Fr, 9.9. 06
Vor ein paar Tagen war die Chaussee für Jochen nur ein Knochenjob, jetzt schreibt er liebevoll: „wie sehr die show therapie und heimat ist, ich könnte mir kaum vorstellen, wie man noch ohne das vor sich hin leben sollte.“
Wir haben uns darauf geeinigt, den Eintrittspreis zu erhöhen, aber beim RAW darauf zu drängen, dass die Toiletten saniert werden. In den folgenden zwei Jahren sagt man uns immer wieder zu, das zu tun. Wie nett!

Jogge morgens zum Bäcker, um Brötchen zu holen. Unschöne Situation beim Supermarkt, als ich, nachdem ich mein Obst bezahlt habe, nach der Tüte greife, die mein Vorgänger liegen gelassen hat. Als der Verkäufer sie mir wegzieht, deute ich auf mein Brot und er ereifert sich darüber, dass ich eine Tüte haben will für Einkäufe, die ich nicht in ihrem Supermarkt gemacht habe, statt sie mir zu verkaufen oder zu verschenken. Ich frage mich, warum es ihm gelingt, mir 10 Minuten lang die Laune zu verderben.
Die Beziehungsstreits hier im Urlaub sehe ich als Testlauf fürs Zusammenziehen.
Verbringe den Tag damit, alte Texte zu korrigieren.
Blitzlektüre des Feng-Shui-Buchs. Egal, ob das nun wirklich von den Chinesen stammt oder eine von Westeuropäern aufgeschäumte Bestattungs-Lehre ist – die Bilder sind wirkungsmächtiger, als wenn man sagen würde: Räum mal dein Zimmer auf und häng statt der Zierwaffen ein grünes Tuch an die Wand. Einen echten Esoteriker macht aus, dass er den Hokuspokus wörtlich nimmt, an Geist-Schildkröten und „verborgene Schwingungen“ glaubt.
Pünktlich 18.45 Uhr verlassen die Urlauber den Strand. In den Hotels wird gleich das Abendbuffet eröffnet.
Abends weiter im Buch über Zeit. Regeln des Wartens. Derjenige der warten lässt, signalisiert einen höheren Status. Wer einen höheren Status hat, kann sich auch unvermeidliches Warten versüßen (z.B. in der VIP-Lounge im Flughafen) oder abnehmen (z.B. bei Behörden) lassen. In Brasilien wird demzufolge Pünktlichkeit mit Erfolglosigkeit assoziiert. Meine sich herauskristallisierende Regel: Sei selber über-pünktlich und sei so großzügig wie möglich mit der Unpünktlichkeit anderer. Schwierig nur, wenn durch Unpünktlichkeit Kooperation maßgeblich zerstört wird.

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Wie sehr die Rezeption eines Werkes beeinflusst wird durch den seelischen Zustand. Das ist vor allem bei Kritikern ärgerlich, die nicht in der Lage sind, ihre Gemütsverfassung zu reflektieren.
Jochen fragt lieber nicht nach, mit wem „die Pankowerin“ an die Ostsee gefahren ist. Sie schreibt ihm (SMS oder E-Mail?) „Schwimme nicht weit raus, tauche aber tief.“ Wenn er damals nur ihre Worte verstanden hätte.

Marcel ärgert sich über die neumodischen Sandwiches, die nichts sind im Vergleich zu den von ihm geliebten Törtchen und Kuchen.
JS: „Zum Glück hat Marcel nicht in der DDR gelebt und mitansehen müssen, wie mehr als nur Kuchen und Törtchen vom Markt verschwanden.“
Das Glück des Jochen Schmidt, der spendable Westverwandte hatte und sich nicht mit dem Plunder des Ostens – Ostjeans, Ostschokolade, Ost-Füller – zufriedengeben musste und diesem jetzt hinterhertrauern darf.

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Sa, 9.9.06

Kleine unhörbare Mücken, die einem die Nacht vermiesen.
Traum über Bohni und Oz, die über das furchtbare Kantinenlesen bei der Radio Eins Party herziehen. Sitzen in einem Raum, und Flake und Paul von Feeling B tauchen auf, später auch Aljoscha mit Rastazöpfen, besoffen wie immer. Ich denke, der war doch schon tot und vermute, dass ich mich ja dann wohl in einem Traum befinden muss. Wenn das aber so ist, dann werde ich, so denke ich, mir auch Ralf herbeiwünschen können. Es funktioniert nicht.
FAZ – Belangloses. Bildunterschrift zu jubelnden schwedischen WM-Fans: Glückliche Schweden. Attraktiver Immobilienmarkt in Schweden wegen steigender Mieten. Ist die PDS in Mecklenburg doppelzüngig, weil sie gleichzeitig Oppositionspartei und Regierungspartei spielt? Als Höhepunkt das lange Interview mit einer sich souverän gebenden Natascha Kampusch. Widerwärtiger noch als BILD sind die profilsüchtigen Psychiater, die sich mit ihren Ferndiagnosen vor die Kameras drängeln.
Gegen 16.20 Uhr begebe ich mich auf einen längeren Lauf. Angepeilt sind 80-110 Minuten. Bis zum großen Strand von Cala Ratjada, dann quer durch die Stadt, so weit an die äußeren Grenzen, bis die Schnellstraßen beginnen, quer durch staubige Wege. Landgüter von Wohlabenden, Pferdehöfe, dann wird es staubig, eine Wasseraufbereitungsanlage, komme in Capdepera heraus und verliere langsam die Orientierung, will einen großen Bogen laufen, um nicht einfach wieder zurückzulatschen, und weiß am Ende nach ca. einer Stunde gar nicht mehr, wo ich bin. Immer am Wasser lang. Denke, da wo die Massen herkommen, wird sich schon Cala de Ratjada befinden. Habe auch keine Karte im Kopf. Komme dann tatsächlich an der Hafenseite heraus, laufe weiter bis zur Cala Gat, wo ich mit Steffi verabredet bin, die von der anderen Seite gerade ankommt. Ca. 80-85 Minuten Auf einer sechs Meter hohen Klippe sonnt sich ein vielleicht 25jähriges Mädchen, es geht sehr steil hinab, sie weckt Beschützerinstinkte.
Im Wasser toben sechs Männer im Alter von 25 bis 45. Tätowiert, biertrinkend, zu Leibesfülle neigend, aber nicht völlig sich gehen lassend. Spekuliere, wie sie zusammengehören könnten. Vielleicht Bundeswehr.
Schwimme noch ¼ Stunde.

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Ein Journalist verrät Jochen einen Teil der Geschichte. Ist es egal, ob man den Verlauf der Story kennt? Das kindliche „Noch mal“. Das schöne Musikstück hört man immer wieder gern, manchmal funktioniert es bei Filmen, seltener bei Büchern. Geschichten bei Lesebühnen funktionieren selten mehr als drei Mal.

Marcel nun in Albertine verliebt. Man achtet aus egoistischen Gründen mehr auf sich selbst. Er will sie küssen, aber sie „schellt mit aller Macht“.

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So, 10.9.06

Matze verzichtet auf die Reise nach Odessa und lässt mich an seiner Stelle fahren, zwei Monate nach Jochen. Werde Russen das Improvisieren beibringen müssen.
Steffi hat eine Aussichtsplattform entdeckt. Mir ist es zu hell, und die Aussicht beeindruckt die mehr als mich. Als Liebesbeweis bleibe ich eine Stunde mit ihr da hocken.


Weiter im Zeit-Buch. Man muss sich durch viel Anekdotisches kämpfen. Dann ein schönes Kapitel über den seltsamen Umgang der Japaner mit der Zeit. Anscheinend gelingt es ihnen, in kürzesten Augenblicken zwischen ruhig und schnell hin und herzuschalten. Darüberhinaus puffert ein ausgeprägtes Sozialverständnis und Zusammengehörigkeitsgefühl zu Gruppe und Firma die Auswirkungen schnellen Arbeitens und die hohen Arbeitsstunden ab. Es scheint sogar so, als sei nicht das schnelle Arbeiten an sich schädlich, sondern das so oft damit verbundene Konkurrenzdenken und die Feindseligkeit. Außerdem kann man von ihnen lernen, Wege nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als solche zu genießen. Jede Stufe ist ein Wert für sich. Entscheidend sind sie Zwischenräume.
Es gilt, die Fähigkeit zu trainieren, den Geist und Körper umstellen zu können von schnell auf langsam und umgekehrt. Wie im Kampfsport, im Tanz und im Theater.
Immer wieder: Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für den Moment – aber woher nehmen, wenn man z.B. gerade an Schmerzen leidet? Aufmerksamkeit ist ja auch harte Arbeit.
Spazieren wieder zur Stadt. Abendessen in einem der billigeren Restaurants, da wir annehmen, dass es ohnehin überall gleich billig schmeckt. Was für ein Irrtum. Schlechter geht’s kaum. Nehmen es mit Humor.
Unangenehme Nacht. Wir werden von Mücken geplagt und können uns nicht wehren. Verstecken uns trotz der Hitze untern den Decken und ziehen deswegen durch unseren Schweiß, der auch das Anti-Mücken-Spray überdeckt, die Mücken an.

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Jochen schwänzt die Lektüre.

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Mo, 11.9.06

Die Restaurants sind hier nicht darauf ausgerichtet, dass Leute wiederkommen, die mehr wollen als Geld sparen, nachhaltige Bewirtschaftung der auf einer Insel sinnlich absehbar begrenzten Ressourcen gibt es nicht.
Südwind hat Müll in die Bucht Cala Gat getrieben. Seltsame Aktivitäten, die von den Besatzungen der beiden Boote ausgehen. Alles wirkt sehr umständlich. Vom einen Boot brauchen sie fast eine Stunde, bis drei Schnorchler ablegen und zur Klippe schwimmen, das andere Boot braucht auch lange, bis endlich ein Schlauchboot mit zwei Männern ablegt.
Als Levinaus dem Reisetrance zurück an die Uni kommt, rutscht er sofort wieder in die alten Muster. Er stellt sich dann die Aufgabe, vor jeder zu erledigenden Sache, sich zu fragen, ob er sie a) machen muss und ob er sie b) machen möchte. Die Quote von a) ist erstaunlich niedrig, die von b) erstaunlich hoch. Wir haben es also in der Hand, wie sehr wir gestresst sind.

*

Jochen erinnert sich der alten Klettergerüste, die sich logischerweise da am besten anfühlten, wo die Schutzfarbe abgegriffen war.

Dass Jochen bisher bei Proust noch keine Stil-Zitate erwähnt hat, lässt darauf schließen, dass er sie nicht erkennt oder nicht die entsprechende Brille trägt.

9.9.06 – 11.9.06
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