 1989 (zu SU-Zeiten)

Brüssel 1992

Amsterdam 1991

Moskau 1990

London 1993

Paris 1993 (nur wenige Stunden zwischen Bahnhof und Autobahnabfahrt)

Valletta 2001

Rom 2000

Madrid 1995

Accra 1997

Lagos (nur auf dem Flughafen)

Sarajevo 1999

Teheran 1996

Washington 1997 (nur ein paar Minuten am Busstop)

Kairo 2004

Abu Dhabi 2004 (nur auf dem Flughafen)

Edinburgh 1993 (naja)

Peking 2008

Colombo 2004

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El-Haddschâdsch vertröstet Ni’ma:

"Wenn deine Sklavin nicht wiederkehrt, so gebe ich dir zehn Sklavinnen aus meinem Hause."

Wahrscheinlich erkennt Ni’ma schon hier die Verstrickung el-Haddschâdschs.

Sein Vater er-Rabî’ bestärkt ihn in dieser Vermutung. Der zu diesem Zeitpunkt vierzehnjährige Ni’ma wird krank, und die Ärzte sagen:

"Es gibt kein Heilmittel für ihn außer der Sklavin."

Eines Tages erreicht ein kunstvoller persischer Arzt die Stadt Kufa,

von dem man ihm [dem Vater] sagte, dass er Heilkunst, Astrologie und Geomantie genau kenne.

Geomantie kennt ja heute kaum mehr einer. Und wenn, möchte man ihm vielleicht nicht unbedingt den kranken Sohn anvertrauen.

Diagnose:

"Dein Sohn leidet am Herzen."

Der Perser weiß sogar noch mehr über die Angebetete:

"Diese Sklavin ist jetzt entweder in Basra oder in Damaskus."

Mit Ni’ma sowie tausend Dinaren plus Pferden und Kamelen macht sich er Perser auf nach Aleppo. Dort werden sie nicht fündig und reisen weiter nach Damaskus. Sie eröffnen einen Laden und kommen überein, miteinander auf Persisch zu reden und sich als Vater und Sohn auszugeben.
Der Trick funktioniert. Der Perser heilt einige Kranke, und eines Tages kommt eine Alte auf einem Esel zu ihm, die vorgibt, eine kranke Tochter namens Nu’m zu haben…