So, 3.9.06
Kaufe bei Ebay „Laws of Form“ von George Spencer Brown
Impro-Coaching. Meine Beobachtungen werden immer schärfer. Die Coachings erreichen selbst die Qualität einer guten Improvisation – gute Eleganz und totaler Flow.
Laufe die große Runde durch die Rummelsburger Bucht und Friedrichshain. Die neuen Adidas-Schuhe sind eine große Enttäuschung. Schmerzen in Füßen und Knien. Ich werde sie zurückgeben.
Für Jochen sei das Auftreten derzeit harte Arbeit, ein Job, meint er.
Eine weitere Enttäuschung: „Drei Farben: Blau“. Schöne Farbspiele und gutes Schauspiel, und doch langweile ich mich zu Tode. Frau verliert Ehemann und Tochter. Bezwingt stark ihr Leiden und bemüht sich um Härte, ist aber sehr zart. Am Ende ist sie noch stärker und zarter. Müsste mir noch mal erklären lassen, wer den warum gut fand. Ich fühle mich wie früher, wenn meine Eltern französische Filme geguckt haben und dabei sichtlich mitgenommen waren, während ich nur mit den Schultern zuckte, wenn der Liebhaber von Romy Schneider beim Autounfall stirbt.
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Die Tragödie des Jahres beginnt bei Jochen, so wie bei Tragödien üblich, mit einem schönen Abend: „Am Morgen gemeinsam aus dem Haus. Plötzlich will sie, dass ich schon vorfahre, damit eine Kollegin mich nicht sieht. Seitdem ist alles anders, aber nicht besser. Jetzt bin ich der, der wartet.
Der Reiz des Zustandswechsels der Seele beim Verlieben.
„… dass die Seelenbewegungen, die uns ein an sich ganz unbedeutendes Mädchen verschafft, uns vielleicht erlauben können, tiefere Bezirke unseres Innern in unser Bewusstsein hinaufzuführen, persönlichere, entlegenere, wesentlichere Regionen, als das Vergnügen der Unterhaltung mit einem bedeutenden Mann…“
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Mo, 4.9.06
Letzte Mails vor der Abreise. Bläschen im Mund noch größer und schmerzhafter. Brötchen bei Kaisers, die ich dann später kaum runterkriege. Behandlung mit der Zaubercreme der Eltern, die tatsächlich wirkt.
Rückgabe der Adidas-Schuhe kein Problem. Fußknochen schmerzen nach wie vor. Probiere Asics aus, der Verkäufer bestärkt mich, ohne meine Absicht zu kennen. Sie passen gut. Gleich das gute Laufgefühl wie bei den Schuhen 2001.
Impro-Auftritt in L. Vorbereitungsroutinen – C. braucht ihren mindestens 15 Minuten dauernden Soundcheck wie andere ein physisches Warm Up. Es gäbe nichts schlimmeres, als wenn die Mikros von vornherein OK wären. Das Publikum jubelt. C. + M. genießen den Zuspruch, ich halte mich zurück. N. nach dem Auftritt schweigsam. Er wird wissen, warum.
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J.S.: „Im Rahmen eines Studiums der Literaturwissenschaften müssten die Studenten eigentlich zum Durchleben von emotionalen Grenzsituationen angehalten werden, damit sie die Komplexität bekommen, die man braucht, um große Texte zu verstehen.“
In der Hoffnung, die jungen schönen Mädchen wiederzusehen, verzichtete Marcel lang auf den Besuch beim Maler Elstir. Jetzt trifft er sie ausgerechnet hier bei ihm.
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Di, 5.9.06
XXX konnte ihre Eitelkeit kaum verbergen. Seltsam, wie Eitelkeit, Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex Hand in Hand gehen. Großzügigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, Selbstbewusstsein wären angebracht.
Easy Jet. Unterer Mittelstand, der es auch nicht so dicke hat, und deshalb billiges Fliegen zu schätzen weiß. So wie wir. Wir sind die letzten. Sitzen hintereinander. Ich immerhin im Gang, aber Sitze so eng, dass ich mir entweder die Knie abklemme oder die Beine in den Gang halten muss. Nach einer guten Stunde schlafe ich ein und wache im 5-Minuten-Takt wieder auf.
Zum ersten Mal in Mallorca. Osküste – Cala de Rajada. Preise und Angebote zweisprachig Deutsch/Spanisch oder Deutsch/Katalan. Hungrig und in der zweifelhaften Hoffnung, etwas anderes zu finden, gehen wir Richtung Hauptstraße. Dort noch schlimmer. Man sieht keine Spanier auf der Straße. Nur deutsche Touristen. Die Straße gesäumt von Touristenbedarf-Läden, Zeitungskiosken und Restaurants, deren Angebot bis hin zum Döner-Imbiss auf deutsche Bedürfnisse orientiert sind. Die wenigen Spanier, die man überhaupt zu Gesicht bekommt, sind Bedienung, Verkäufer und Dienstleistende. Wir nehmen es zur Kenntnis und versuchen, uns innerlich so zu justieren, dass wir die folgenden Tage unbeschwert überstehen.
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Jochen arbeitet sich an einem rumänischen Storytelling-Überflieger ab.
Marcels erotische Wünsche schrumpfen zusammen, wenn sie erfüllbar werden.
Jochen zieht Freud zu Rate, der dieses Verhalten mit dem Abgrenzen der Mutter vergleicht. Ich denke, man braucht nicht unbedingt das freudianische Märchenbuch. Dem Schwärmen liegt die Angst zugrunde, dass die Wirklichkeit enttäuschen könnte. Die Angst kann ja so weit gehen, dass man sich absichtlich schwierige oder im Ausland lebende Frauen sucht, mit denen die Beziehung praktisch von vornherein auf Zerstörung angelegt ist. Und natürlich ist die Angst auch manchmal berechtigt, aber eben auch nur dann, wenn man überhaupt Erwartungen hegt, anstatt Erwartungen abzulegen, aber wer ist so frei?
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Mi, 6.9.06
In fünf Minuten lese ich die Kurzversion des Buchs „Die fünf Sprachen der Liebe“. Es sind diese:
– Körperliche Nähe
– Beschenken
– Miteinander Dinge tun
– Füreinander Dinge tun
– Einander loben
These des Buches: Wir sprechen verschiedene Sprachen der Liebe und sind für verschiedene Sprachen empfänglich. Ich spreche wahrscheinlich die Sprache der Nähe und des Füreinander, es hapert beim Schenken und beim Loben. Aufs Schenken reagiere ich gehemmt, und es fällt mir auch schwer zu schenken. Es fällt mir manchmal sogar schwer, das Schenken als Liebesbeweis anzusehen, es erscheint mir oft wie ein Surrogat. Loben auch ein heikler Punkt: Inzwischen kann ich Lob akzeptieren, aber es euphorisiert mich nicht. (Oktober 2008: Wie sich das geändert hat!)
Volker und Jochen loben sich gegenseitig:
Jochen: „die cartoons sind echt klasse, sieht professionell und trotzdem eigenwillig aus und sind außerdem witzig, mehr davon!“
(Aus diesen entwickelt Volker später die Cartoonserie „Kloß und Spinne“)
Volker: Vielen Dank. Eine gute Gelegenheit, auch ein Lob loszuwerden: Das Proustblog ist nach wie vor meine liebste Internetlektüre auch wenn ich die Sache, die sich mit der Handlung des Buches beschäftigen nur überfliege
Vorsichtig joggen. Ruhige 40 Minuten auf sehr hügligem Gebiet. Wahrscheinlich sind es kaum mehr als5-6 Kilometer. Aber die Fußknochen tun immer noch weh.
Gemeinsam in die Stadt zum Hafen. Kleinere Straßen sind schon angenehmer, doch am Hafen selbst wieder Touristenhölle. Einfallslose Restaurants. Alle mit exakt demselben Angebot: Suppen, Vorspeisen, Omelettes, Paella, Fleisch, Fisch. Setzen uns in eines der etwas ruhigeren und werden schlecht bedient. Es gibt keine Getränkekarte, bestellte Oliven werden nicht serviert, die Bedienung verschüttet Wasser auf Steffi, und ihr einziger Kommentar lautet: „Ui!“
Hinter uns eine deutsche Familie, zwei Eltern, die ihre beiden Kinder Dorothea und Julius halbherzig von jeder Aktivität abzuhalten versucht.
Ruhige Bucht Cala Gat am Nachmittag. Das Wasser ist warm und klar.
Überlege, wann ich das letzte Mal im Meer geschwommen bin. Es dauert eine Weile, bis ich herausfinde, dass es 2004 in Sharm El Sheik war, wo ich in der Shark Bay schnorchelte.
Die alten Uhren im Kloster zeigten sie die Zeit nicht an, sondern verkündeten sie. Clock – Clocke – Glocke.
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J.S: Man meidet Mitmenschen, um das anstrengende Nachjustieren der Selbstwahrnehmung zu vermeiden.
Bei Frasier gebe es eine Folge, in der ihm in einem Holzhäuschen in den Bergen alles Exfrauen erscheinen. Horst Evers hat dieses Grauen noch verschärfter dargestellt: Er ist in einem Café mit seiner Ex verabredet. Als er dorthin kommt, sitzt nicht nur sie am Tisch, sondern laute dickliche Typen mit Haarausfall und rotem Hemd.
Die Begegnung mit Albertine kann er nur als Foto-Negativ erfahren, den Genuss hätte man nur allein daheim in der Dunkelkammer.
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Do, 7.9.06
M. hat seine Diplomarbeit abgegeben, die der Grund für seine lange Unzufriedenheit war. Er weiß noch nicht, dass er in eine Nachstudiumsdepression verfallen wird.
Die Ebay-Auktion der 37 Vinylplatten hat 48 Euro gebracht. Mehr als erwartet. Wenn man andererseits bedenkt, wie oft ich den Zwanziger in der Hand zweifelnd geknüllt habe.
Jochen mailt dem „Internationalen Literaturfestival“ zum vierten Mal, dass Sie aufhören sollen, uns ihren Spam zu schicken. Das wird auch in den folgenden Jahren nichts bringen.
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Für Jochen ist es unklar, dass sich „Ausländerinnen“ darüber ärgern, wenn er sich über ihre hübschen Fehler amüsiert. Das ging mir eine Weile auch so, bis ich es umgekehrt erlebte. Man legt alle sprachliche Kraft aber eben auch emotionales Engagement in das Bemühen, dem anderen etwas mitzuteilen, dem das dann weniger wichtig ist als sein privates linguistisches Amüsement.
J.S.: „Schade, dass aus Prousts Zeit ausgerechnet das Diabolo überlebt hat und nicht zum Beispiel das Korsett.“
M.P.: „Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen vor Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mussten.