Nach über zwanzig Jahren ist nur wenig von den Gerüchen geblieben im ehemaligen Pionierhaus "German Titow": Im Erdgeschoss schwebte eine Wolke von Kinder-Klo-Geruch und dem Jugendschweiß der Rhönradfahrer und Tänzer. Im ersten Geschoss, wo man die Schreibzirkel, den Russisch-Club und lange Zeit auch die Kinderbibliothek fand, roch es nach altem Papier und Büchern. Näherte man sich dem Kinosaal roch es nach den gepolsterten Holzsitzen, die einem schon die Filmaufregung vorab ins Hirn trieben, inklusive Streit mit den vor einem Sitzenden, die ihre Köpfe immer viel zu hoch reckten. Bei den Bastlern roch es nach Kolophonium, gebranntem Holz und Leim. Die Elektro-Techniker unter ihnen hängten ihre zusammengeschraubten Geräte an die Wände – zum Spielen für einfache, von Elektronik unbeleckte Kinder, darunter Knobel-Rechner mit Lämpchen, ein 60×60 Zentimeter großer Taschenrechner, und ein Fernseher, auf dem man Pong spielen konnte, wobei ich vermute, dass die Kunst hier darin bestand, die geklaute Software ohne Probleme auf einen DDR-Steinzeit-Rechner zu übertragen. Im obersten Geschoss übte das Orchester. Und ganz oben, unterm Dach – viele ahnten wahrscheinlich nicht einmal, dass es dort weiterging, wurden die Instrumental-Schüler einzeln in Rhythmus, Kinn- und Fingerhaltung gedrillt. Es roch nach Dachboden, Taubenschiss und Klarinettenspucke. Letzteres bildete ich mir zumindest ein. Denn ich selber kam jede Woche donnerstags mit einem Klarinettenköfferchen und dem schlechten Gewissen, nicht genug geübt zu haben, ins Pionierhaus. Westler glauben ja oft, man hätte in solchen Häusern nur Zutritt mit Halstuch gehabt. Das Politische war dabei völlig nebensächlich oder, wie im Fall des Orchesters, praktisch gar nicht vorhanden.
Und nun sitzen dort die Puppenspieler der Schauspielschule Ernst Busch. Sicher nicht die schlechteste Verwendung für solch ein Haus. Man hätte es Berlin auch zugetraut, dass sie dort eine Unterabteilung der Senatsverwaltung für Verkehr plazieren. Und doch – mir wird mulmig, als ich durch die Gänge schlendere, kribbelig auf der Suche erhaltener Spuren – eine einzige unrenovierte Tür, ein ungestrichenes Geländer oder eine kleine Skulptur. Kaum etwas finde ich wieder: die Schaukästen am ehemaligen Kino gibt es noch. Und eine leichte Ahnung des Geruchs von früher. Aber vielleicht bilde ich mir den auch nur ein.

*

Zumurrud ist weiterhin bekümmert über das Fehlen von Alî Schâr und sie spricht sich durch Gedichte Mut zu, etwa:

Bezähme deinen Sinn, wenn dich der Zorn ergreifet;
Und sei geduldig, wenn ein Unglück dich befällt.
Denn siehe da, die Nächte sind vom Schicksal schwanger,
Sie lasten schwer und bringen manch Wunderding zur Welt.

Als sie dem noch ein langes Gebet anfügt, tritt ein Jüngling zum Tor herein;

dessen Wuchs glich dem eines Weidenzweiges, doch sein Leib war abgezehrt, und Blässe lag auf seinem Antlitz.

Und ausgerechnet vor der unglückbringenden Reisschüssel setzt er sich nieder, doch Zumurrud darf nicht zeigen, dass sie ihn kennt.
Flashback: Als er aus seinem Schlaf erwacht war und sich beraubt fand, kehrte er zur Alten zurück, der er sein Leid klagte.

Sie schalt ihn so lange, bis ihm das Blut aus der Nase strömte.

324. Nacht
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