Di, 12.9.06

Eigentlich wollten wir den Sonnenaufgang sehen, aber das Wetter lässt es nicht zu. Kann man am Meer nur Untergänge sehen. Stehe trotzdem früh auf. Im Walkman Tokio Hotel und Morrisey. Was fand Lottmann noch mal an Tokio Hotel gut? Dass sie ihre Songs selber schreiben?
Auch Volker reiht sich ein in die Liste der höflichen Beschwerdeführer gegen die Spammer des Internationalen Literaturfestivals: pr@literaturfestival.com ; webmaster@literaturfestival.com info@literaturfestival.com; beschwerdeabteilung@literaturfestival.com. Ebenfalls erfolglos. Einen Tag später rastet er aus, als man uns erneut bespammt, und das, obwohl er am Festival teilnimmt.
Am Cala Gat wäre das Baden zu eklig, es schwimmt immer noch der Müll von gestern in der Bucht.
Spazieren den Strand wieder Richtung Son Moll, wo das Meer kräftig spritzt. Ich und ein anderer Deutscher, sind die einzigen, die sich hineinwagen.

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DIE WELT DER GUERMANTES

Jochen ventiliert die Möglichkeit einer Performance, literarische Werke parallel zu ihrer Erzählzeit zu lesen. Bei Zeitsprüngen in der Erzählhandlung von zwei Monaten müsse man dann eben zwei Monate warten. (Das könnte bei Proust schwierig werden, da er ja oft mehrere Seiten der Schilderung eine momentanen Eindrucks widmet). Ob das eine künstlerische Performance sei, entscheide dann die Künstlersozialkasse. In der Beschreibung des sozialen Systems KUNST vergaß Luhmann tatsächlich die KSK als Mitspieler. Sie beobachtet sozusagen mal mit ökonomischem Monitor, mal mit kunstinternen Begriffen, setzt aber juristische Definitionen für die Kunst, die wiederum für den Einzelnen ökonomische Konsequenzen haben können, egal was die Kritiker sagen oder ob sie überhaupt was sagen.

“Die Familie ist umgezogen”.
Guermantes?

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Essen die mallorquinischen Brötchen, die uns der Vermieter mitbringt, weil er glaubt, sie seien besser. Er irrt.
Carsten Neumann ist der Einzige aus meiner alten Schulklasse, dessen Geburtstag ich nie vergesse. Aber ich habe ihn seit 1983 nicht mehr gesehen außer einmal, als er in einem roten Cabrio langsam an mir vorbeifuhr, ohne mich zu erkennen.

15 km joggen. Treffen Oliver Feistmandl, den Maler dieser seltsamen Comic-Fische, den wir auf der AIDA kennengelernt haben und um den es einen kleinen Hype zu geben scheint, zumindest verkauft er seinen Kram entsprechend. Auch er kennt Mallorca seit seiner Kindheit und kommt seit 20 Jahren immer wieder hier her. Titel für eine Diplomarbeit: “Die Westdeutschen und Mallorca – eine ethno-historische Studie”.
“Mind-Boggling” von Max Goldt, das er zu der Zeit geschrieben haben muss, als ich erstmals durch Timo Rehm auf ihn stieß.

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Jochen über nervöse Handlungen: Selbstberührungen, Fingerknacken, Zappeln. Leise Geräusche stören mehr als Flughafenlärm. “Die Leistung, die Klänge eines Klaviers als wohltuend zu empfinden, erbringt ja mein Bewusstsein, es kann also das gleiche auch mit der Tröte vom Eisauto tun.” Welche sicherlich dissonanter und obertonärmer klingt als das Klavier. Dennoch – Thich Nath Hanh gelang es sogar durch Meditation die Geräusche von Hubschraubern, die ihn einst im Vietnamkrieg traumatisierten, positiv zu besetzen.

Marcel dringt nun in die für ihn völlig fremde und aufregende Welt des französischen Hochadels ein, so wie einst Jochen in die Welt der Westdeutschen.
Gab es Adlige im Osten? Jochen fällt Manfred von Ardenne ein. Noch bekannter dürfte allerdings Karl-Eduard von Schnitzler gewesen sein.

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Do, 14.9.06

Spaziere mit Mozart auf den Ohren zum Bäcker. Versuche es mit der Es-Dur-Sinfonie. Wenn bei Mozart die Pauken ins Spiel kommen, verliere ich schon die Lust bei dem Pathos, das sie suggerieren und für das Beethoven dann die Lorbeeren erntete.
Während ich im Wasser bin, beginnt am Strand eine Fotosession. Er hat eine etwas schwächliche Stimme und brüllt ihr über eine Entfernung von ca. 10 Metern Kommandos zu, die manchmal vom Meeresrauschen übertönt werden. Durch seine Anstrengungen und auch durch einen seltsamen Unterton wirkt es alles sehr autoritär und etwas unprofessionell. Das Model hat eine modelhafte Rundum-Bräune, modelhafte Blondhaare, ein Bauchnabelpiercing und weiß, wie man Model-Posen einnimmt. Der blaue Bikini wird dann ausgezogen, ein paar Nacktfotos, ein pinker Bikini. Angegeilte Klischee-Fotos für den Kalender. Sie ahmen die Posen nach, die man schon kennt. Das seltsame Genre der Mode-Fotos, die mit am Meer laufenden Models spielen.

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Jochen liest bei der Chaussee einen proust-inspirierten Text, und ich kann ihn nicht hören. “Wie alle Texte, die mir gelungen vorkommen, hat er sich von ganz allein geschrieben, er war schon da, ich musste ihn nur noch ausformulieren.” Wie Michelangelos Statue, die sich schon im Stein befindet, er muss sie nur befreien. Kreative Trance, wie sie Nachmanovitch beschreibt.

Jochen markiert eine verlorene Praxis: “Im Theater die Muskeln seines Gesichts zur Unbeweglichkeit zwingen, um, wenn auch unbemerkt, einen Protest zu dokumentieren.” Dabei tun wir das bei der Chaussee fast unwillkürlich bei den schlechten Gastbeiträgen am Offenen Mikro, vor allem wenn das Publikum von unserer Meinung abweicht, sitzen wir mit starren Gesichtern da, dabei wollen wir doch wenigstens höflich sein.

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Fr, 15.9.06

Mittagessen im Olivos. Trotz besseren Wissens bestelle ich mir eine Lasagne. Wie dumm! Bei einem Spanier eine gute Zubereitung eines italienischen Gerichtes zu erwarten! Aber die spanischen Alternativen wären Tortilla (die ich schon nicht mehr sehen kann) oder Fisch gewesen, und soll ich hier wirklich Schnitzel bestellen? Mampfe sie in mich rein. Ein paar Tisch weiter kollabiert eine Dame. Als man sie nach drei Minuten hochwuchtet, ist ihr Gesicht graugelb. Wie soll man sich da verhalten? Hinstarren ist taktlos, aber seinen Erdbeerkuchen mampfen und Smalltalk führen erscheint ebenfalls grob.
Hinter der Cala Llitera kommt uns ein Paar mit einem Hund entgegen, der uns kurz mustert und uns dann folgt. Er gehörte gar nicht dem Paar und sein Folgen ist für einen Hund bemerkenswert unaufdringlich. Manchmal läuft er uns voraus. Wenn wir stehenbleiben, legt er sich auch mal hin. Als wir von einer Klippe hinaus aufs Meer schauen, tut er das auch, als teile er mit uns diese Melancholie, die uns Menschen überkommt, wenn man auf die Weite des Meeres blickt. Ein kleiner wacher Hund, sehr lebendig, mit sympathischen Augen, der sich zu keinem Moment einzuschleimen versucht. Man wird ständig von Entgegenkommenden auf das kleine niedliche Tier angesprochen. Wie werden wir ihn los. Er hält sich etwas stärker an Steffi. Wir gehen testhalber verschiedene Wege, er folgt ihr. Seine höfliche Treue bahnt ihm einen Weg in mein Herz. Aber die Befürchtung, dass wir in nicht loswerden, wird von einer Dame am Strand genährt, die uns in beruhigendem Ton erzählt, vor ihrem Haus säßen auch immer ein paar Hunde, denen sie zu essen gäbe. Nach ½ Stunde hecken wir den Plan aus, dass Steffi verschwindet und ich den Hund zu mir befehle und dann selbst verschwinde. Der erste Teil gelingt. Als ich davonrenne, mache ich mich zum Gespött der Straße. Dann bleibe ich stehen, er sitzt mir lieb gegenüber, und mit einer herrischen Geste schicke ich ihn weg. Er zögert noch kurz, legt den Kopf schief, als könne er es nicht verstehen, ich sage “Los!” dann rennt er weg, und dreht sich nicht mehr um. Ich krieg mich vor Traurigkeit nicht mehr ein, selbst beim Schrieben dieser Zeilen stehen dem Hundeverächter die Tränen in den Augen. Wenn es je ein Hund geschafft hätte, meine Liebe zu gewinnen, dann dieser.

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Die Lektüre der UEFA-Cup-Ergebnisse ist inzwischen weniger an die Fußball-Begeisterung als an das Fernweh nach den Städten gekoppelt, in denen die Mannschaften üblicherweise trainieren und aus denen von Zeit zu Zeit auch ein wichtiger Spieler der jeweiligen Mannschaft kommt.

Isolation durch Ohrstöpsel, um die Liebe zu konservieren.

12.9.-15.9.06
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