Montag, 21.4.09

Die ersten Vögel zwitschern um fünf Uhr morgens. Angenehme Morgendämmerung, aber ich habe noch zu wenig geschlafen. Im halben Dschumm weiß ich, dass mich trotz des wohligen Ausschlafens etwas bedrückt. Ich öffne die Augen, und es fällt mir wieder ein. Gerda im Rucksack in Philadelphia. Steffi ist ruhiger als ich, sie geht davon aus, dass man uns den Rucksack hinterherschickt. Aber was wenn nicht? Dieses Kuscheltier hat so ein Eigenleben entwickelt, dass wir es wie als eigenes Wesen empfinden. Es wäre undenkbar, einen ähnlichen oder selbst einen produktionsidentischen Steiff-Pinguin zu kaufen und für sich selbst zu behaupten, das sei Gerda. Zum ersten Mal verstehe ich das Leid von Kleinkindern, wenn sie am überfüllten Strand – die Mutter drängelt – den zerkauten Teddy beim Anziehen fallen lassen und erst nach einer Stunde schreiend den Verlust bemerken. Die Vorwürfe, es solle ihm eine Lehre sein, besser aufzupassen, helfen überhaupt nichts. Eine Stunde liege ich wach, bis ich wieder in einen oberflächlichen und unruhigen Schlaf sinke.

Ich bin natürlich der Erste beim Aufstehen. Auch Leslie ist schon wach. Brühe mir den Kaffee "türkisch", für Amerikaner eine Horrorvorstellung. "The crumbs!" Toast.
Was für ein Luxus, in diesem Haus leben zu dürfen. Stephen und Steffi stehen auch auf. Mumbo-Mumbo.

Ein Spaziergang durch den Wald und die Umgebung. Wir scherzen, dass wir, wenn wir Rentner sind, einen Antrag auf Greencard stellen und dann nach Virginia ziehen.
Wir nähern uns einem Nachbargrundstück. Die Hunde kommen angesprungen und bleiben zehn Meter vor uns wie verhext stehen. Stephen klärt uns auf: Hier verläuft ein elektronischer Zaun. Die Hunde haben ein Halsband, das irgendwie mit dessen Frequenz gekoppelt ist, und wenn sie sich dem unsichtbaren Zaun nähern, bekommen sie einen kleinen Stromschlag. Ein Gespräch mit einem Freund über Kunst und Politik unter freiem Himmel, die Frühlingssonne scheint am Morgen. Kann es einem besser gehen?

 

Wir kommen zurück, und kurze Zeit später klingelt es an der Haustür. Das Auto fährt sehen wir nur davonfahren. Es hat etwas abgeliefert. Ein roter Rucksack. Die Erleichterung bricht sich Bahn durch unsere Tränendrüsen.

 

Nun ist sie zurück. Und ganz die Dame, die sich jeder Situation anpasst, stellt sie sich in den Mittelpunkt buddhistischer Verehrung.

 

 

Mittag nach Charlottesville. Wir treffen zwei Improvisierer, mit denen Stephen am Vorabend eine Jam-Session verabredet hat. Man ist freundlich und doch checkt man einander vorher im Restaurant ab. Geht es überhaupt anders? Wir wollen miteinander improvisieren, also kann es mir helfen zu erfahren, welchen Hintergrund, welche Vorlieben, Stärken meine Mitspieler haben. Wir versuchen, kurz zu beschreiben, was wir so treiben. Aber schon die Erwähnung von Comedy und Keith Johnstone bringt einen Ausdruck auf ihre Gesichter, der so was sagt wie: "Ach so, alles klar, dieser Klamauk also." Wörtlich sagen sie nur, dass sie früher so etwas auch gemacht haben. Jetzt würden sie sich eher an Augusto Boals "Theater der Unterdrückten" orientieren. Sie beschreiben, dass sie Improtheater zu Coaching- und therapeutischen Zwecken nutzen. Ich frage sie, ob sie Daniel Wiener kennen, sie sind erstaunt, dass der mir ein Begriff ist. Und ich merke, dass das ganze Gespräch über Namedropping zu funktionieren scheint. Stephen und Steffi halten sich eher zurück. Ich erwähne noch Deniz Döhlers "Improv for Autism"-Projekt. Sie scheinen sehr interessiert, und dass wir uns damit beschäftigen, scheint wieder auszubügeln, was wir uns durch unser Komiker-Image versaut haben.


So sehr ich Fasching hasse, im Backstage probieren ich auch mal eine Maske.

Ans Werk. Ein Ball, eine Loopstation, eine Flöte, Stephens Geige, der eigene Körper, die eigenen Stimmen. Der Tänzer, die Therapeutin, der Musiker, die beiden Schauspieler. Was herauskommt, ist vielleicht nicht unbedingt als "künstlerisch wertvoll" zu bezeichnen, aber es ist nach all den zielgerichteten Proben auch mal wieder gut, einfach zu galumphieren. Sollte man nicht auch in Berlin mal wieder etwas offenere Jam-Sessions betreiben?
Ausgepowert zurück. Die Söhne von der Schule abholen. "Mumbo-mumbo!" "Dad, please!"
Der Hund der unmittelbaren Nachbarn nähert sich uns friedlich. Ich übe mich in Hundefriedfertigkeit, eine meiner Aufgaben für 2009. Er folgt uns wie damals der coole kleine Hund in Mallorca.

 

Den Abend verbringen wir mit Leslie und Greg, der sich nach einer Weile mit Gerda anfreundet und sich vor Lachen über Gerdas Tanzvideo fast bepisst. Leslie sagt uns, dass er auch einen Pinguin hat, was ihm natürlich peinlich ist. Aber holt ihn dann doch hervor.

Leslie erklärt uns ihren Hang zu SciFi-Literatur: Ihre Arbeit ist mit Leid verbunden, da will sie in der Kunst keinen Realismus. Sie empfiehlt mir mehrere Bücher. Ich bin unsicher, ob es die richtigen sind. Wenn schon auf den ersten Seiten Roboter oder Außerirdische die Protagonisten sind, habe ich schon keine Lust mehr.
Es wird spät und Leslie switcht sachte von der ernsten Unterhalterin zum albernen Gespräch mit Gerda.

21. April 2009
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