Eigentlich weiß ich nicht mehr genau, was mich bewog, Svenja Flasspöhlers Buch „Sensibel“ zu kaufen. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass ich jetzt einfach mal eines ihrer Werke lesen musste, statt nur über sie zu lesen oder sie in Interviews zu hören.
Nachdem ich es bestellt hatte, sah ich schon, dass ihrem Werk ein gehöriger Wind entgegenblies. Ich erwartete eine Streitschrift. Stattdessen bekam ich eine kleine feine philosophische Analyse der Sensibilitäts-Debatten der heutigen Zeit.
Flasspöhler ordnet nicht nur den Begriff historisch ein, sondern zeigt auch, dass die Auseinandersetzung um „Sensibilität“ gar nicht so neu ist. Sie zeigt sich nur im neuen Gewand. Wenn es um dieses Thema geht, kochen in der öffentlichen Debatte rasch die Emotionen hoch. Selbst kluge Leute scheuen dann nicht zurück vor Unterstellungen, persönlichen Angriffen, werden laut usw., was oft ein Zeichen für vollkommenes Unverständnis der anderen Seite ist. Mit anderen Worten: Die Analyse kommt zur rechten Zeit.
Wir haben es, kurz gesagt, mit zwei Seiten der erhöhten Sensibilität zu tun: Der aktiven und der passiven Seite, das heißt, wir sind empfindlicher für Zumutungen geworden, aber auch sensibler für das, was man anderen zumuten kann.
Flasspöhler zeigt im historischen Rückblick auf Hume, Rousseau und de Sade, dass Mitgefühl nicht genügt:
„Die reine Empfindung [ist] noch keine Moral… Nichts kann uns von der Notwendigkeit des Urteils und der damit einhergehenden Distanzierung entbinden.“
Verletzungen haben nun zwei Seiten: Sie können eine Person dauerhaft schädigen („Trauma“) oder sie können sie stärken. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, ist von der Intensität der Einwirkung, aber auch von der Persönlichkeitsstruktur, gelernten Coping-Mechanismen und der Art und Weise des Umgangs abhängig.
Flasspöhler erwähnt es nur en passant, aber es ist schon ein Unterschied, ob man z.B. meditatives Training, Psychoanalyse oder preußische Härte im Umgang mit Verletzungen einsetzt.
Ein gesellschaftliches Problem entsteht dann, wenn selbst die kleinste Irritation als Trauma bezeichnet wird – ein irritierendes Kunstwerk, der Sprachcode einer anderen sozialen Gruppe usw. und wenn dann die Folgerung besteht, die Gesellschaft müsste jede noch so kleine Irritation, die jedes Individuum empfinden könnte, verhüten. Dies führt zu einer endlosen Spirale des Unsagbaren (und ich würde sogar sagen zu einem magischen Verständnis von Sprache). Dann sind selbst zitierende Verwendungen von Schimpfwörtern tabu, dann werden jedem größeren Werk der Weltliteratur „Triggerwarnungen“ vorangestellt, so als wüsste niemand, der einen Krimi aufschlägt, dass es hier um Verbrechen geht, dann wird letztlich jede Kontroverse (auch wissenschaftlicher und politischer Natur) unter Vorbehalt gestellt.
Andererseits stellt Flasspöhler klar, dass Hassrede durchaus in handfeste Gewalt umschlagen kann, wie die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Jahre gezeigt haben.
Aber wo liegt die Grenze?
Welche Kraft hat also die Sprache und wie sensibel ist sie zu gebrauchen?
Man sieht schon: Jetzt kommt das "schlimme Thema" in Hochgeschwindigkeit auf uns zugerast, das Thema, zu dem jeder eine Meinung hat, und zwar eine klare. Und die andere Seite, das sind die Bösen.
Überraschenderweise argumentiert Flasspöhler nun nicht gegen Judith Butler, sondern nimmt sie für sich in Anspruch: Sprache kann nicht fixiert werden, sie ist performativ (so wie sich auch Geschlechter sozial performativ und fluid konstituieren). So wie in den 1970er und 80er Jahren eine performative Umdeutung des einst abwertenden Begriffs „schwul“ gelang, könnte dies auch mit anderen Begriffen gelingen.
Man denke etwa an die "Slutwalks", bei denen gegen Vergewaltigungs-Kultur demonstriert wird, aber gleichzeitig auch wie nebenbei das Wort "slut" (Schlampe) performativ umgedeutet wird.
Butler beschreibt den Drag, die Travestie als Spiel, um den performativen Aspekt von „Geschlecht“ zu entlarven. Davon ausgehend fragt sich Flasspöhler, ob das generische Maskulinum nicht seine Freiheit daraus bezieht, dass es von geschlechtlichen Identifikationen absieht.
„Nicht das Geschlecht, sondern das Tun wäre der Kern der Bezeichnung. Unbestritten gehört es zu den Errungenschaften der Emanzipation, dass man Menschen nicht auf ihr Geschlecht reduziert, sondern für das anerkennt, was sie können und machen… Böte das generische Maskulinum dann nicht ein erstaunliches emanzipatorisches Potential – und zwar gerade durch seine umfassende Bezeichnungskraft, die nicht nur einzelne Gruppen meint, sondern alle?“
Im Weiteren fragt sich Flasspöhler, wie weit es Grenzen der Einfühlung gibt. (Man denke an die Forderungen, dass Schwarze Dichterinnen nur von Schwarzen Übersetzerinnen übersetzt werden sollten, dass Homosexuelle nur von homosexuellen Schauspielern dargestellt werden dürften usw. Die Begründung dafür lautet, dass jemand, der nicht dieselben Diskriminierungen erfahren habe, nicht wirklich nachvollziehen könne, was es wirklich bedeutet, in dieser Situation zu sein. Diese Position, die sich an nicht nur an Einzelbeispielen (wie Amanda Gormann) festmacht, sondern in Hollywood allmählich zur Hauspolitik wird, ist natürlich radikal (und wird auch letztlich nicht jenseits einiger symbolischer Akte durchzusetzen sein. Flasspöhler lässt hier den Juristen und Autor Bernhard Schlink zu Wort kommen:
„Das Schreiben über Menschen aus anderen Welten misslingt leicht. Aber es kann auch gelingen, es braucht dazu Wissen und Einfühlung. Warum es ein Verbot geben soll, kann ich nicht verstehen.“
Die konsequente Umsetzung hieße ja, die einzige legitime Literaturform wäre das Tagebuch. Und im Film könnte man nur noch sich selbst spielen. Ja, letztlich nicht einmal das. Denn wer garantiert, dass du dich in dein früheres Ich auch wirklich hineinversetzen kannst?
Wie aber soll die Sensibilität sich angemessen im Miteinander ausdrücken? Wir versuchen zwar, die Ambivalenzen zu überwinden, etwa indem strafrechtlich festgelegt wird, dass im sexuellen Verhalten ein „Nein“ auch wirklich ein Nein bedeutet. Damit wird aber lediglich das Problem verschoben. Denn es gibt ja verschiedene Neins – das kategorische Nein, das flirtende Nein, das Nein, das sich vielleicht in ein Ja ändern könnte, das Nein, das sich auf die Tageszeit, nicht aber auf die prinzipielle Beziehung bezieht usw, usf.
Hier könnte die Rechtsprechung noch interessante Überraschungen parat halten.
Flasspöhler diagnostiziert:
„Worum es im Kern geht, ist die Eliminierung verunsichernder Ambivalenz.“
Mit Helmuth Plessner fordert Flasspöhler
„Takt – das Erfassen von Nähe- und Distanzbedürfnissen“.
Wobei man auch hier die Frage stellen kann, wie das gelingen kann, wenn es schon allein in Deutschland Dutzende Formen der Begrüßung gibt: Handschlag, Küsschen auf die Wange, Faustschlag, kurzes Winken, Küsschen auf den Mund, verbale Unterformen, feste Umarmung, lockere Umarmung usw. usf.
Abschließend Flasspöhler:
„Wann muss die Gesellschaft sich ändern, weil ihre Strukturen schlicht ungerecht sind – und wann muss das Individuum an sich arbeiten, weil es die Chancen, die es doch eigentlich hätte, nicht nutzt. Brauchen wir gesetzlich verankerte Frauenquoten oder geht es eher darum, Frauen zu ermutigen und zu ermächtigen, ihre Wünsche zu verwirklichen, und zwar auch gegen Druck und Widerstände?“
„Nicht jede Ungleichheit ist ungerecht und privilegienbehaftet. Es gibt Ungleichheiten, die aus eigener Anstrengung – respektive deren Unterlassung – resultieren.“