Dienstag, 28. April 2009

Man hat so wenige Tage nur. Sich für einen Ort in New York zu entscheiden, heißt auch, so viel anderes zu ignorieren. Sollte ich mir doch mal die Bronx anschauen oder den legendären gigantischen Friedhof in Queens?

 

Gebe doch der nostalgischen Seite meines Herzens nach und fahre mit Steffi nach Brooklyn, von wo ich damals 1997 die Stadt erkundete: Damals von der Carlton Avenue zu Fuß bis zur 42nd Street über die Manhattan Bridge, über U-Bahn-Gleise und den Highway. Dynishal und Jessica hatten mich tatsächlich in ihrer kleinen 2er-WG wohnen lassen. Und obwohl es insgesamt vielleicht nur sieben Tage waren, ist mir zumute, als führe ich zurück zu einer früheren Wohnung, die mir so viel bedeutet hat. Wir steigen aus der U-Bahn und ich erinnere mich kaum an irgendetwas. Block für Block neu erkunden, und man weiß nicht, ob die Irritation an den Gedächtnislücken oder an den vielen Veränderungen liegt. Dann endlich das erste Wiedererkennen – der Friseur Snip Snap und der Lafayette Grocery & Dairy, den ich schon fast vergessen hatte, obwohl ich mich doch bei ihm immer noch mit Kleinkram eindeckte, den ich beim Großeinkauf vergessen hatte – also Bier und Schokolade. Würde am liebsten hineingehen und hemmungslos fotografieren. us14 Und so bleibe ich zwanzig Meter entfernt stehen und zoome mit Steffis neuer Super-Zoom-Kamera von Weitem auf die Schaufenster und die Auslage.

Schwieriger noch: Das Haus von damals zu finden. Stelle das Foto von damals nach, ungefähr an jenem Eingang von damals, aber eben nur ungefähr, wie ich später feststelle.

Zeitungslektüre im arabischen Restaurant. Alle sind sauer auf Obama, weil ein Regierungs-Flugzeug am Vortag über Manhattan gurkte, gerade zu der Zeit, als wir dort langspaziert sind. Seltsam – in Washington vor ein paar Tagen hat sich ja auch ein Flugzeug zur Zeit unserer Anwesenheit verirrt. Komisch, wenn man als Reisender das Gefühl hat, Ereignisse herbeizuprovozieren. So ging es mir, als ich 1991 gerade in der Nacht von Simferopol nach Moskau fuhr, als dort der Putsch gegen Gorbatschow stattfand – das Weiße Haus (das Moskauer Parlamentsgebäude) wurde besetzt. Zwei Jahre später – im Herbst 1993 war ich wieder in Moskau. Wieder wurde das Weiße Haus wieder besetzt, diesmal von Kommunisten, die ein demokratischeres Procedere von Jelzin forderten. Jelzin war nicht so feinfühlig wie seine Gegner zwei Jahre zuvor – er ließ das Weiße Haus mit Artillerie beschießen. Jochen ging es ja ähnlich, als er immer dort auftauchte, wo gerade Terroristen etwas in die Luft jagten: 1) Anschlag auf die Moskauer Metro, 2) Anschlag auf den Moskauer Fernsehturm, 3) Anschlag auf die Zwillingstürme es WTC in New York.
Es ist unglaublich heiß, und obwohl uns Brooklyn gefällt, macht es doch nicht wirklich Spaß, hier herumzulaufen. Nach einer Pause im Park geht’s uns besser. Ich nutze die Zeit, um meinem neuen voyeuristischen Hobby nachzugehen.

 

Sowohl Steffi als auch ich haben Schulfreunde, die es hierher verschlagen hat – sie B., ich C.. Man trennt sich für diesen Abend und sucht seine Erinnerungen zusammen. C. nimmt die Mühe auf sich, sich mit dem Bus durch New Jersey zu quälen. Vom Bus-Terminal bis zum ersten Restaurant sind schon mal alle wesentlichen Fakten abgehandelt – Wie sind die letzten Jahre verlaufen (d.h. nach dem Klassentreffen 1999), in terms of kids, home, work. Das Tempo überrollt einen fast, aber dann kann man zum Eigentlichen kommen. Meistens bemerkt man ja bei Schulfreunden, wenn man sich nach Jahren wiedersieht, eine leichte Entfremdung, was wohl der Grund ist, warum viele Klassentreffen so sehr hassen: Man müsste so tun, als sei alles in Butter. Aber hier ist es eher umgekehrt. Ich erinnere mich nicht, mich in Schulzeiten je so gut mit ihr verstanden zu haben. Und die Wende ist natürlich auch ein Thema. Ich dachte, sie wäre damals ’89 per Ausreiseantrag abgehauen, aber sie gehörte zu den Ungarnflüchtlingen. Und irgendwie spielt mir meine Erinnerung einen Streich, was die Gründe anbetrifft. Nein, keine familiären, ihre Eltern haben sie immer unterstützt. Und die Reise in die USA war dann nur ein konsequenter weiterer Schritt. Jetzt ist sie glückliche US-Staatsbürgerin und muss, weil der Gatte einen Job in Bayern ergattert hat, zurück nach Deutschland, wobei "zurück" natürlich geprahlt ist, denn was hat Süddeutschland schon mit ihr zu tun? Ein vermittelter Blick auf mich damals: Wie ich im Unterricht politische Diskussionen vom Zaun brach – die eine Hälfte der Klasse war froh, dass es keinen Unterricht gab, die andere Hälfte starrte fasziniert auf den Schlagabtausch, den ich mir mit den Lehrern lieferte. Ich bekam ja nur selten mal moralische Unterstützung. Wieviel Zivilcourage darf man von jemanden erwarten? Wenn es schon in der Schule nicht geht? Niemand wird weggesperrt, niemand hätte mit ernsten Konsequenzen zu rechnen. Aber man schweigt diesmal, es ist ja nur eine unbedeutende Sache und man will sich nicht den Ruf versauen. Und allem, was politisch konnotiert war, haftete sowieso ein Ruf an, man könne sich daran die Finger verbrennen.
Eine schöne, warme Nacht. Am liebsten würde ich die ganze Zeit filmen und fotografieren, wie es so aus C. heraussprudelt. Aber man will es ja nicht durch die Linse vermittelt erleben, und als ich dann am Ende doch noch mal den Apparat anschalte, ist die Batterie alle.
Es ist viel zu spät, als wir uns verabschieden, der Bus fährt lange nach New Jersey, und sie wird früh aufstehen. Aber sie klagt nicht.
Steffis Treffen mit B. endet unwesentlich später. Zurück im Hostel. Es ist heiß. Unsere letzte Nacht in New York. Und wie ich bei solchen Gelegenheiten immer denke – vielleicht für immer.

***

Mittwoch, 29. April 2009

Früh aufstehen ist wichtig, wenn man Richtung Osten fliegt und den Jet Lag auf ein erträgliches Maß begrenzen will. Schlimm erging es mir letztes Jahr auf dem Flug von Berlin nach Shanghai. Ich brauchte drei Tage, um einigermaßen eingependelt zu sein. Und extrem war es 1997, als ich von Jet Lags nur die milde Variante kannte, im Flugzeug nicht schlief und dann 12 Stunden in Amsterdam auf das Anschlussflugzeug warten musste. Todmüde, und ich fand keinen Ort zum Schlafen. Bis in die hintersten Treppen ungenutzter Gates drangen die Durchsagen auf Niederländisch, Englisch und Deutsch. Bis ich schließlich den International Prayer Room fand – ohne singende Hare Krishnas oder Gymnastik treibende Muslime. Ich stellte den Wecker und ruhte immerhin noch eine Stunde. Zuhause hatte mein Untermieter inzwischen die Wohnung komplett umgestaltet, was mich nicht weiter scherte, denn es wartete auf mich – das Bett. Inzwischen war schon wieder richtige Bettgehzeit: 22 Uhr, und man könnte denken, besser geht’s doch nicht, aber nach vier Stunden, also 2 Uhr nachts wachte ich blitzartig auf, ohne zu wissen, wo ich sei und wie ich hierherkam. Dass das alles irgendetwas mit mir zu tun haben müsse, erkannte ich ja an den Möbeln, die mir bekannt vorkamen (schließlich waren es meine eigenen), aber das bereits erwähnte Umgeräume hatte zur Folge, dass ich mich wie in einem Alptraum fühlte oder besser gesagt: Ich glaube, dass diese Momente ein Vorgeschmack dessen ist, was einen bei Demenz erwartet – ein Gefühl permanenter Verunsicherung und Konfusion; denn da einem die äußere Orientierung fehlt, weiß man auch kaum mehrwer man ist. Da Demenz inzwischen so weit verbreitet ist, dass jeder vierte von uns daran erkranken wird, sollte man sich schon mal vorbereiten – Training der Hirnzellen, z.B. indem man seltsame Handlungen lernt, z.B. ein Musikinstrument oder links und rechts vertauschen. Aber was tut man, wenn es erst mal so weit ist? Bei Walter Jens, so beschrieb Inge Jens in einem Interview, ging es so rasch voran, dass jeder Plan, den er und seine Frau sich zurechtgelegt hatten (vom anfänglichen "Wie soll jetzt der Roman beendet werden" bis hin zur Option Selbstmord), immer wieder eingeholt wurde vom neuen Zustand der Krankheit, bis er dann völlig entrückte, so dass sie sich sagte: Das ist nicht mehr mein Mann. Wie weit muss das gehen? Man sieht dem Menschen in die Augen, den man jahrelang liebte und von dem man geliebt wurde, und es kommt kein Zeichen des Erkennens zurück. Und selbst dieses Gefühl ist in Momentaufnahmen schon erlebbar, streckt wie ein Monster aus der Zukunft schon seine Tentakeln kurz in die Gegenwart. Als ich nämlich vor ein paar Wochen erwachte, noch in der dämmernden Phase, fragte ich mich, mit welcher Frau ich denn gerade zusammen sei, deren Bein ich da an meinem spüre. Ich ging sie alle durch in meinem Kopf, die mit denen ich länger zusammen war und die, mit denen man es bei einer Affäre beließ, ich kam einfach nicht drauf. Ich hätte mich natürlich umdrehen können und nachschauen, aber es war wie bei einem eingeschlafenen Arm oder Bein, man scheut die schmerzende Bewegung, die auch nicht recht funktionieren will und hofft, dass es gleich von selbst wieder geht. Und ging es ja dann auch. Gerade sie, die ich so liebe, war meinem Geist entflogen.
Wir packen. Es ist nicht gerade viel, in diesem kleinen Zimmer haben wir ja aus den Rucksäcken gelebt. Der Metallspind war ja eher ein Witz, der schon, wenn man nur ein Buch darin abzulegen beabsichtigte, ins Wackeln geriet.
Eine gute Stunde haben wir noch. Sagen wir doch dem Central Park Good-bye.Ich versäume die russische Tradition, eine Münze ins Reservoir zu werfen. (Der Gedanke dahinter ist, dass man auf diese Weise die Rückkehr an den Ort beschwört, da man etwas zurückgelassen hat), aber es ist illegal, und wer weiß, was man uns aufbrummen würde fürs Geld reinschmeißen. Ein letztes Mal also Rumalbern an diesem großartigen Ort. Der große See. Im schönen Park. In der beeindruckendsten Stadt. In diesem großartigen und doch seltsamen Land.

Unser Gabelflug zwingt uns, wieder den Weg über Detroit zu nehmen, und deshalb fliegen wir nicht vom JFK-Airport, sondern von Newark. Im vollen Bus. Und noch einmal muss ich darüber lächeln, dass ich die ganze Zeit meinen Laptop mitgeschleppt habe, und ihn nur 2 Stunden benutzen konnte, da das Netzteil zuhause liegt. ("Da liegts jut.") Die letzten Dollars für Imbiss ausgeben. Erwartungsgemäßes Warten im Flughafen. Wir setzen uns abseits vom Trubel in den entferntesten Winkel und dort liegt eine alte Jacke und etwas Krempel. Man will ja kein Schwarzmaler sein – aber eine alte Jacke im Flughafen? Dazu überall die Schilder, man möge rumliegende Gegenstände melden. Also geben wir einer Flughafendame bescheid, die netterweise erst mal selber nachschaut, bevor sie Remmidemmi veranstaltet. Sie hebt die Jacke hoch und kommt in Riechweite. Ja, sagt sie, der Geruch komme ihr bekannt vor, der gehöre zu einem Obdachlosen, der sich hier manchmal ausruhe, den kenne sie schon. Dass sie hier einen Stammobdachlosen haben, den sie am Geruch erkennen, wundert einen dann auch wieder. Überall sonst müssen sich die armen Kerle Mühe geben, nicht als solche identifiziert zu werden.
Mit leichter Verspätung landen wir in Detroit. Nun doch noch einen Happen essen. Gab es nicht noch mal eine Zeitumstellung? Doch erst schauen, von welchem Flugsteig wir abfliegen sollen? Nein, erst essen. Nein, erst schauen. Diesmal bin ich es, der auf Nummer Sicher gehen will. Und siehe da, für unseren Flug, der von der anderen Seite des Flughafen abgeht, ist schon seit 10 Minuten Einsteigen. Wir hetzen über die Laufbänder. Beim Einsteigen der bei solchen Gelegenheiten übliche freundliche Blick der Angestellten, in dem man eine Spur mahnendes "Beim nächsten Mal aber bitte pünktlich!" herauszulesen glaubt, oder ist das Einbildung.

Neben uns zwei iranische Kinder und eine Frau, hinter mir auch ein Perser, die aber, wie sich bald herausstellt, nicht zusammengehören, aber alle auf dem Weg in den Iran. Ich schließe die Augen, und während ich in den wenigen Stunden, die die Nacht nur dauert, ein bisschen Schlaf zusammenklaube, sucht mein Hirn, immer wenn ich aufwache, nach persischen Vokabeln, um wenigstens ansatzweise ein bisschen Konversation zu betreiben. Das Einfachste wäre natürlich Englisch, aber sollen die zweieinhalb Jahre Persischlernen reiner Selbstzweck gewesen sein? Verben: Sein, Haben, Gehen, Kommen und natürlich Geben, das auf wundersame Weise den Wortstamm "da" (plus Infinitiv-Endung) im Spanischen (dar), Russischen (дать), und eben auch im Persischen ( دادن )behält. Aber was hieß noch mal Fliegen? Ich komme nicht drauf Und ich brauche eine Minute, bis mir die persische Vokabel für Essen einfällt. Am Morgen, als die Kinder auch aufwachen, lasse ich Gerda mit ihnen kommunizieren. Sie kommt auch mit weniger Sprache aus und ist für die Kinder sicherlich faszinierender, als ein 40jähriger, persische Vokabeln zusammenstoppelnder Deutscher.

 

Es klappt. Beide amüsieren sich königlich, und ich erfahre, dass sie از تهران هستند. Eine so schöne Sprache, so schöne Menschen, gutes Essen, eine farbenprächtige Geschichte, ein wundervolles Land, und ich kann doch, gerade wenn ich die Sprache lange nicht gehört habe, den Gedanken daran abschalten, wie dort das Denken unterdrückt wird, wie die Menschen, ähnlich wie im postrevolutionären Russland abgeschlachtet wurden – für nichts als eine vermutete Abweichung.

"Good-bye, America. Где я не буду никогда", hieß es in einem russischen Lied, von dem ich mir nur diese Zeile gemerkt habe – sonst kenne ich nichts, weder Strophe, noch die weitere Melodie, und nicht einmal Titel oder Sänger – vielleicht Kino oder Wyssozki? Nautilus Pompilius. Icke war schoma da. Und es war sicherlich nicht das letzte Mal. Inschallah.

 

 

us14Und jetzt frage ich mich natürlich, warum ich den Betreiber nicht einfach drum gebeten habe, er hätte es sicherlich erlaubt.

28.-29.4.09
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