In meinem Hof steht ein Dreirad. Angeschlossen. Ich weiß nicht, wie lange es dort noch stehen wird. Es hat Michael Stein gehört. Michael Stein, der am Mittwoch, dem 24. Oktober 2007 gestorben ist.
Das erste Mal habe ich Michael Stein 1997 bei der Reformbühne Heim und Welt gesehen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen las er nicht vor, sondern hielt Reden. Er improvisierte Predigten auf Grundlage von Zeitungsschnipseln, Wissenschaftsmeldungen, deren Sinn er radikal zuende dachte. „Gott hat mir eine Stimme gegeben, damit ich zu euch spreche“, mit diesen Worten leitete er lange Zeit das legendäre Gebet gegen die Arbeit ein: Arbeit, Geißel der Menschheit…
Für ihn war Arbeit tatsächlich eine Geißel. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Lebenszeit damit zu verschwenden, sinnlose Produkte auf Befehl zu produzieren. Wenn Michael Stein auf der Bühne sprach, wurde man als Zuhörer recht schnell aus den Denkgewohnheiten geworfen. Als die NPD 1998 im Wahlkampf die Parole „Arbeit zuerst für Deutsche“ plakatierte, rief Stein dazu auf, die NPD „rechts zu überholen“, da er als Deutscher von solch einer Forderung ja betroffen sei, und Arbeit das letzte sei, was man von ihm fordern könne. Und auch von den Lesebühnen verschwand auch der Bühnenarbeiter Stein immer wieder für einige Monate, und nur wenige im Publikum ahnten, dass die vorgetragenen Entschuldigungen seiner Kollegen: „Er hat gerade keine Lust, hier zu arbeiten“, „Er hat sich beim Vom-Gerüst-Fallen die Lunge verletzt“, „Er ist im Gefängnis“ völlig der Wahrheit entsprachen.
War Provokation sein Medium oder war sie sein Zweck? Er bemühte sich um eine Kolumne in der Jungen Freiheit, nur um seine Freunde, die es sich so behaglich in ihrem linksradikalen Knusperhäuschen eingerichtet hatten, zu nerven. Er nannte seine Kollegin Ebony Browne „Neger“. Er hielt sich Luftschlangenrollen an die Schläfen, und erst als er sie sich bis auf den Boden entrollen ließ, erkannte man, dass er einen Juden mit Schläfenlocken mimte. Wenn er gegen BVG-Kontrolleure in Wut ausbrach, war er kaum zu stoppen. Ob das Gerücht stimmt, dass er bei einer Veranstaltung sein Glied entblößte, lässt sich aus den damals anwesenden Mitgliedern nicht herausquetschen. Stein wurde wegen Besitzes einer Luftdruckwaffe verhaftet und schlug einen früheren Freund krankenhausreif. Mir schien, dass er seinen Provokations- und Gewaltimpuls erkannte und ihn für die Bühne nutzbar machte, er war sein Instrument. Und gleichzeitig sah er auch die Gefahr, die dieser Impuls für sein Leben darstellte. Er belegte ein Anti-Gewalt-Training und wandte sich dem Buddhismus zu. Viele der Zuschauer hielten die Vorträge darüber für einen Gag, so wie sie das „Nazis rechts überholen“ für einen Gag hielten, und so wie sie es auch für einen Gag hielten, als er auf der Bühne seine Krebs-Diagnose verkündete. Ärzte stammen von Friseuren ab, sie wollen nur abschneiden, entgegnete er allen, die ihn davon zu überzeugen versuchten, sich operieren zu lassen. Litt Stein an Witzelsucht? Hatte er sich in seiner Radikalität, sich von niemandem vorschreiben zu lassen, was er zu tun habe, verrannt? Oder war es ihm womöglich klar, dass er bald sterben würde und dass er die Zeit, die er hatte nicht mit solchem quälenden Schnickschnack wie Operation an der Lunge verschwenden solle? Ich fürchte, Stein hat sich überhaupt nicht entschieden.
Stein konnte überaus komisch sein und wäre ein großartiger Schauspieler geworden. Er parodierte lebensnah Max Schreck, Andreas Gläser, Eberhardt Cohrs.
Stein war auf eine seltsame Weise freundlich. Ich habe ihn fast nur lächelnd erlebt. Den Buddhismus haben wir gleichzeitig entdeckt, distanziert, so wie man eine neue, faszinierende Musik entdeckt. Er empfahl mir Thich Nhat Hanh („Das erste Ziel ist Froschlosigkeit“), ich schenkte ihm meine Übersetzung von Stephen Nachmanovitchs „Free Play“ („Das Tao der Kreativität“). Gestern stand seine Freundin vor der Tür, sie gab mir etwas, „das Stein von dir immer aufgehoben hat“: Eine Zigarette. Langsam erinnerte ich mich wieder – Stein hatte mich vor vielleicht sechs oder sieben Jahren um eine Zigarette gebeten, ich gab ihm eine, nicht ohne sie zu beschriften: „Für meinen alten Kumpel Michael Stein. Dan“, was zu diesem Zeitpunkt von mir beinahe anmaßend war – ich kannte Stein nur von wenigen Gesprächen und acht bis zehn gemeinsamen Auftritten. Es war aber nicht nur eine Anmaßung, es war ein Freundschaftsangebot. Dass er diese Zigarette nicht geraucht, sondern aufgehoben hat, verstehe ich jetzt als Annahme des Angebots.
Ich hatte Stein Anfang Oktober dabei geholfen, das Dreirad in den Hof zu schieben. Er war schon zu schwach. Herbstlaub sammelt sich jetzt im Korb des Fahrrads. Ich sehe es jeden Tag, wenn ich aus dem Fenster schaue.
***
Die entrüsteten Christen reiten gegen Scharkân an.
Ein Beispiel für die seltsamen Prosareime (bzw. ihre seltsame Übertragung ins Deutsche):
Da vereinigten sich alle wider Scharkân und zeigten ihm Schwert und Lanze, und sie stürmten zum Streite und blutigen Tanze. Heer stieß auf Heer in Kampfeslust, und Huf trat auf Brust. Lanzen und Schwerter hatten zu schaffen, Arme und Hände fingen an zu erschlaffen, und die Rosse sahen aus, als seien sie ohne Beine erschaffen; und der Kampfesherold rief immerdar, bis jede Hand ermattet war und der Tag zur Rüste ging und die Nacht alles mit Dunkel umfing. Da aber trennten die Heere sich; und es war, als ob jeder Held einem Trunkenen glich, ermattet von Schwerthieb und Lanzenstich. Der Boden war übersät mit Leichen, und furchtbar waren die Wunden; doch keiner, der fiel, wusste, durch wen er den Tod gefunden.
Lyrik war wohl nicht die Stärke von Enno Littmann.
Scharkân heckt nun einen Plan aus: Dau el-Makân und der Wesir Dandân sollen sich mit 20.000 Reitern in einen Hinterhalt legen, und Scharkâns Truppen werden eine Flucht vortäuschen.